Es geht natürlich weiter:
Flüchtlingsdebatte:Primitive Reflexe
In der deutschen Flüchtlingsdebatte erleben Rüdiger Safranski und ich Beißwut, Polemik und Abweichungshass. Eine Antwort auf die Kritiker
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DIE ZEIT Nr. 11/2016, 3. März 2016
Es gibt in den Sozial- und Politikwissenschaften seit Langem ein gewisses Bedauern darüber, dass man mit Gesellschaften, Kulturen und Staaten im Ganzen keine kontrollierten Experimente durchführen kann. Stets bleibt man auf die Beobachtung von Originalgeschehnissen aufgrund wirklichkeitsbildender Entscheidungen angewiesen, ohne eine vergleichbare Zweitwirklichkeit studieren zu können, in der alternative Entscheidungen zu anderen Geschehnissen führen würden.
Klügere Historiker kennen das Bedürfnis nach Konjektural-Geschichte. Sie befriedigen es gelegentlich, indem sie die Frage "Was wäre gewesen, wenn" mit rationalen Spekulationen über andere Verläufe beantworten. Freiere Hand hinsichtlich der Plastizität des Zufälligen in der Geschichte haben ironiebegabte Romanciers, die dem So-und-nicht-anders-gewesen-Sein der wirklich gewordenen Dinge den Kredit entziehen und aus den Bausteinen des Faktischen ganz andere Geschichten zusammensetzen – wie es [Links nur für registrierte Nutzer] und Simon Leys in der geistvollen Novelle [Links nur für registrierte Nutzer]vorgeführt haben. Sie verstanden sich darauf, zu enthüllen, in welch eklatantem Maß das Reale selbst variantenträchtig ist.
Man darf es als eine Ironie der Ideengeschichte ansehen, wenn heute mehr als ein Grund erkennbar wird, warum man sich heutzutage erneut mit den Pionieren der "materialistischen Psychologie" in der frühen Sowjetunion, namentlich Pawlow und Bechterew, befassen sollte. Vergessen wir für einen Moment, was die meisten ohnehin nicht wussten: dass Pawlow einer der größten Tierquäler der Menschheitgeschichte war. Halten wir uns an das Bekannte: Er war der Entdecker eines der mächtigsten psycho-physischen "Mechanismen", die jemals experimentell offengelegt wurden. [Links nur für registrierte Nutzer] wurde neben Laika, der Weltraum-Hündin, und neben Andy Warhols Cola-Dosen zu einer Welt-Ikone des 20. Jahrhunderts, weil er die Darstellung des Kausalzusammenhangs zwischen Zeichenwelt und Physiologie in die Öffentlichkeit trug. Pawlows Hund ist ein so tragisches und betrogenes Tier wie [Links nur für registrierte Nutzer] war. Dass ihm der Speichel fließt, nur auf das Zeichen hin, das anfangs die Fütterung begleitete, auch wenn es später kein Futter mehr gab, enthält einen abgründigen Hinweis auf die symbolabhängige Dressierbarkeit von lernfähigen Lebewesen. Die Physis wird von der Zeichensphäre überlistet.
Wendet man sich, mit diesen Hinweisen vor Augen, dem zu, was sich in Deutschlands aktueller "Debattenkultur" abspielt, so begreift man unmittelbar das Drama des Kulturverlusts, das sich in den "sozialen Medien" wie in den vermeintlichen Qualitätsmedien täglich abrollt. Nimmt man zur Kenntnis, dass Kultur von bedingten Reflexen getragen wird und dass Zurückhaltung den Basishabitus von höherer Kultur in genere darstellt, so liegt auf der Hand, wie sehr die Aufheizung des Debattenklimas in unserem Land auf eine Tendenz zur Entkulturalisierung hindeutet.
In einer anderen Terminologie würde man vom Einbruch der schlechten Spontaneität sprechen. Schlecht ist Spontanes dann, wenn es die Brutalisierung des verbalen und physischen Verkehrs unterstützt. Man darf davon überzeugt sein, Pawlow hätte die Entwicklung der deutschen Debatten mit großem Interesse betrachtet. Er würde sich in seiner reflexologischen Grundansicht bestätigt fühlen, sofern es tatsächlich oft nichts anderes als Auslöser-Zeichen sind, die bei Teilnehmern an aktuellen Diskussionen den Speichel fließen lassen, sollte es auch bereits digitaler Speichel sein. Bei manchen semantischen Stimuli wie "Grenze", "Zuwanderung" oder "Integration" ist die Futtererwartung des erfolgreich dressierten Kulturteilnehmers so fest fixiert, dass der Saft sofort einschießt. Solange auf Foren genässt wird, darf man vermuten, die Absonderungen blieben harmlos. Pawlows Hund hat ja nie jemanden gebissen, selbst wenn man ihn mit leeren Signalen abspeiste.
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