Die Welt / 10.11.1999 / von Johnny Erling
Mao warnte Stalin vor Hitlers Angriff
Nicht nur in Japan gab es einen Richard Sorge - Doppelagent erfuhr von Berliner Plänen und informierte die chinesischen Kommunisten
Zwei Sekretäre von Mao Tse-tung verbrannten rasch noch die letzten Papiere und Geheimdokumente, während die Bomber der nationalistischen Kuomintang-Armee ihre Angriffe gegen Maos Hauptquartier in den Bergen der Provinz Shenxi flogen. Am 12. und 13. März 1947 wurde der berühmte Guerillastützpunkt im voll ausgebrochenen Bürgerkrieg zwischen Tschiang Kai-schek und Mao Tse-tung bombardiert. Am 19. März nahmen die Kuomintang-Truppen die Bergstadt Yanan ein.
Ein vergilbtes Telegramm war da längst in Asche aufgegangen - heute würde es im Archiv der Kommunistischen Partei Chinas einen Ehrenplatz finden. Es war sechs Jahre vorher, am 30. Juni 1941, aus Moskau im Namen des großen Stalin an die Kommunistische Partei Chinas adressiert worden. "Stalin bedankte sich bei Mao, ihn vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunion gewarnt zu haben. Sein Telegramm traf acht Tage nach Kriegsausbruch ein", berichtet der einstige Russischdolmetscher Maos und heutige Vorsitzende der Wohlfahrtsgesellschaft, Yan Mingfu. Mitarbeiter Maos hätten sich an den Wortlaut des Telegramms so erinnert: "Dank eurer korrekten Informationen war es uns möglich, für die sowjetische Armee noch vor dem deutschen Angriff den Alarmzustand auszurufen", habe Stalin geschrieben. Gab es neben dem Agenten Richard Sorge, dessen Leben vor 55 Jahren am 7. November 1944 am Galgen endete, auch in China einen weiteren Warner vor Hitler? Einen, auf dessen Informationen - im Gegensatz zum weltberühmten Meisterspion in Japan - Stalin auch hörte?
Wie Maos Kommunisten Stalin über Hitlers Pläne zu unterrichten versuchten, ist eine bis heute unbekannt gebliebene Geschichte im Dunstkreis von Geheimdiensten, Kommunisten im Untergrund, dem Bürgerkrieg in China und strategischen Ränkespielen der Weltkriegsmächte. Der 68-jährige Yan Mingfu hat Grund, jetzt diese Geschichte zu erzählen, denn der Hauptbeteiligte, der Stalin die Warnung zuspielte, war sein eigener Vater Yan Baohang: Der war aber kein professioneller Agent.
Yan kam an die Informationen über Hitlers Angriffsabsichten durch seine Freunde in der Führung der Kuomintang-Regierungspartei (KMT) in Chongqing am Jangtse-Strom. Die Stadt war in den vierziger Jahren nach Japans Angriff auf China vorübergehend zur Hauptstadt des Landes geworden. Die KMT-Nationalisten hatten ihren Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten eingestellt und sich mit ihnen auf ein Zweckbündnis gegen die Japaner eingelassen.
In Chongqing erfuhr Yan im Juni 1941 von Hitlers bevorstehendem Überfall. Er gab die Nachricht "In der Woche gleich nach dem 20. Juni wird Deutschland angreifen" an den russischen Militärattaché N. V. Roschin und Tschou En-lai, den späteren Premier Chinas, weiter. Von diesem ging sie an Mao Tse-tung in Yanan, der sie am 16. Juni 1941 nach Moskau weiterdrahten ließ. Ein halbes Jahrhundert lang schwiegen sowohl Moskau wie Peking darüber. Erst 1995 verlieh Russland bei einer Feierstunde zum 100. Geburtstag Yan Baohangs in der Provinz Liaoning dem 1968 Verstorbenen posthum eine Verdienstmedaille zum 50. Jahrestag des Kampfs gegen den Faschismus. "Die Russen vergaben ihre Medaillen nur an Lebende. Mein Vater war die einzige Ausnahme", erinnert sich Sohn Yan Mingfu.
Wie war es möglich, dass im von Berlin mehr als 10 000 Kilometer entfernten Chongqing Hitlers Angriffspläne auf die Sowjetunion bekannt waren und dass Yan davon erfuhr? Die Antwort gibt der heute noch lebende, über 80-jährige Luo Qingchang, einer der grauen Eminenzen der militärischen Aufklärung Chinas. Luo leitete in Yanan die militärische Spionage, wurde nach 1949 Vizebürochef von Premier Tschou En-lai und nach der Kulturrevolution Minister für Staatssicherheit. 1995 bekannte er in einer Gedenkschrift: "Ich und Yan Baohang waren an der unsichtbaren Front tätig." Yan sei 1937 heimlich in die Partei aufgenommen worden und Tschou En-lai direkt untergeordnet gewesen.
Der Untergrundkommunist Yan Baohang wurde zu einem der höchsten Einflussagenten bei den Kuomintang-Führern in Chongqing. Diese hatte von der Doppelrolle des am 6. April 1895 in Nordostchinas Provinz Liaoning geborenen und als Christ erzogenen Yan Baohang keine Ahnung. Sein Ansehen unter ihnen bezog er aus seiner Freundschaft mit dem jungen Marschall Zhang Xueliang, der damals einer der mächtigen Kriegsherren in Nordostchina war und über ein Heer und eine eigene Luftwaffe verfügte. Yan genoss zudem das Vertrauen des Kuomintang-Präsidenten Tschiang Kai-schek und seiner Frau Soong Meiling. In Chongqing hatte Yan mit allen hohen Nationalistenführern engen Umgang.
