Der psychodynamische Ansatz / Susanne Lin (Auszug)
Exkurs: Sündenböcke
Im Rahmen der Frustrations-Aggressions-Hypothese, später auch innerhalb kritisch-friedenspädagogischer Ausführungen, spielen Sündenböcke als Opfer ,verschobener' Aggressionen der ,autoritären Persönlichkeit' eine wesentliche und für die ,Sündenbock'-Theorie notwendige Rolle; denn die einmal entstandenen aggressiven Impulse brauchen - gemäß dieser Theorie - ihr ,Entladungsobjekt'. In der Frustrations-Aggressions-Theorie hat die Vorstellung von der ,Aggressionsverschiebung' ihre wissenschaftliche Bedeutung gewonnen. Nach Nolting (vgl. NOLTING 1993a/b) zeigen zahlreiche Experimente allerdings nur, dass es nach Frustrationen häufig zu aggressiven Einstellungen oder Handlungen gegen Unschuldige kommt. Nachzuweisen ist aber nicht, dass dies auf der untergründigen ,Verschiebung' aggressiver Impulse beruht.
Nolting unterscheidet darüber hinaus echte und unechte ,Sündenbock-Phänomene' voneinander, denen sehr wahrscheinlich nur das eine gemeinsam ist, nämlich dass Aggressionen gegen Unschuldige gerichtet werden (vgl. NOLTING 1993b, S. 165ff).
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"Woran aber soll sich das Handeln orientieren? Man muß hier bedenken, daß in solchen sündenbockträchtigen Situationen die Frustrationsquelle (die ,Ursachen') häufig schwer zu identifizieren oder nicht verfügbar ist (z.B. komplizierte Zusammenhänge einer wirtschaftlichen Krise, unkontrollierbare Naturvorgänge).
Die Orientierungslosigkeit, die drückende Ungewißheit, die Lähmung der Handlungsfähigkeit wird aufgehoben, wenn eine Ursache benannt wird, gegen die man vorgehen kann. Die ist im allgemeinen am einfachsten zu leisten, wenn die Frustrationsquelle personifiziert wird, wenn es ,Schuldige' gibt (z.B. die Regierung, bestimmte Minderheiten)." (NOLTING 1993b, S. 168)
Nach Nolting liefert der ,Schuldige' einerseits ,Handlungsorientierung' und lässt andererseits durch die Vorstellung, dass er schuldig an der Misere ist, aggressive Gefühle und Vergeltungswünsche erst entstehen. Nolting folgert daraus, dass nicht der Sündenbock die Folge eines Aggressionsbedürfnisses ist, sondern dass das Aggressionsbedürfnis erst aus der Existenz eines Schuldigen erwächst! In diesem Zusammenhang erinnert Nolting zum einen daran, dass die Zuschreibung von Schuld (Absicht, Fahrlässigkeit) für die Entstehung von Ärger ein entscheidender Faktor ist, und zum anderen macht er darauf aufmerksam, dass bei vielen Frustrationen ohne einen erkennbaren Schuldigen, wie es beispielsweise bei Naturkatastrophen oder Krankheiten der Fall ist, keine aggressiven Handlungen und Gefühle auftreten.10 Echte Sündenbockphänomene bestehen in akuten Frustrationssituationen aus einer Mischung von Vergeltung und instrumenteller Aggression, weil man sich dadurch eine mögliche Verbesserung der eigenen Lage erhofft, möglicherweise von eigener Schuld ablenken kann oder aber auch, um das Zusammengehörigkeitsgefühl unter Betroffenen gegenüber dem gemeinsamen Gegner zu stärken. Durch die Schuldzuweisung an den anderen hat man eine Legitimation für das eigene Handeln, wodurch auch bestehende Aggressionshemmungen gemindert werden können. Nolting macht in seinen Ausführungen deutlich, dass es sich bei den Schuldzuschreibungen an bestimmte Sündenböcke für die ,Täter' um ",zweckmäßige' Kausalattribuierungen" handelt.
