40. Verhandlungstag, 23.April 1964, Zeugeneinvernahme von Dounia Wasserstrom (55 Jahre, Dolmetscherin, Mexiko, Häftlingsnr. 10.308 – als kommunistische Jüdin aus der Sowjetuinon verfolgt; 22. Sept. 1942 bis zur Evakuierung in Auschwitz; Dolmetscherin in der Politischen Abteilung (Lager-Gestapo).
Langbein: Man ist nachgerade abgestumpft, wenn man Tag für Tag derartige Schilderungen hören muß. Dennoch erregt die Aussage der Zeugin Wasserstrom alle:
Wasserstrom: Einen Vorfall kann ich nie vergessen: Es dürfte etwa im November 1944 gewesen sein. Ein Lastwagen, auf dem jüdische Kinder waren, fuhr zum Lager. Der Wagen hielt bei der Baracke der Politischen Abteilung. Ein Junge - er dürfte etwa vier bis fünf Jahre alt gewesen sein - sprang herunter. Er spielte mit einem Apfel, den er in der Hand hielt. Da kam Boger mit Draser an die Tür.
Boger nahm das Kind an den Füßen und schlug es mit dem Kopf gegen die Wand. Draser befahl mir dann, die Wand abzuwischen. Später wurde ich zu Boger gerufen, um zu dolmetschen.
Er saß in seinem Zimmer und aß den Apfel des Kindes.
Verteidiger Dr. Aschenauer: Sie haben eine Broschüre über die Politische Abteilung und verschiedene Artikel veröffentlicht. Ist in einer dieser Publikationen dieser Vorfall geschildert?
Wasserstrom: Nein.
Dr. Aschenauer: Warum haben Sie nie darüber geschrieben?
Wasserstrom: Das ist eine sehr private Sache. Seit diesem Zeitpunkt wollte ich keine Kinder haben.
Verteidiger Schallock: Haben Sie mit Kolleginnen aus Ihrem Kommando über diesen Vorfall mit dem Kind gesprochen?
Wasserstrom: Ich kann das nicht genau sagen, wir haben viel gesprochen und sehr viel Schreckliches gesehen, nahezu täglich.
Boger: Zur Sache mit dem Kind habe ich überhaupt nichts zu sagen. Das ist eine ungeheure Erfindung, vielleicht etwas für die Presse.
Am nächsten Verhandlungstag läßt der Vorsitzende die Zeugin nochmals in den Gerichtssaal bitten.
Vorsitzender: Ihre Aussage bezüglich des Vorfalles mit dem Kind ist so schwerwiegend, daß ich Sie nochmals hergebeten habe. Der Verteidiger Dr. Aschenauer hat Sie gefragt, wieso Sie diesen Vorfall früher nie erwähnt hatten. Sie gaben zur Antwort, sie haben private Gründe dafür.
Wasserstrom: Es ist mir sehr peinlich, darüber zu sprechen. Nachdem ich aus dem Lager befreit worden war, kam ich in die Hoffnung. Ich kann aber keine Kinder sehen, sonst muß ich weinen. Ich habe kein Kind bekommen.
Staatsanwalt Vogel: In dem Begleitschreiben, mit dem seinerzeit das Protokoll der Vernehmung dieser Zeugin in Paris hergesandt wurde, steht, daß von einer weiteren Befragung der Zeugin wegen deren Erregung abgesehen worden ist.
Vorsitzender: Handelte es sich bei Ihren Angaben um die reine Wahrheit?
Wasserstrom: Ich beschwöre es.
Kann man das glauben? Kaya Kagan hat in Auschwitz mit Dounia Wasserstrom zusammengearbeitet - sie haben miteinander gelebt. Die Zeugin wird befragt:
Vorsitzender: Kennen Sie Frau Wasserstrom?
Kagan: Ja, sie war Dolmetscherin in der Politischen Abteilung. Ich half bei ihr aus, wenn bei uns im Standesamt nicht zu viel Arbeit war.
Vorsitzender: Erinnern Sie sich an einen besonderen Vorfall, den Ihnen Frau Wasserstrom im Lager erzählt hat?
Kagan: Ja, es war etwas Schreckliches im Zusammenhang mit Boger. Er hat ein Kind an die Wand geschlagen und dann den Apfel des Kindes gegessen. Sie hat mir das nach dem Krieg in Paris erzählt, ich glaube, im Jahr 1947. Als Folge davon hatte sie verschiedene Störungen.
Vorsitzender: Frau Wasserstrom hat bisher über diesen Vorfall noch nichts geschrieben. Für uns ist das sehr wichtig.
Kagan: Sie hat es mir damals sicher erzählt.
Verteidiger Dr. Aschenauer: Stehen Sie heute noch in Verbindung mit Frau Dounia Wasserstrom?
Kagan: Ich stehe mit allen Kameradinnen in Verbindung, aber mit Dounia weniger, weil sie in Mexiko lebt.