Mit dieser Ansicht steht Hilberg sicher nicht ganz einsam da. Andere Historiker meinen vermutlich das Gleiche, wenn sie schreiben, dass es "der Führungs-Clique der NSDAP nicht erst per Ordre de Mufti beigebracht werden musste, was sie zu tun hatte", sondern "sie wusste, was der Führer von ihnen erwartete. Daher brauchte es keinen Führerbefehl für den - immer wieder gesuchten und nie aufgefundenen persönlichen schriftlichen Befehl Hitlers - Holocaust". Für viele war dies die einzige, weil simple, Erklärung.
Falls damit gemeint ist, dass in den Führungsrängen des 3. Reiches Einigkeit darüber herrscht, wie die Judenfrage zu lösen sein, und es deswegen keines ausdrücklichen Befehls bedurfte, die Endlösung ins Werk zu setzen, so stimmt das auf der einen Seite, auf der anderen jedoch nicht.
Viele der führenden Männer des 3. Reiches, namentlich Himmler und Goebbels, lebten in vollkommener geistiger (und auch emotionaler) Abhängigkeit von Hitler, und versicherten sich für jede ihrer Aktivitäten der ausdrücklichen Zustimmung des Führers. Auf der anderen Seite unterlagen die bürokratischen Apparate einer so strikten Kontrolle, dass es schwer vorstellbar scheint, sie hätten ein "Eigenleben" auf Basis eines gemeinsamen Grundgedankend, einer gemeinsamen Grundüberzeugung führen können. Hilberg bemüht dieses Bild weniger, um die Dürftigkeit seiner sonstigen Beweisführung zu kaschieren, mehr, um das absolut dämonische zu betonen, das - aus seiner Sicht - in allen Führungspersönlichkeiten des 3. Reiches lebendig und bestimmend war.
Ähnlich verhält es sich nicht nur mit Fragen, die die Endlösung betreffen, auch die militärischen Organe des 3. Reiches stellten - von ihrer obersten Führung bis hinab in den Mannschaftsstand - aus Sicht des Führers "Verlängerungen seines Willens und seiner Absichten" dar, die Umsetzung dieser Vorstellung war auch bei der Besetzung von Positionen bestimmend. Symptomatisch dafür ist die fortscheitende Abkehr vom Generalstabsprinzip der Auftragstaktik, die die Lösung militärischer Probleme im Rahmen eines Gesamtoperationsplans den örtlichen Befehlshabern überlässt, und die Hinwendung zur Befehlsgebung von höchster Ebene bis direkt hinab auf Kompanie-Ebene. Der finale Entwurf für den Operationsplan 1942, der direkter Ausdruck des Willens Hitlers ist, ist ein beredtes Beispiel für diese neue Dogmatik in der militärischen Führung.
Ach, das ist ein sehr ergiebiges Thema in Bezug auf Hitler. Da wird insbesondere von den sogenannten Intentionalisten unter den Forschern auf Hitlers früheste "Programmatik" (Mein Kampf etc) hingewiesen, wo "sein Rassenwahn und der Wille zum -mord deutlich erkennbar sind", während die "Funktionalisten" feststellen, dass sich "die deutsche Judenpolitik schrittweise radikalisierte".
Die einen meinen, seine, Hitlers, Gedanken lesen zu können und leiten ihre Meinung letztlich lediglich aus seinen "Kampf" ab, während die anderen sich an die geschichtlichen Ereignisse halten, wie sie tatsächlich offenkundig stattfanden.
Ich halte mich eher an die Funktionalisten und versuche, die Ereignisse einzuordnen. Zeitraum und Zeitpunkt spielen dabei für mich eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Rolle bei der Bewertung.
Geändert von RUMPEL (22.03.2012 um 22:29 Uhr)
Kein Widerspruch. Aber auch hier wieder das gleiche Bild, das HTC ansprach. Auch die verschiedenen Ebenen glaubten nur, sie würden das tun, was der Führer von ihnen erwartete. Seine Gedanken zu "lesen", vermochten sie selbstverständlich nicht. Das führte dann zu solchen Späßchen wie: " Wann därr rossische Winterrr beginnt, das bestemme ich!!!"
Ja, nur schade, dass der rossische Winterrr das anders sah ...
Hierarchische Systeme, die einer Ideologie verpflichtet sind, gehen auf jeder Ebene davon aus, dass sich in jedem Befehl der Willen der obersten Führung - im Fall des 3. Reiches und seiner Gliederungen und Organisationen also der Wille des Führers persönlich - dokumentiert. Das in Frage zu stellen, stellt den Kommandoapparat als solches in Frage.
Deswegen kann natürlich keiner Gedanken lesen, da sind wir absolut einig. Trotzdem ist es für unterordnete Stellen unvorstellbar, dass ein Befehl NICHT Ausdruck eben des Denkens und Wollens der obersten Führung, eben schlicht des Führers ist. So arbeitet das System, das gehört zu seinem Prämissen.
Dazu kommt, dass - spätestens ab Winter 41/42 - Hitler von tiefem Misstrauen zu seinen Führungsstäben gepeinigt war. Vor dem Hintergrund der Winteroffensive der Russen hatte er erlebt, wie selbst Armeebefehlshaber Befehle ignoriert oder offen verweigert hatten, wie später stets, so reagierte er hier mit hektischen Umbesetzungen. Das Misstrauen nahm solche Ausmaße an, dass OKW und OKH selbst Heeresgruppen-Befehlshaber in Unklarheit über die Gesamtlage ließen, soweit Informationen nicht für ihre Tätigkeit unabdingbar waren. Ab Ende 1942 wussten oft Sekretärinnen des "Dienstes Seehaus" mehr über die Gesamtlage, als Armee-Befehlshaber der Ostfront.
In solcher Unkenntnis ist aber Vertrauen erst Recht die Grundlage aller Führung und allen Gehorchens, und je spärlicher der Überblick wird, desto "intimer" muss der Glaube sein, dass Befehle eben den Willen der Führung repräsentieren, die diesen Überblick alleine hat. Das, zusammen mit der allgegenwärtigen Propaganda, hat wohl mit den Eindruck erzeugt, in den Befehlen läge der ganze Wille und das ganze Wollen des Führers offen, und es gäbe diese Gemeinsamkeit der Absicht, die man schlicht unterstellen muss, wenn man es nicht besser weiß, sich aber vom Gehorsam auch nicht befreien kann.
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