Kann man das radikale Manifest des Mörders von Oslo und Utøya in Szene setzen? Das Vorhaben eines Theaters in Kopenhagen hat in Norwegen und Dänemark heftige Proteste ausgelöst. Dessen Direktor Christian Lollike ist der Ansicht, dass es wichtig ist, diese Worte zu hören, um unsere Epoche besser zu verstehen.
Christian Lollike

Die jüngste Entscheidung des CaféTeatret, das Theaterstück Manifest 2083 zu inszenieren, hat Wut und Empörung hervorgerufen. Man beschuldigte uns, Anders Behring Breivik zu unterstützen und keinerlei Mitgefühl für die Angehörigen der Opfer zu zeigen. Auch Politiker brachten ihre Ablehnung zum Ausdruck.

Natürlich haben uns diese Reaktionen beeindruckt, und wir fragten uns, ob wir Recht haben. Das Drama von Utøya [am 22. Juli 2011] ist zweifellos das tragischste Ereignis, das jemals in Skandinavien stattgefunden hat.

Dieses unbegreifliche Verbrechen kostete nicht nur 77 Menschen das Leben, sondern hat auch deren Angehörige schockiert und ihnen das Leben verdorben. Ich weiß, dass die Familien Schmerz und Gefühle empfinden und Gedanken haben, die wir, die nicht direkt betroffen waren, nicht nachempfinden können und die unglaublich schwer zu ertragen sein müssen.

Ich kann nur hoffen, dass sie genug innere Kraft, gute Freunde und Unterstützung in ihrem beruflichen Umfeld finden werden, damit ihr Schmerz nicht ewig unerträglich bleibt. Aber was tun wir, die Anderen? Wir, die wir weder Angehörige noch Norweger sind? Wir als Außenstehende, als die wir uns dennoch betroffen fühlen?
Das Grauen begreifen

Wo sollen wir hin mit unserer Wut, unserem Schmerz, unserem Frust und unserer großen Frage: Wie war das nur möglich? Was kann in unserer Kultur einen relativ normal funktionierenden Menschen wie Breivik dazu bringen, die Spielregeln der Demokratie zu missachten, um sich einer absichtlichen, bis ins kleinste Detail vorbereiteten Radikalisierung zu unterziehen? Wie sieht seine Denkweise aus, seine Sicht des Menschen? Und woher hat er sie?

Verschiedene Journalisten und Analytiker haben diese Fragen untersucht und versucht, sie zu beantworten. Dabei stützten sie sich auf das 1518 Seiten lange Manifest. Sie haben das Recht, das zu tun. Warum sollte das Theater nicht durch die Lektüre des Manifests Breiviks und mit Hilfe der kritischen und analytischen Instrumente der Theaterkunst dieselben Fragen untersuchen dürfen?

Ist es nicht die Aufgabe der Kunst, verstehen zu helfen, wie eine dermaßen abstoßende Tat begangen werden konnte? Ist ein kollektiver Raum wie das Theater nicht der geeignete Ort hierfür?

Natürlich verstehe ich, dass Angehörige, denen man ein Mikrofon vor die Nase hält und die erfahren, dass ein “umstrittener” Dramatiker das Manifest von Anders Behring Breivik inszeniert, wütend reagieren. Was mich stört, ist, dass sie durch Journalisten auf der Jagd nach Schlagzeilen von meinem Projekt erfahren.

Für beunruhigend halte ich dagegen, dass so viele Politiker es für nötig halten, auf etwas zu reagieren, was sie nicht kennen. Pia Kjærsgård, Vorsitzende der [rechtsextremen] Dänischen Volkspartei, hat das Projekt wiederholt als “beschämend” bezeichnet. Aber diese Partei und ihr Programm werden in dem Manifest mehrmals erwähnt, und so gehört Pia Kjærsgård ungewollt zur Welt von Breivik. Deshalb sollte sie auch daran interessiert sein, die Funktionsweise von Radikalisierungsprozessen zu verstehen.

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