Der Nachweis des gefährlichen H5N1-Vogelgrippe-Virus in der Türkei hat deutsche und europäische Behörden in Aufregung versetzt. Europa muss sich wappnen, damit die Seuche sich nicht auch hier ausbreitet. Die größte Gefahr: Mutiert das Virus, könnte es auch von Mensch zu Mensch übertragen werden.
Berlin - Bundesumweltminister Jürgen Trittin, der kommissarisch derzeit auch das Verbraucherschutzministerium leitet, sagte heute, das Ansteckungsrisiko durch das Virus sei derzeit nicht das vordringliche Problem. Man müsse vor allem Maßnahmen ergreifen, die ein Einschleppen des Virus' verhindern können.
Trittin verwies darauf, dass ein Expertenstab am Mittwoch bereits verstärkte Kontrollen im Reiseverkehr, etwa auf Flughäfen beschlossen habe. Mobile Teams aus Zoll, Polizei und Veterinärbehörden sollen die Überwachung gewährleisten. Die Bundesregierung sei in ihrer Risikoeinschätzung bereits vor der Bestätigung des für Vögel hochansteckenden Vogelgrippe-Virus H5N1 in der Türkei davon ausgegangen, dass es sich um dieses hoch pathogene Virus handle.
Trittin berichtete von Stichproben etwa am Frankfurter Flughafen, bei denen in über 600 Fällen zu beanstandendes Material oder gar lebende Tiere entdeckt worden sei, darunter zwei Katzen, ein Hundewelpe und eine Schweinehälfte. "Das geht nicht", sagte Trittin, "hier muss gehandelt werden." Weitere Maßnahmen würden in Abstimmung mit der EU beraten. Von einer generellen Stallpflicht für Geflügel zum Schutz vor Ansteckung durch Zugvögel sprach Trittin zunächst nicht.
Eilverordnung liegt noch in der Schublade
Der Minister hatte gestern, nach der ersten Sitzung des nationalen Krisenstabs, auf die Notfallpläne der Regierung verwiesen. Die würden "sofort greifen", wenn sich das Virus in der Türkei als H5N1 entpuppen sollte. Das Ministerium hat beispielsweise eine Eilverordnung parat, nach der alle frei laufenden Hühner in Deutschland eingesperrt werden müssten. Schon gestern wurden verstärkte Kontrollen an Flughäfen und auf Autobahnen verfügt. Die EU verhängte Importverbote für Geflügel und Federn aus der Türkei und Rumänien.
Das Vogelgrippe-Virus, dem in der Türkei bereits Tausende von Tieren zum Opfer gefallen sind, ist nicht nur eine Geflügelseuche. Der Virenstamm ist vom Typ H5N1 - genau der Unterart des Vogelgrippe-Erregers, der in Südostasien bislang 60 Menschen getötet hat. Ob es sich auch bei der in Rumänien aufgetretenen Variante um H5N1 handelt, ist bislang noch unklar. Fest steht:
Das Virus, vor dessen potentiell katastrophalen Qualitäten Wissenschaftler seit Jahren warnen, hat die Schwelle Europas erreicht.
Dass Zugvögel das Virus aus diesen Ländern nach Deutschland einschleppen, halten Experten jedoch für wenig wahrscheinlich. "Mit Vogelzügen aus der Türkei und Rumänien ist nicht zu rechnen", sagte Elke Reinking, Sprecherin des Friedrich-Loeffler-Instituts, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Es könnten "höchstens Einzelindividuen" nach Deutschland kommen. Jäger seien dennoch angewiesen, verstärkt auf gehäufte Todesfälle unter Wildvögeln zu achten.
Reinking verwies auf den Ausbruch des Virus vom Typ H7N7 in den Niederlanden vor zwei Jahren. Obwohl in einem Stall in Nordrhein-Westfalen infizierte Vögel aufgetaucht waren, sei es zu keiner Ausbreitung in Deutschland gekommen. "Die Maßnahmen haben damals gut gegriffen", sagte Reinking. H7N7 sei ähnlich ansteckend wie H5N1. Bei weitem höher als das Risiko einer Einschleppung durch Zugvögel sei aber die Gefahr einzuschätzen, dass H5N1-verseuchte Geflügelprodukte über den illegalen Handel etwa aus Rumänien nach Deutschland kommen.
