Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Das gilt aus Sicht der regierenden Kreise insbesondere dann, wenn das Volk gerade ausgetauscht wird. Seit Monaten kommt der Gießener Stadtteil Rödgen nicht aus den Schlagzeilen. 4000 Asylbewerbern stehen 1800 Einheimische gegenüber. Nein, sie stehen nicht, sie ducken sich. Sie bleiben lieber im Haus, wenn es möglich ist. Die Berichte über die anwachsende Kriminalität lesen sie besser in der Zeitung als sie selbst zu erleiden: Drohungen, Einbrüche, Raubüberfälle oder sexuelle Belästigungen prägen immer stärker den Alltag des einst friedlichen Wohngebiets.
Es sind jedoch nicht nur die Bürger, die zur Zielscheibe der ungebetenen Gäste werden. Bis zu sieben Mal mußte die Feuerwehr pro Nacht wegen meist mutwillig ausgelöster Fehlalarme anrücken, bis eine Notrufumleitung zum privaten Wachdienst eingerichtet wurde, der seither den Sachverhalt vor Ort überprüft. Als „Dank“ wurden die anrückenden Einsatzwagen schon mal mit Steinen beworfen. In der Nähe der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (HEAE) vorbeifahrende Züge der Vogelsbergbahn wurden von Schottersteinen getroffen, eine der sehr robusten Fensterscheiben ging dabei zu Bruch. In der Nähe eines Bahnübergangs wurden eine Eisenplatte und ein Holzscheit auf das Gleis gelegt. Sie konnten erst dreißig Sekunden vor der Durchfahrt eines Zuges von Bundespolizisten entfernt werden. Da die Taten aus größeren Gruppen heraus begangen wurden und trotzdem nach „Einzeltätern“ gesucht wird, gestalten sich die Ermittlungen schwierig.
Beim zuständigen Regierungspräsidium versucht man eine Erklärung für den steten Anstieg von Gewalt und Randale zu finden. Demnach könnten die Vorfälle mit den »verstärkten Abschiebebemühungen« in Verbindung stehen, wie eine Sprecherin mitteilte. Übrigens: Das Wort „Bemühungen“ ist in Arbeitszeugnissen nicht gern gesehen, weil es für völliges Versagen im Beruf steht.
Regierungspräsident Dr. Lars Witteck (CDU) läßt jedoch nicht nur durchsichtige Ausreden verkünden. Manchmal geht er sogar in die Offensive. Bei einer Veranstaltung des CDU-Kreisverbands zur Flüchtlingssituation in Gießen im Bürgerhaus Kleinlinden brannte regelrecht die Luft. Das lag vor allem daran, daß sich zahlreiche kritische Bürger eingefunden hatten. Für den Regierungspräsidenten war das Anlaß zu behaupten,
Deutschland als einem der „reichsten Staaten der Erde“ mit einer »verfetteten und sklerotischen« Bevölkerung sei die Konfrontation mit dem Elend der Welt durchaus zuzumuten. Zurufe aus dem Publikum parierte er mit Begriffen wie „sozialgestörte Einzelgänger“.