Eine etwas andere Sicht der Dinge:
Wurden die Weichen für den Weltkrieg schon frühzeitig von Londoner Kreisen gestellt?
ZUM VERTRAG VON LOCARNO (in ZEITSCHRIFT FÜR GEOPOLITIK, Februar Heft 1926)
General-Major a. D. Prof. Dr. Erich Obst, Hannover, Mitherausgeber der Zeitschrift für Geopolitik.Die führende englische Fliegerzeitschrift „The Aeroplane" beschäftigt sich sehr eingehend mit der weltpolitischen Konstellation und legt in verschiedenen Aufsätzen dar, wie diese englischen Kreise die Zukunft Europas beurteilen. Wir greifen heute den am 9. Dezember 1925 veröffentlichten Aufsatz obigen Titels heraus in der Überzeugung, daß es unseren Lesern angenehm ist, eine gewichtige Stimme von jenseits des Kanals im Wortlaut zu hören. Die Kritik dieser echt englische Mentalität atmenden Ausführungen dürfen wir gewiß dem Leser selbst überlassen.
»Als der Vertrag von Locarno am 1. Dezember 1925 unterzeichnet wurde, ergingen sich die Zeitungen der Welt, wie zu erwarten, in den üblichen Plattheiten von der Sicherung des Weltfriedens, der Freundschaft der Nationen usw. Gerade als ob die Geschichte uns nicht von jeher gelehrt hätte, daß Verträge wie Tortenkrusten gemacht werden, um gebrochen zu werden ... Wahrscheinlich wird die Mehrheit unserer Leser ungefähr zu gleichen Teilen verschiedener Meinung sein; die einen sind der Überzeugung, daß der Vertrag einen großen endgültigen Wert hat, die andern sehen in ihm nur eine Tortenkruste. Die Wahrheit aber ist, daß, wenn der Vertrag selbst auch nur ein Fetzen Papier ist, dem Geist dieses Vertrages die größe Wichtigkeit zukommt. Was er wirklich besagt, ist, daß die zivilisierten Nationen Europas sich endlich zusammengefunden haben zu einem festen Block gegen jede mögliche kriegerische Maßnahme der Russen und anderer orientalischer Völker.
Das Gleichgewicht der Kräfte.
Der Vertrag bedeutet vor allem, daß England wie gewöhnlich seiner überlieferten Politik einer Wiederherstellung des Gleichgewichts der Kräfte gefolgt ist. Wir haben in der Tat einen wirklichen Bund der Nationen erreicht, ein Bündnis, welches durch Waffengewalt gestützt werden kann und nicht nur durch nichtssagende Resolutionen, wie es bei dem theoretischen Völkerbund in Genf der Fall ist, der seinen Mitgliedern soviel Geld kostet.
In den frühen Tagen des 19. Jahrhunderts, als Frankreich Europa überrannte, verband sich England mit Deutschland, und das Ergebnis war die Schlacht von Waterloo. Hundert Jahre später, als Deutschland eine Gefahr für Europa zu werden drohte, bekannte sich England zu einer Schicksalsgemeinschaft mit Frankreich, und das Ergebnis war der Krieg von 1914-1918.
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Dieser Krieg war insofern vom Übel, als wir gegen unsere nächsten Blutsverwandten, die Deutschen, zu kämpfen hatten; aber er war, so bedauerlich es sein mag, eine politische Notwendigkeit. Wir schrieben an dieser Stelle schon am 4. August 1914, am Tage als der
Krieg erklärt wurde, daß das schlimmste an diesem Krieg das unglückselige Zusammengehen von England und Frankreich mit Rußland wäre. Es war das der Fehler der Franzosen, denn Frankreich hatte bereits das unnatürliche Bündnis mit Rußland fest abgeschlossen, und wir willigten nur ein, als Dritter im Runde der Protektor dieses Bündnisses zu sein.
Heute finden wir die Staaten Europas noch einmal zusammengeschlossen, aber so, wie es sich gehört. Die nordischen und mittelmeerischen Völker stehen Schulter an Schulter gegen orientalischen Barbarismus und orientalischen Größenwahn. Der Vertrag von Locarno bringt tatsächlich genau das Bündnis, welches in dieser Zeitschrift in den letzten sechs oder sieben Jahren gefordert wurde, er leitet eine Politik ein, wegen deren Verkündigung wir in den früheren Zeiten oftmals schlechthin verlacht wurden.
Der nächste Kriegsschauplatz.
