„Lebenslüge der Bundesrepublik"
Lange galt sie als Verschwörungstheorie: Die„Kanzlerakte'; ein
geheimer alliierter Machtvorbehalt, den die Bundeskanzler zu
unterzeichnen hatten. Inzwischen bestätigt Egon Bahr deren Existenz
Von einem „Unterwerfungsbrief“ sprach Willy Brandt und lehnte eine
Unter*zeichnung zunächst empört ab: „Schließlich sei er zum
Bundeskanzler gewählt und seinem Amtseid verpflichtet. Die Botschafter
(der Alliierten) könnten ihn wohl kaum absetzen! Da mußte er sich
belehren lassen, daß schon Adenauer diese Briefe unterschrieben hatte
und danach Erhard und danach Kiesinger. "So schil*derte es Egon Bahr
2009 in der „Zeit" und machte damit erstmals die Existenz der
sogenannten „Kanzlerakte "öffent*lich. Nun nimmt er hier zum zweiten
Mal dazu in einer Zeitung Stellung.
In der ‚Zeit‘ habe ich geschildert, wie dem frisch gewählten
Bundeskanz*ler Willy Brandt bei Amtsantritt „drei Briefe" an die
Botschafter der West*mächte zur Unterschrift vorgelegt wurden. Damit
sollte er zustimmend bestätigen, was die Militärgouverneure in ihrem
Geneh*migungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 an
verbindlichen Vorbe*halten gemacht hatten. Als Inhaber der unkündbaren
Siegerrechte für Deutschland als Gan*zes und Berlin hatten sie
diejenigen Artikel des Grundgesetzes suspendiert, also außer Kraft
gesetzt, die sie als Ein*schränkung ihrer Hoheit verstanden.
Willy Brandt war empört. Zum einen darüber, daß man dem frühe*ren
Regierenden Bürgermeister damit unterstellte, er wüßte nicht, was die
Vorbehaltsrechte der drei Mächte für Berlin (West) seit der Gründung
der Bundesrepublik bedeutet haben. Zum anderen hat er sich immer auf
seine demokratische Wahl bezogen und die*ses Mandat über dem der
weisungsge*bundenen Stadtkommandanten emp*funden. Vor allem hat es ihn
empört, weil er als Bundeskanzler zuerst seinem Amtseid verpflichtet
ist. Die Beam*ten haben ihn darauf hingewiesen, daß Adenauer diesen
Brief vor der Geneh*migung des Grundgesetzes durch die drei
Militärgouverneure unterschrie*ben hatte, was dann Erhard und Kie*
singer widerholt hatten. - Dann könne er das auch machen, entschied
Brandt. Helmut Schmidt konnte sich nicht erinnern, einen
entsprechenden Brief vorgelegt bekommen zu haben. Kohl habe ich nicht
gefragt. Nachdem ich die Leitung des Planungsstabes im Aus*wärtigen
Amt 1967 übernommen und gefragt habe, welche Papiere zur Rege*lung der
Deutschen Einheit existierten, erhielt ich zur Antwort: Keine. Das ist
nicht unsere Kompetenz.
Außerdem war Brandt bewußt, daß seit dem Bau der Mauer, der im still*
schweigenden Konsens der vier Sieger vollzogen worden war, Versuche,
Risse in diese zu bekommen, nur unterhalb dieser Siegerrechte denkbar
waren. Als menschliche Erleichterungen geneh*migten alle Vier die
Verhandlungen der beiden deutschen Seiten und ihr Ergebnis, die
Passierscheine.
Niemand ahnte damals, daß aus der Wahrnehmung deutscher Interessen in
der ehemaligen Hauptstadt allmäh*lich ein Riesengebäude der Ost- und
Entspannungspolitik werden würde. Sie existierte und lebte nur von
ihrer klaren Unterordnung und der Respek*tierung für die unkündbaren
Rechte der vier Siegermächte.
In der Tat: Seit der Zementierung der Teilung Berlins war auch der
Sta*tus quo Deutschlands und Europas vollzogen. Keine Regierung hat
da*nach noch einen Schritt in der deut*schen Frage unternommen, auch
nicht die Bundesregierung oder die drei Mächte. Alle begnügten sich
mit der vielfältigen Wiederholung, daß die Wiedervereinigung ihr Ziel
blie*be. Wir hatten natürlich auch nicht den geringsten Schimmer einer
Ah*nung, daß daraus schließlich 1972 das Vier-Mächte-Abkommen für
Berlin erwachsen würde.
Dieser Markstein der Nachkriegs*geschichte war der Augenblick, als die
vier Mächte nur mit den beiden deut*schen Regierungen diesen Vertrag
in Kraft setzen konnten. Das Modell Vier plus Zwei, aus dem 17 Jahre
später das Modell Zwei plus Vier wurde. Die Vier konnten gar nicht
mehr anders, als am 15. März 1991 die Souveränität, die mit der bedin*
gungslosen Kapitulation des Reiches am 8. Mai 1945 unterge*gangen war,
dem kleineren Deutsch*land zurückzugeben.
Seit diesem völkerrechtlichen Akt, nicht dem staatsrechtlichen Tag der
Einheit am 3. Oktober 1990, gibt es nur noch ein Relikt der deutschen
Tei*lungsjahrzehnte: In der Charta der ver*einten Nationen existieren
noch immer
die Feindstaatenartikel, nach denen die Sieger im Falle
eines Falles ihre Rechte über Deutschland aktivieren können.
Die BRD und die DDR mußten einen Brief, den ich mit DDR-Staatssekretär Michael Kohl abgestimmt habe, an un*sere jeweiligen Großen oder Freunde
schreiben, daß auch durch Beitritt der beiden Staaten die Siegerrechte
nicht erlöschen.
Aber das spielt keine Rolle mehr, weil die Vier versichert haben, sie würden sich darauf nicht mehr be*rufen und die Charta seit ihrem Be*stehen nicht verändert wurde und die Büchse der Pandora geöffnet würde, falls man auch nur in einem Punkte damit beginnen würde.
Daß über die geschilderten Realitä*ten geschwiegen wurde, hat einen
ein*fachen Grund. Es war eine der Lebens*lügen der alten
Bundesrepublik, 1955 mit dem Beitritt zur Nato zu behaup*ten, wir
wären souverän geworden.
Im obersten Ziel der Einheit der Nation waren wir es nie. Die Bundesregierung und die drei Westmächte hatten 1955
dasselbe Interesse: Über die fortdau*ernde Einschränkung der deutschen
Selbstbestimmung nicht zu sprechen.
EGON BAHR
Junge Freiheit 14. Okt. 2011
[Links nur für registrierte Nutzer]