Vor etwa 10 Jahren wurde in einer psychologischen Fachzeitschrift das Ergebnis einer Studie vorgestellt, in der es -vereinfacht gesagt- um die Frage ging, wie Männer und Frauen das Thema „sexueller Missbrauch“ wahrnehmen.

Den Probanden wurde eine Reihe von Situationen beschrieben und vorgestellt, welche sich im Grenzbereich des sexuellen Missbrauchs befinden, d.h. Situationen, die man so oder so auslegen kann. Dabei wurden für jede Situation zwei unterschiedliche Konstellationen dargestellt, das eine mal mit dem möglichen Täter Mann (und einer Frau als Opfer) und das andere mal mit dem möglichen Täter Frau (und einem Mann als Opfer).

Die zwei interessantesten Ergebnisse:
1. Sehr viel mehr Menschen interpretieren Situationen als sexueller Missbrauch, in denen der Mann als Täter dargestellt wird als bei denselben Situationen, in denen die Frau die Täterfunktion ausübt. Wenn ein Mann etwas tut, was man als verwerflich betrachtet, dann bedeutet das noch lange nicht, dass man das Verhalten einer Frau, die dasselbe tut, ebenfalls als verwerflich deutet.

2. Weibliche Probanden machten in ihrer Bewertung der Situationen kaum einen Unterschied, gleichgültig, ob es nun ein Mann oder eine Frau tut. Die signifikant unterschiedliche, geschlechtsspezifische Wahrnehmung von sexuellem Missbrauch kommt hauptsächlich dadurch zustande, weil viele Männer hier ganz deutliche Unterschiede in der moralischen Bewertung machen.

Arnold Hinz: Geschlechtsstereotype bei der Wahrnehmung von Situationen als »Sexueller Missbrauch«.
Eine experimentelle Studie. Zeitschrift für Sexualforschung, 14, 214 – 225 (2001).