Die biologische Anthropologie hat weitgehend das Interesse an Bevölkerungsunterschieden hinsichtlich körperlicher Merkmale verloren und konzentriert sich stattdessen auf DNA-Methoden. Dieser Trend ist verständlich, denn in vielerlei Belang sind diese Techniken schlicht und ergreifend unschlagbar. Aktuell laufen beispielsweise diverse Projekte, bei denen DNA-Daten direkt an vorgeschichtlichen Skeletten gewonnen werden, was unser Wissen über die eigene Bevölkerungsgeschichte in naher Zukunft explosionsartig erweitern dürfte.
Dennoch beklage ich eine gewisse Einseitigkeit, die damit einhergeht. Denn die klassischen Merkmale wie Körperproportionen, Pigmentation etc. sind noch lange nicht "fertig". Noch immer dürften sich daraus interessante Erkenntnisse gewinnen lassen. Dazu muss aber gesagt werden, dass sich die klassischen Anthropologen nun auch eine ganze Reihe von Versäumnissen haben zu Schulden kommen lassen. So gibt es meines Wissens bis heute keine standardisierten Datenbanken, in denen die abertausende Einzelstudien, die seit mehr als hundert Jahren überall auf der Welt durchgeführt wurden, zusammengefasst werden. Zu vielen Merkmalen wurden keine quantifizierenden Methoden entwickelt, obwohl sie theoretisch möglich wären (z. B. Kräuselung der Haare, mongolisches Augenlid, Krümmung des Nasenrückens).
Als ehemaliger Student der biologischen Anthropologie habe ich ausgerechnet für diese Merkmalsklasse eine gewisse Schwäche entwickelt und mir in den letzten Jahren daher einen eigenen provisorischen Datensatz erstellt, der momentan 25 Bevölkerungen und 23 Merkmale umfasst. Die Datenqualität ist sehr gemischt: Teilweise stammen sie aus den klassischen Übersichtskarten; die Werte für die Brustgröße (Körbchengröße) habe ich einer Abbildung der Bildzeitung entnommen. Zu anderen Daten – Schädelmaße etwa – gibt es allerdings auch sehr gute Übersichtsarbeiten von Fachanthropologen. Für Körperhöhe und Body-Mass-Index hält die WHO brauchbare Listen bereit.
Mir ist bewusst, dass auf diesem Forum vor kurzem eine Diskussion über den Begriff Rasse geführt wurde. Ich habe mich ganz bewusst herausgehalten, da die Diskussion doch sehr ideologisch geführt wurde. Den Rassenbegriff benutze ich selber aus Gründen der Praktikabilität. Die Probleme und Dispute, die damit zusammenhängen, habe ich zur Kenntnis genommen.
Nun habe ich kürzlich meinen Datensatz befragt, ob er zu einem Problem, das in der Rassenkunde seit jeher mitschwang, Antwort geben kann. In der Biologie gibt es den Begriff der Neotenie. Damit ist ein Evolutionsprozess gemeint, bei dem ein Individuum auch im Erwachsenenalter kindliche Merkmale beibehält. Ein prominentes Beispiel ist der südamerikanische Axolotl, der auch als erwachsenes Tier als molchartiger kiemenatmender Wasserbewohner lebt. Verabreicht man diesem Tier während der Wachstumsphase entsprechende Hormone, entwickelt er sich zum landbewohnenden Salamander weiter. Irgendwann in seiner Stammesgeschichte hat der Axolotl also seine letzte Reifungsphase abgeworfen, um teilweise im Jugendstadium zu verharren.
Diskutiert wird aber auch, ob Neotenie eine Rolle während der Humanevolution gespielt hat: Ein kindlicher Schimpansenschädel weist starke Ähnlichkeit mit einem erwachsenen Australopithecus auf (relativ kleiner Kiefer, kleines, steiles Gesicht, relativ großer Hirnschädel), und ein kindlicher Australopithecus ist bezüglich derselben Merkmale dem erwachsenen Jetztmenschen auffallend ähnlich.
Im Zusammenhang damit wurde hin und wieder auch die Frage aufgeworfen, ob es Menschenrassen gibt, die unterschiedlich stark zur Neotenie neigen. Anhand meines Datensatzes war ich in der Lage, einen Index der Neotenie zu entwickeln. Worin unterscheiden sich Kinder von Erwachsenen? Hier die Merkmale, die sich auch in meinem Bevölkerungsdatensatz finden:
- Geringere Körperhöhe
- Stupsnase, kein konvexes Nasenprofil
- Beine relativ zur Körperhöhe kürzer
- Gesichtsprofil senkrecht, kein hervorspringender Kiefer
- Geringere Körperbehaarung
- Schädel relativ zum Körper größer
- Gesicht relativ zum gesamten Schädel kleiner
- Kleinere Geschlechtsorgane
- Hellere Haut, Haare, Augen
Nach entsprechender Polung und Aussonderung der Pigmentation* bildeten sich für diese Merkmale durchgehend positive Interkorrelationen (für Statistiker: Cronbach Alpha lag über 0,8, was nicht perfekt, aber ausreichend ist). Das heißt: Eine Bevölkerung von eher geringer Körperstatur weist tendenziell auch größere Köpfe auf usw. Die Merkmale ballen sich sozusagen zu einem Neoteniekomplex zusammen. Im nächsten Schritt habe ich mit diesen Merkmalen für jede einzelne Population ihren jeweiligen Neoteniewert errechnet. Als extrem wenig neoten, also als besonders "erwachsen", offenbarten sich die australischen Aborigines. An zweiter Stelle kamen dann schon die Deutschen. Nur wenige Ränge später erschienen die Afrikaner aus Malawi, direkt gefolgt von den Franzosen. In diesem Teil der Liste ging es also kunterbunt durcheinander, rassische Verwandtschaften spielten keine Rolle. Dann aber zwischen Papuas und Thailändern machten die Werte einen ziemlichen Sprung, und es folgten alle übrigen ostasiatischen Bevölkerungen: Japaner, Chinesen, Indonesier, Burmesen, Vietnamesen und Mongolen. Übertroffen wurden sie nur noch von den südamerikanischen Indianern.
Es lässt sich also nicht prinzipiell sagen, dass Großrassen durch einen spezifischen Neoteniegrad gekennzeichnet sind. Eine Ausnahme bilden jedoch die Ostasiaten, die als kompakter Bevölkerungsblock eine starke neotene Tendenz aufweisen. Worauf das zurückzuführen ist, kann ich derzeit noch nicht sagen. Klimatische Gründe scheinen auszuscheiden. Denn davon, dass in Japan dasselbe Klima herrscht wie in Vietnam oder auf Indonesien, kann ja nicht die Rede sein. Zu einem interessanten Nebenaspekt werde ich mich ggf. später noch äußern.
*: Pigmentation wies zu einigen anderen Merkmalen teilweise negative Korrelationen auf. Das Merkmal im Interesse einer verbesserten Homogenität zu entfernen, schien mir gerechtfertigt. Es ist bekannt, dass Pigmentation und UV-Einstrahlung hoch korrelieren. Das Merkmal wird also durch einen sehr speziellen Umweltfaktor gesteuert.