Ein Thread für an kritischer Gesellschaftstheorie interessierte User.
Im Folgenden bespreche ich den klassischen Text "Nationalsozialismus und Antisemitismus" von dem US-Marxisten Moishe Postone (
http://www.giga.or.at/others/krisis/...emitismus.html). Dabei werde ich aus meiner Sicht zentrale Textstellen zitieren und kommentieren.
Kurzes Abstract für Schnell-Leser:
Moishe Postone untersucht das moderne antisemitische Denken auf seine erkenntnistheoretischen Wurzeln hin. Dabei nimmt er zentrale Motive der Marxschen Ökonomiekritik auf und zeigt, wie das antisemitische Denken sich einerseits gegen bestimmte soziale Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft (v.a. das Geld und den Zins) wendet und sie personalisiert im Konstrukt des "Juden" - und andererseits die Technologie und den Arbeitsbegriffunkritisch annimmt. Dies ist möglich, weil aus dem personalistisch-naturalistischen Denken des Antisemiten "Geschichte" und "Gesellschaft" als dynamische Vermittlungssysteme verschwunden sind. Im antisemitischen Denken erscheint das Individuum durch eine "innere Natur" determiniert. Die "Natur des Juden" ist es für den Antisemiten, das „gute“, "schaffende Kapital" mit dem Zinsfluch zu belegen. Geld, Kredit und Kapital stehen für den Antisemiten also in keinem logischen Verhältnis.
Meine ausführliche Besprechung für Detail-Leser nun im Folgenden:
Teil 1:
1.) Der moderne Antisemitismus ist für Postone eine kohärente Weltanschauung mit ihren ganz eigenen Charakteristika:
Der moderne Antisemitismus ist also als Bedürfnis zu verstehen, Phänomene der modernen Welt umfassend auf eine bestimmte Art und Weise zu erklären. Dieser universale Charakter der antisemitischen Weltanschauung hängt mit der Struktur der gesellschaftlichen Ordnung selbst zusammen und ihrer inneren Verarbeitung durch das antisemitische Subjekt.
Diese Angst des Antisemiten vor der Abstraktheit und dem Universalismus der bürgerlichen Ordnung muß nun nach Postone auf der Basis "einer materialistischen Erkenntnistheorie" untersucht werden. Dabei nimmt der Antisemitismus sowohl auf das Bedürfnis nach Erklärung der Welt Rücksicht wie auch auf das "Unbehagen an der Moderne". Dennoch, auch das werden wir sehen, verbleibt der Antisemitismus auf dem Boden der Moderne, genauer auf ihrem ambivalenten, selbstwidersprüchlichen Boden, der immer Aufklärung und Gegen-Aufklärung als notwendig miteinander verbundene Erkenntnisprinzipien hervorbringt. Seine Rückwärtsgewandtheit zeigt nach vorne, sein geschichtslos-biologistisches Menschenbild ist das herrschende. Wie der Antisemitismus aus der subjektiven Verarbeitung und Aneignung der "Moderne" durch das Waren produzierende Subjekt entsteht, ist zentrales Thema bei Postone. Der Antisemitismus ist eine Form
entfremdeter Erkenntnis eines entfremdeten Menschen.
Die von Marx getroffene "Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung" der kapitalistischen Produktionsweise wurde zur weiteren Untersuchung des Problems analytisch fruchtbar gemacht von Postone.
2.) Um Wesen und Erscheinungsform der kapitalistischen Produktionsweise zu unterscheiden bedient sich Marx der Theorie des Warenfetischismus:
Wenn der Antisemitismus also nicht selbst anthropologisch (und somit ahistorisch) verstanden werden soll, sondern als spezifische
Denkform der Moderne und als Reaktion auf diese, muß die "Moderne" selbst unter dem Aspekt von Abstraktion, Universalität und geldförmiger Beziehungen verstanden werden. Die dafür notwendige analytische Synthesis hat allein Marx bereitgestellt mit seiner Theorie von Ware, Wert und Marktform. Ohne ein angemessenes Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft sowie ihrer Vermittlungsformen kann keine kritische Theorie der Gesellschaft auskommen. Postone referiert deshalb ausführlich die Marxsche Analyse der Warenform:
Die Verbindung von Gebrauchswert und Tauschwert der Ware, von Konkretem und Abstraktem, ist notwendige Voraussetzung kapitalistischer Warenproduktion: Der Gebrauchswert braucht die Wertform, um über den Tausch vom Produzenten zum Konsumenten zu gelangen und Bedürfnisse zu befriedigen. Der Wert wiederum kann nicht existieren ohne den Gebrauchswert, denn wenn die Ware nicht konsumiert wird (also keinen individuellen Nutzen stiftet), findet auch kein Tausch statt. Im Gebrauchswert kommt also die stoffliche,
unmittelbare Dimension der Ware zur Geltung, während in der Wertform ihre abstrakte, gesellschaftlich
vermittelte Seite sich zeigt. Das entfremdete Bewußtsein des Antisemiten blendet die Vermittlung von Abstraktem und Konkretem aus und wendet die stoffliche Seite des Produktionsprozesses gegen seine gesellschaftlichen Vermittlungsformen.
Mit der Überhöhung einer Seite der Antinomie und der Verurteilung der anderen wird dieser Widerspruch aber nicht aufgehoben, sondern affirmiert. Die stoffliche Welt des Kapitals wird gegen die
Vermittlung der stofflichen Elemente ausgespielt:
Das kapitalistische Arbeitsregime als Agens und Lebensnerv der Kapitalakkumulation wird somit nur in der Zirkulationssphäre verortet, während die konkrete Tätigkeit innerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse der Kritik entzogen wird. Der Antisemit frönt also dem Arbeitswahn des bürgerlichen Marktsubjektes und arrangiert sich mit der technologischen Überwältigung der Arbeit durch die Produktivkräfte wie Ernst Jünger in "Der Arbeiter" ausführt. Er möchte nur mit der "Zinsknechtschaft" brechen, nicht aber mit dem Arbeitsregime. Letzteres gilt ihm als von gesellschaftlichen Formbestimmungen unabhängig, als „naturhaft“ und transhistorisch.