Türkei ist vom "europäischen Weg" enttäuscht und besinnt sich auf ihre osmanischen Wurzeln
Eine Analyse von "Towarisch Semjonow", Moskau
"Die Türkei ist aus ihrem tiefen Schlaf erwacht, sie wird ihre Kultur und ihre Stärke wiedergebären", sagte der türkische Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmuş.
Ankara gab der Europäischen Union zu verstehen, dass es von nun an zwecklos ist, die Türkei mit der EU-Mitgliedschaft zu erpressen. Der Wunsch nach der Annäherung zur EU ist verlorengegangen. Stattdessen lebt die Idee des Osmanischen Imperiums wieder auf, vielleicht nicht in territorialem Sinne, da die Expansion in der modernen Welt nur selten mit einer territorialen Ausdehnung einhergeht. Diese Entwicklung ist für Russland günstig, allerdings sollte man dennoch die nötige Vorsicht walten lassen.
Volkan Bozkir, der türkische Minister für EU-Angelegenheiten, sagte bereits offen, dass es die Türkei nicht verärgern würde, wenn Brüssel eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ablehne. Die derzeitige Politik der EU in Bezug auf die Türkei bezeichnete Bozkir als "unannehmbar", wie er in einem Interview mit dem Fernsehsender "TRT Haber" sagte. Dabei fügte der Minister hinzu, dass die Türkei mehr Demokratie habe als einige Staaten in der EU.
Diese Worte habe die europäischen Medien in helle Aufruhr versetzt. Für noch mehr Furore sorgte die Replik des türkischen Vize-Premiers Numan Kurtulmuş. Dieser sagte, dass der Zerfall des Osmanischen Imperiums nicht durch die Verluste von Territorien verursacht worden war, sondern durch den Verlust von Ambitionen und von Kultur. Doch nun sei die Türkei aus ihrem 150-jährigen Schlaf erwacht. Und was war vor 150 Jahren? Vor 150 Jahren wurden die Osmanen vom Balkan vertrieben. Dies bedeutet also, dass die Türkei nicht mehr als ein europäisches Land fungieren möchte, sondern eine Wiedergeburt als Imperium anstrebt. Ob dieses Imperium sich in kultureller, religiöser, politischer oder wirtschaftlicher Sicht äußert, ist unwichtig. Wichtig ist, dass es ein Imperium wird.
Man kann sagen, dass der Wendepunkt in der Geschichte der modernen Türkei nicht erst jetzt eingeläutet wurde, sondern schon vor etwa zehn Jahren, als die islamisch orientierte Partei AKP des jetzigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan an die Macht kam. Im Prinzip war Erdogan zunächst ein Befürworter des türkischen EU-Beitritts, während seiner Amtszeit als Ministerpräsident erhielt die Türkei den Status als EU-Beitrittskandidat. Doch das paradoxe ist, dass die Bedingungen, die Brüssel an die Türkei stellt, die Türkei nicht an Europa angenähert haben, sondern im Gegenteil, von Europa entfernten. Brüssel besteht z.B. kategorisch darauf, dass der nationale Sicherheitsrat der Türkei reformiert wird, da die Arbeitsweise des Sicherheitsrates nicht zu den europäischen Vorstellungen von Demokratie passt. Der Sicherheitsrat, der für die säkularen Prinzipien und für die Westannäherung der Türkei stand, wurde geschwächt, und damit auch der Westkurs des Landes.
Erdogan hat in den Jahren seiner Amtszeit die Türkei aus der langjährigen Inflationsspirale geholt und für ein Wirtschaftswachstum im zweistelligen Prozentbereich gesorgt. Der Lebensstandard der Türken ist über die Jahre spürbar angestiegen. Erdogans wirtschaftliche Erfolge, sein persönliches Carisma und seine imperialen Ambitionen haben ihn beim türkischen Volk beliebt gemacht. Für den Westen dagegen gilt er quasi als Diktator, der autokratische Mechanismen installiert, als Gegner der unabhängigen Presse.
In den europäischen Massenmedien wird Erdogan deshalb oft mit Wladimir Putin verglichen. Zumal Erdogan und Putin zwei Staatsoberhäupter sind, die einen gemeinsamen Nenner gefunden haben. Ihr persönliches Verhältnis zueinander ist gut. Die russisch-türkische Zusammenarbeit wurde unter Putin und Erdogan deutlich ausgeweitet. Milliardenschwere Gasdeals wurden abgeschlossen. Das macht Europa zunehmend nervös.
Nachdem Wladimir Putin kürzlich die Türkei besucht hat und mit lukrativen Verträgen nach Hause gefahren ist, bekam die Türkei nur wenig später Gäste aus Europa. Die Europäer versuchten Erdogan dazu überreden, keine Geschäfte mit Russland zu machen und sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen. EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn stellte der Türkei sogar Kompromisse bei den Beitrittsverhandlungen in Aussicht, wenn sie doch nur bitte keine Geschäfte mit Russland macht.
Dabei spielen die Gasdeals mit Russland den imperialen Ambitionen der Türkei in die Hände. Klappt alles so wie geplant, wird mit Hilfe Russlands auf türkischem Territorium der größte Gas-Hub Europas entstehen. Damit würde die Türkei ihren energiepolitischen Einfluss deutlich ausweiten und die EU sogar teilweise abhängig von ihr machen.