Diejnigen, welche den „Aeroplan" regelmäßig gelesen haben, werden das in Locarno geschlossene Bündnis noch von einem andern Gesichtspunkt aus beachtenswert finden. Bei früherer Gelegenheit, als wir über die Westfront des nächsten Krieges sprachen, führten wir aus, daß die Strategie des nächsten Krieges vor allem durch die Maßnahmen der Deutschen und der Engländer bestimmt werden würde, die, mit Unterstützung der Skandinavier und anderer nordischer Völker, eine etwa von Danzig nach den Alpen laufende Linie zu verteidigen hätten; in gleicher Zeit würden die mittelmeerischen Nationen, vor allem Franzosen und Italiener, eine Linie von den Alpen nach der Adria zu verteidigen haben, d. h. die alte italienische Kampflinie von 1914-1918.
Nun macht der Vertrag von Locarno solche Kampflinien fast automatisch zur Wirklichkeit. Polen und die Tschechoslowakei sind zwar Mitglieder des neuen Bündnisses, aber es muß angenommen werden, daß im Falle einer russischen Invasion die östlichen Teile von Polen und der Tschechoslowakei von den russischen Truppen besetzt werden, ehe irgendeine dauerhafte Kampf-Linie festgelegt werden kann. Wahrscheinlich wird ein Versuch gemacht werden, Warschau als die Hauptstadt von Polen zu verteidigen, und sicherlich werden wir versuchen, Wien vor den Orientalen zu schützen, wie es in der Vergangenheit vor den Türken gerettet wurde. So wird der taktische Raum des Krieges sich anstelle der bloßen Grabenlinie von 1914-1918 wahrscheinlich über Hunderte von Meilen erstrecken und von der Bucht von Danzig über Warschau-Krakau-Wien bis nach Triest an der Adria reichen.
Die völkischen Verhältnisse.
Vom völkischen Standpunkt aus ist das Bündnis von Locarno höchst interessant. Obgleich die Tschechoslowaken und die Polen es sehr energisch ablehnen würden, als Germanen zu gelten, bleibt die Tatsache bestehen, daß sie rassisch viel enger mit den Germanen als mit den Russen verbunden sind und daß in ihren westlichen Teilen Deutsch die Muttersprache ist. Gewiß, es gibt unter den Polen und Tschechoslowaken einen großen Teil Kurzköpfe, man kann dieses Element mongoloidisch oder japhetisch oder sonstwie nennen; der überwiegende Teil dieser Völker aber ist langschädelig und gehört daher zu unserer eigenen Rasse.
Andererseits mag darauf hingewiesen werden, daß die Jugoslawen, Bulgaren und Rumänen, von denen der größere Teil zur kurzschädeligen Rasse gehört, außerhalb des Bündnisses von Locarno gelassen worden sind. Die „Kleine Entente“ (Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien) wird notwendigerweise längs der Rassengrenze aufgespalten.
Die Ungarn, welche offenbar ein mongoloides Volk sind, stehen außerhalb des Bündnisses von Locarno. Der kleine von dem alten Österreich übriggebliebene Teil wird sich bestimmt in Bälde dem Deutschen Reiche anschließen und dadurch Mitglied des Locarno-Bündnisses werden, denn die Bevölkerung dort ist von reinstem germanischen Blut.
Die Abänderung des Vertrages von Versailles.
Aus dem Bündnis von Locarno erwächst naturgemäß die wichtige Frage, wie dieses Bündnis die Bestimmungen des Vertrages von Versailles beeinflußt. Keiner der Betroffenen kann ein Interesse daran haben, ein völlig entwaffnetes Deutschland in ein Offensiv- und Defensivbündnis zu bringen. Es bleibt doch auch Tatsache - und die anderen Mitglieder des Bündnisses sollten das sehr beachten -, daß ein Deutschland ohne Heer und Flotte zwar keine militärische, aber bestimmt eine wirtschaftliche Gefahr wäre.
Das Geld, das alle Mitglieder des Locarno-Bündnisses auszugeben gezwungen werden, um ihre Streitkräfte aufrechtzuerhalten, kann von einem entwaffneten Deutschland dazu benutzt werden, um zum Schaden der Nachbarn wirtschaftliche Unternehmungen zu unterstützen.