Seine vierte und letzte Differenzierung, die in diesem Fall wieder der Beschreibung eines
,echten Sündenbockphänomens' dient, das als eine Schuldzuschreibung charakterisiert wird, bei der die wahrgenommenen Schuldigen und die wirklichen Ursachen nicht eindeutig identisch sind, ist die
"gewohnheitsmäßige Aggression gegen Personen mit einem ,Schuldigen-Image'".
Als ein in unserem Zusammenhang relevantes Beispiel nennt Nolting Folgendes: In "einer Gesellschaft werden Angehörige einer rassischen oder religiösen Minderheit traditionell benachteiligt, ausgebeutet und schärfer bestraft". Nolting führt aus, dass hier Sündenböcke nicht für akute Probleme verantwortlich gemacht, sondern ihnen dauerhaft bestimmte Merkmale wie ,kriminell' oder ,faul' zugeschrieben werden; das ist der klassische Vorgang der Stereotypisierung. Damit bekommen eben diese Minderheitengruppen "das Image eines Schuldigen, der die aggressive Behandlung ,verdient' hat".11 Dieser stereotypen Zuschreibung bestimmter Eigenschaften liegt nach Nolting meist eine instrumentelle Aggression zu Grunde, die Vorteile einbringt. Man will aus ihnen wirtschaftlichen Nutzen ziehen oder Rangordnungen herstellen. Schuldzuschreibungen sind in diesem Falle ,gewohnheitsmäßiger Aggression gegenüber Personen mit einem ,Schuldigen-Image' vermutlich die Folge von Aggressionen und nicht der ursächliche Faktor. Es handelt sich hier also um ein "sekundäres Sündenbockphänomen", wohingegen die "Aggression bei Schuldzuschreibungen in akuten Problemlagen als primäre Sündenbock-Phänomene" gelten können. Beide können jedoch miteinander verbunden werden, wenn "Personen mit Sündenbock-Stereotyp auch in akuten Frustrationssituationen zum Schuldigen gestempelt werden".
Es gibt also offensichtlich bestimmte Merkmale oder Charakteristika, die bestimmte Personen für
,Sündenbockphänomene' als geeignet erscheinen lassen:
"1. Die Personen werden ohnehin nicht ,gemocht' (persönliche Abneigung, Gegnerschaft).
2. Die Personen werden irgendwie mit der primären Frustrationsquelle assoziiert (z.B. Juden als Vertreter der herrschenden Wirtschaftsmacht).
3. Es erscheint ungefährlich, die Personen anzugreifen.
4. Es erscheint moralisch gerechtfertigt, sie anzugreifen. Häufig werden, wie im Falle der Minoritätengruppen (Juden, Farbige usw.), noch zwei weitere Merkmale erfüllt:
5. Sie sind andersartig in Sprache, Glauben, Gewohnheiten (wegen der Andersartigkeit werden sie eventuell nicht gemocht, insbesondere wenn deren Anschauungen die eigenen Überzeugungen ,bedrohen').
6. Sie sind gut erkennbar (Hautfarbe und andere Körpermerkmale)." (NOLTING 1993b, S. 170)
Nolting zeigt also, dass sich alle hier dargestellten Phänomentypen anders als mit der spekulativen Annahme einer untergründigen Aggressionsverschiebung erklären lassen. Daraus lässt sich schließen, dass an der Frustrations-Aggressions-Theorie weniger die als vorhanden postulierte und danach ,verschobene' Aggression relevant ist - denn in Noltings Analyse der "Aggression mit Schuldzuschreibung in akuten Frustrationssituationen" wird ja sogar darauf hingewiesen, dass aus dem Verweis auf Schuldige erst das Aggressionsbedürfnis erwächst. Eine Konsequenz der Nolting´schen Darstellung ist, dass man sich nicht auf der Annahme einer existierenden ,verschobenen' Aggression ,ausruhen', sondern kritisch analysieren sollte, welcher Nutzen von den betreffenden Personen aus den jeweiligen ,Sündenböcken' gezogen wird und wie dieser anderweitig erfüllt werden könnte.
© 2002, Susanne Lin
Überarbeitete Fassung aus:
Susanne Lin: Vorurteile überwinden - eine friedenspädagogische Aufgabe. Grundlegung und Darstellung einer Unterrichtseinheit. Beltz-Verlag, Weinheim und Basel 1999, S. 29 - 138.
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