Parallel dazu ging Erdogan in die Offensive und beschäftigte sich mit der "Fünften Kolonne" seines Erzfeindes Fethullah Gülen. Zu den Anhängern Gülens gehören führende Journalisten, die über Korruption schrieben. Für manche dieser Journalisten bedeutete dies die Verhaftung und Europa musste, schweren Herzens, die Türkei wegen Einschränkung der Pressefreiheit verurteilen. Dies führte zu einer weiteren Entfremdung Erdogans von der EU. Man kann Putins Politik in Bezug auf die Türkei unterschiedlich bewerten, doch Fakt ist, dass Putin Europa ein weiteres Mal übertrumpft hat. Leicht und eindrucksvoll. Erdogan trat seinerseits mit der Aussage auf, dass die EU sich doch um ihre eigenen Angelegenheit kümmern solle, anstatt sich in die innenpolitischen Angelegenheiten der Türkei einzumischen.
Und überhaupt sollte angemerkt werden, welche Auswirkungen die Turbulenzen der russischen Wirtschaft auf die Türkei haben könnten. Die türkischen Medien haben berichtet, dass während der Russlandkrise 1998 das türkische Bruttoinlandsprodukt um beinahe fünf Prozent eingebrochen ist. Russland war für die Türkei ein sehr wichtiger Absatzmarkt, und ist heute noch wichtiger geworden. Man muss sich vor Augen führen, was allein die Tourismusbranche ausmacht. Nach Expertenschätzungen könnte die türkische Tourismusbranche wegen des vermehrten Wegbleibens russischer Touristen um ein Drittel einbrechen. Auch die türkische Lira leidet unter der aktuellen Entwicklung. Erdogan beschuldigte dafür die westlichen Spekulanten. Ähnliches hatten auch die russischen Politiker gesagt.
Wirtschaftliche Probleme kann Erdogan derzeit überhaupt nicht benötigen. Ja, die türkische Opposition ist zersplittert, Erdogan hat seine Machtposition deutlich gestärkt, die Gülen-Anhänger haben wenig Schlagkraft und die schmerzhafte "Korruptionskrise" gehört der Vergangenheit an. Doch ihre zahlenmäßige Unterlegenheit kompensiert Türkeis Opposition durch Entschlossenheit. Schrumpft die türkische Wirtschaft, könnte die Opposition Zulauf bekommen. Man muss hierzu sagen, dass Erdogans wirtschaftliche Erfolge nicht die relativ hohe Arbeitslosigkeit eliminiert haben. In der Türkei sind aktuell 9,1% der Männer, 13,6% der Frauen und 19,1% der Jugendlichen ohne Arbeit. Daher bleibt die politische Bühne der Türkei ein Pulverfass, das jederzeit so hochgehen könnte, wogegen die Taksim-Proteste das reinste Picknick waren.
Die islamische Solidarität und die messianische Mission, die sich Erdogan auf die Fahnen geschrieben hat, führt sogar zwangsläufig zu einer Annäherung zwischen Ankara und Moskau und einer Entfernung von Brüssel. Die moderne Türkei streitet sich regelmäßig mit Israel (wegen den Palästinensern), sie streitet sich mit China (wegen den Uiguren), sie streitet sich mit den USA (wegen der irakischen Kurden, die als Verbündete der westlichen Koalition auftreten und die Quelle für separatistische Probleme in der Türkei selbst sind). Und letztlich ist die Frage der türkischen EU-Mitgliedschaft schon lange nur noch von theoretischer Natur. In Europa steigen die islamophoben Stimmungen, die kategorisch gegen die Aufnahme von Muslimen in die "europäische Familie" sind. Sogar EU-Spitzenpolitiker wie Herman Van Rompuy sagen offen, dass die Türkei kein europäisches Land ist und nie eins sein wird. Möglicherweise wird die EU versuchen, keine überflüssigen Phrasen in Richtung Ankara schicken, um die Situation nicht weiter aufzuheizen, doch gewisse Fakten lassen sich schlicht nicht leugnen. Nicht leugnen lässt sich, dass die Aufnahme eines Landes mit 70 Millionen Einwohnern, von denen über 95% Muslime sind, die Formierung der europäischen Bürokratie und die Prinzipien der Entscheidungsfindung deutlich verändern würden.
Es bleibt also in Zukunft eine russisch-türkische Annäherung - die nicht risikofrei ist. Denn wir erinnern uns, dass die Türkei im Tschetschenienkrieg die Islamisten aktiv gefördert hat. Und viele tschetschenischen Islamisten haben Zuflucht in der Türkei gefunden. Und da wäre natürlich die Krim-Frage, obwohl sich die türkische Führung bislang sehr vorsichtig dazu äußert. In der Türkei befindet sich eine große Menschen Leute, die die Krim als Gebiet der muslimischen und mit den Türken eng verwandten Krim-Tataren sehen. Nur wenig vor Putins Besuch in der Türkei empfing Erdogan Mustafa Dschemilew, das "Gesicht" der krim-tatarischen Bewegung. Dschemilew ist Russland-Gegner und sitzt im ukrainischen Parlament an der Seite des Majdan-Blocks.
Es ist festzuhalten, dass das Streben der Türkei nach politischer Unabhängigkeit und der Pragmatismus Ankaras gegenüber Moskau aus Russlands Sicht sehr zu begrüßen ist. Allerdings hat die Türkei "ewige Werte", die für Russland in einer sehr unerwarteten Weise gefährlich werden könnten. Man darf nicht vergessen, dass es zu diesen "ewigen Werten" auch gehört, dass die Türkei ihren Blick auf den Balkan und die südrussische Schwarzmeerküste richtet, was früher mal türkisches Gebiet war. Doch auch für die Europäer ist dies kein Anlaß zur Freude. Denn wer hat die Osmanen damals vom Balkan vertrieben? Es war Russland.
Übersetzung aus dem privaten Blog von Towarisch Semjonow