Im Falle eines Krieges mit Rußland werden jene Nachbarn keinen andern Ausweg haben, als auf ihre Kosten Deutschland zu bewaffnen. Es ist deshalb im eigensten Interesse vernünftig, den Vertrag von Versailles abzuändern und Deutschland zu erlauben, eine den Streitkräften der übrigen Locarno-Nationen entsprechende Armee und Luftflotte zu unterhalten.
Unser gegenseitiger Vorteil.
Eine solche Änderung der bestehenden Verträge würde der Luftfahrt in Europa in jeder Hinsicht zugute kommen. Den deutschen Flugzeugingenieuren würde gestattet sein, ihre Erfindungsgabe mit aller Energie zu betätigen; sie würden größere und bessere Flugzeuge bauen, die naturgemäß durch den Wettbewerb auch uns Engländer zum Fortschritt anspornen würden. Und wenn wir Deutschland erlauben, größere und bessere Flugzeuge zu bauen, dann können wir selbstverständlich unsererseits die deutsche Regierung um die Erlaubnis bitten, mit unseren eigenen großen Flugzeugen deutsches Hoheitsgebiet zu überfliegen. Wir werden so in den Stand gesetzt, die britischen Luftlinien durch Europa erheblich auszudehnen.
Die Entwicklung von Luftlinien durch deutsches Hoheitsgebiet hindurch wird selbstverständlich von außerordentlichem Wert sein, wenn der Krieg mit Rußland beginnt. Es wird sich ergeben, daß unsere Kriegsflugzeuge auf ihrer Reise nach der Front im Bereich unserer deutschen Verbündeten überall gute Hallen und festländische Verbindungen vorfinden werden; wir werden also unsere Luftstreitkräfte an der Front sowohl materiell wie personell mit erheblich weniger Störungen versorgen können, als wir es 1914-18 an der französischen Front konnten.
Die Entwicklung solcher Luftlinien wird wesentlich alles Zusammenarbeiten mit unseren deutschen Verbündeten erleichtern. Je früher also der Vertrag von Versailles abgeändert wird, je früher die berüchtigten „Neun Punkte" fallen und den Deutschen der Bau von Flugzeugen in nützlichem Ausmaß gestattet wird, desto besser für alle Glieder des Bündnisses von Locarno.
Die deutsche Brücke.
Als wir früher über den nächsten Krieg schrieben, wiesen wir darauf hin, daß wir unsere zur Verteidigung bestimmten Luftstreitkräfte bei Ausbruch des Krieges ebenso nach Deutschland schicken müßten, wie unsere Landarmee 1914-18 nach Frankreich ging. Wir müssen nach Deutschland eilen, um die deutsche Ostfront gegen die Russen solange zu halten, bis Deutschland seine eigenen Land- und Luftstreitkräfte organisieren und ausrüsten kann. Dieser unser früherer Artikel wurde in Deutschland mannigfach veröffentlicht. Er brachte uns von verschiedenen Stellen in Deutschland die Zurechtweisung ein, daß Deutschland sich nicht dazu hergeben wolle, die englische und französische Vormachtstellung in Westeuropa zu beschützen, sondern daß Deutschland es vorzöge, die Brücke für den Handel nach dem Osten zu bilden.
Der Vertrag von Locarno zeigt, daß Deutschlands Staatsmänner, die durch die Person von Dr. Luther und Dr. Stresemann den Vertrag im Namen des deutschen Volkes unterschrieben, diese Tatsache anerkannt haben: mag auch Deutschland noch eine Zeitlang den Handel mit seinen orientalischen Nachbarn weiterführen, die Zeit wird kommen, wo jeder Handel über diese Brücke aufhören und entweder die Brücke selbst zerbrechen oder die Inhaber der Brücke sich entscheiden müssen. Entweder wird das Ostende der deutschen Brüche zum Brückenkopf für die Heere der westlichen Zivilisation oder das Westende die Ausfallspforte für östliche Barbarei nach Europa ...
Das Endresultat.
Der Vertrag von Locarno ist einer der größten Fortschritte in der Weltgeschichte. Zum ersten Mal ist ein Bündnis fast rein auf der Grundlage der Rassenzugehörigkeit zustandegekommen. Den Frieden Europas wird der Vertrag von Locarno nicht sichern, man kann sogar zweifeln, ob der europäische Frieden durch ihn auch nur verlängert wird. Aber die internationale Anerkennung nationaler Interessen, die den Vertrag erzeugten, ist eine Garantie für die Sicherheit des zivilisierten Europa.«
Quelle: Übersetzung aus der englischen Fliegerzeitschrift „The Aeroplane" vom 9.12.1925