So war es nicht verwunderlich, dass er schließlich von der nur für allerhöchste Kuomintang-Führer bestimmten Geheimnachricht vom bevorstehenden Überfall Hitlers erfuhr. Sie war Anfang Juni von Berlin nach Chongqing gelangt und schlug dort wie eine Bombe ein.
Geheimdienstchef Luo vermutet, dass Hitler, der Moskau angreifen wollte, die Unterstützung durch Japan suchte. Damals wurde Japans Armee, die in China eingefallen war, von einem Widerstandsbündnis der Kuomintang und Kommunisten bekämpft, auf das sich KMT-Präsident Tschiang Kai-schek nach 1936 aber nur widerwillig eingelassen hatte.
Danach habe Deutschland versucht, die Kuomintang, die alte Kontakte zu Hitlers NSDAP unterhielt, ganz auf ihre Seite zu ziehen. Der Kuomintang-Militärattaché in Berlin sei frühzeitig informiert worden, dass Deutschland Russland nach dem 20. Juni angreifen werde. Er habe dies nach Chongqing weitergemeldet. Die Absicht der deutschen Führung sei es gewesen, die Kuomintang zu überzeugen, künftig nicht auf die USA und England, sondern auf das Kriegsglück der Achsenmächte Deutschland und Japan zu setzen und nicht weiter gegen Japan zu kämpfen. Tokio hätte dann die Hände frei gehabt, um im Norden die Sowjetunion anzugreifen.
Chinesische Quellen behaupten heute, dass jene Nachricht aus Berlin bei der Führung der Kuomintang tatsächlich vorübergehend zu solchen Überlegungen geführt hätten. Die Nationalisten hätten darauf spekuliert, dass Japan nach dem Angriff Deutschlands auf die UdSSR seine Truppen in China nach Norden verlegen würde. Um die Sowjetunion von einem Zangenangriff zu entlasten, würde Mao dann seine kommunistischen Armeen den Japanern nachsetzen lassen. Chinas nationalistische Truppen hätten dann nur noch abwarten brauchen, um sowohl die Japaner aus dem Kernland Chinas loszuwerden als sich auch die von den Kommunisten besetzten Guerillagebiete wieder zurückholen zu können. Einige Kuomintangführer waren über diese Aussichten so erregt, dass sie Yan Baohang in den Grund ihrer Freude eingeweihten.
Der heute in Peking lebende 92-jährige Li Zhengwen war als Verbindungsoffizier zwischen Yan Baohang und der Partei eingesetzt. Li hat sich an seine Zeit in Chongqing schriftlich erinnert. "Ich arbeitete unter Yan zwischen April und Juni 1941." Nachdem er von Yan Nachricht über den Angriffsplan Hitlers erhalten hatte, gab er sie an den Militärattaché Roschin und an Tschou En-lai weiter. Einer der Informanten Yans sei damals Sun Ke (1891-1973), Leiter des KMT-Exekutivrats, gewesen.
Der Verrat von Yan Baohang blieb unentdeckt. Der schwärmerische Sozialist behielt seine Doppelrolle zwischen Kuomintang und Kommunisten. Als es Abhörspezialisten in Chongqing gelang, die japanischen Militärcodes zu entschlüsseln, und sie Tokios Pläne zum Angriff auf Inseln vor Hawaii mithörten, erfuhr es Yan in der zweiten Novemberhälfte. Seine Nachricht ging über Chinas KP an Stalin zur Information der USA weiter. So zumindest berichteten es einstige Beteiligte 1995. Wenn das stimmt, wäre es ein weiterer Scoop Yans. Am 7. Dezember 1941 überfiel Japan Pearl Harbor.
Besser belegt und heute noch in Moskauer Parteiarchiven auffindbar sind die von Yan im Herbst 1944 beschafften detaillierten Aufstellungspläne über die in der Mandschurei stationierten und gefürchteten japanischen Guandong-Truppenverbände.
Nur eine Handvoll Leute wussten von Yans Doppelrolle, dessen Leistungen nach 1949 in Peking in Vergessenheit gerieten. Erst 1962, als sich die chinesisch-russischen Beziehungen radikal verschlechterten, bekannte sich Yan dazu.
Der Anlass war eine Geheimrede des Premiers Tschou En-lai, der angesichts der Einstellung der Moskauer Hilfe an Peking daran erinnerte, wie China der Sowjetunion früher geholfen hatte. Tschou sprach dabei das Telegramm Stalins an, der sich am achten Tag des Einmarschs Hitlers bei Mao über die Warnung bedankt hatte und sagte: "Ich weiß nur nicht mehr, welcher Genosse uns diese Informationen gab."
Yan Baohang, der dabei war, schrieb darauf in einem Brief an Tschou über seine Rolle. Der Premier kommentierte das Schreiben: "Was darin steht, stimmt. Zu den Parteiakten nehmen." Yan Mingfu, der damals als Maos Dolmetscher davon erfuhr, fragte seinen Vater. "Erst dann hat er uns Kindern alles erzählt. Er hat sich nie damit gerühmt."
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