Die Europäische Union berät nun über Notfallmaßnahmen, einzelne Länder müssten ihre Risiken beurteilen und entsprechend Handeln, sagte EU-Kommissar Markos Kyprianou am Donnerstag in Brüssel. Welche Maßnahmen das sein könnten, erklärt Kerstin Borchers vom Institut für Virologie in Berlin: "Wir müssen überprüfen, was importiert wird, wir müssen sehen, dass das Virus nicht reinkommt." Mehr könne man im Augenblick nicht tun, so die Expertin im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.
"Die Unterkünfte müssen dicht sein"
Um die Ansteckung durch Zugvögel zu verhindern, müsse nun auch überall über ein vorübergehendes Verbot der Freilandhaltung von Geflügel nachgedacht werden, sagt Borchers. Einige Experten fordern dies schon seit längerem. Derzeit haben nur Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen ihre Geflügelbestände in bestimmten Gebieten in die Ställe verbannt. Schon gestern hatte Verbraucherschutz-Staatssekretär Alexander Müller Geflügelhalter in Deutschland ermahnt, ihre Tiere vor Wild- und Zugvögeln zu schützen.
Schon herabfallender Kot infizierter Tiere kann ausreichen, die Krankheit zu übertragen, "die Unterkünfte müssen dicht sein", so Expertin Borchers. Am wichtigsten sei aber die Reaktion vor Ort: In der Türkei müssten Tiere, die infiziert oder auch nur verdächtig seien, umgehend gekeult werden.
In Niedersachsen wird nun über eine Verschärfung des Stallzwangs nachgedacht, in Baden-Württemberg dürfen nach Mitteilung des Stuttgarter Landwirtschaftsministeriums Vogelhalter ihre Tiere künftig nicht mehr ins Freie lassen, sofern sie dort in Berührung mit Wildtieren kommen können. Verdachtsfälle von Vogelgrippe müssen nach wie vor unverzüglich gemeldet werden.
Eindämmung scheiterte bislang
In den asiatischen Ländern grassiert die Vogelgrippe seit Jahren. Alle Versuche, sie durch Massenschlachtungen einzudämmen oder gar auszurotten, scheiterten. Gleichzeitig mutiert das Virus permanent, passt sich immer besser an. Auch Schweine, Raub- und Hauskatzen fielen ihm bereits zum Opfer. Menschen steckten sich bislang nur im direkten Kontakt mit infiziertem Geflügel an.
In Vietnam, Kambodscha und Thailand starben bislang Menschen an der Vogelgrippe, in jüngerer Zeit gab es auch in Indonesien Todesfälle, der letzte davon ereignete sich erst gestern. Alle Opfer starben an der H5N1-Variante, die bislang aber nicht von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Für diesen Übertragungsweg gab es bisher nur einen einzigen Verdachtsfall. Aus diesem Grund ist auch noch keine globale Pandemie ausgebrochen - würde sich das Virus so verändern, dass Menschen es untereinander weitergeben könnten, wären weltweit Millionen Todesopfer zu erwarten, warnen Experten.
Um eine Vermischung des H5N1-Stamms mit dem menschlichen Influenza-Virus zu verhindern, sollte die Bevölkerung in Riskogebieten gegen die Menschengrippe geimpft werden, fordern Fachleute: Der schlimmste anzunehmende Fall wäre nämlich, dass sich die das Vogel- und das Menschenvirus in einem menschlichen Wirt vermischen - und so das Pandemie-verursachende Supervirus entsteht.
Die türkische Regierung hat, um gegen einen möglichen Ausbruch einer Grippe-Epidemie gewappnet zu sein, nach Presseberichten eine Million Packungen des Grippemittels Tamiflu bestellt. Allein seit dem vergangenen Wochenende waren 28.000 Packungen des Medikaments verkauft worden; derzeit gibt es in der Türkei nur 55.000 Packungen des Grippemittels. Weltweit herrscht große Tamiflu-Knappheit: Der einzige Hersteller des Impfstoffes, Roche, kommt mit der Produktion nicht nach.
In Deutschland steigt bereits die Nachfrage: Aus Angst vor der Vogelgrippe decken sich die Menschen verstärkt mit Grippemitteln ein. "Die Nachfrage war in den letzten Wochen extrem hoch", sagte die Geschäftsführerin Pharmazie bei der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), Christiane Eckert-Lill, der dpa. Allein im August seien 79.000 Packungen verschreibungspflichtige Grippemedikamente wie Tamiflu verkauft worden. Im Vorjahresmonat seien gerade mal 900 Packungen über den Ladentisch gegangen.
Christian Stöcker, Markus Becker
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