Zitat von
Apostate
Warum ausgerechnet Katyn?
Nachsatz:
Als im September 1939 deutsche und sowjetische Truppen von zwei Seiten in Polen einmarschierten, gerieten 15 000 polnische Offiziere in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Ein halbes Jahr später wurden sie auf höchste Weisung aus Moskau hinterrücks erschossen. Doch erst 1942 entdeckten Waldarbeiter einzelne Massengräber bei Katyn und weitere Jahrzehnte mußten vergehen, ehe auch alle anderen Todesstätten aufgespürt werden konnten. Motive und Hintergründe blieben jedoch im dunkeln, denn von offizieller Seite wurde jede Verantwortung abgestritten.
Erst der russische Diplomat und Historiker Valentin Falin deckte die Wahrheit in seinem Buch „Konflikte im Kreml” auf.
Valentin Falin, 1926 in Leningrad geboren, war dreißig Jahre im sowjetischen Außendienst tätig, u. a. als Leiter verschiedener europäischer Abteilungen des Außenministeriums. 1970/71 arbeitete er mit Egon Bahr die Grundzüge des Moskauer Vertrages und des Vier-Mächte-Abkommens über Berlin aus. 1971-78 Botschafter in Bonn. 1986-88 Direktor der Presseagentur »Nowosti«. 1988-91 Leiter der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees. Falin lebt in der Nähe von Hamburg.
Auszug S. 105-119:
»Im März 1989 war das Maß meiner Geduld und Zurückhaltung voll. In Warschau zeichneten sich im Falle Katyn einseitige Schritte ab, die Zuständigen in Moskau aber rührten keinen Finger. Die Polen konnte und mußte man verstehen. Die Kommission aus Wissenschaftlern der UdSSR und der VR Polen hatte in fast zwei Jahren nicht einmal mit der Erörterung des Problems begonnen. Dabei war sie durch eine Entscheidung Michail Gorbatschows und Wojciech Jaruzelskis mit dem Auftrag ins Leben gerufen worden, die weißen Flecken in den sowjetisch-polnischen Beziehungen zu beseitigen.
Meine Denkschrift dazu ging an das ZK der KPdSU und mit einem kurzen Begleitbrief an Michail Gorbatschow persönlich. Im Sommer 1996 stellte mir das Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation eine Kopie vom Original zur Verfügung. Der Begleitbrief an den Generalsekretär fehlte jedoch. Vielleicht ist er verlorengegangen oder nicht in diesem Archiv abgelegt worden.
Ich teilte Gorbatschow und seinen Kollegen im Politbüro mit, Polen plane, eine Urne mit der Erde von der Grabstätte der polnischen Offiziere in Katyn auf den Warschauer Zentralfriedhof zu überführen. Dementsprechend sollte auch die Inschrift auf dem vor Jahren in Warschau aufgestellten Denkmal verändert werden. Die Verantwortung für den Tod der Offiziere wurde nun der sowjetischen Seite angelastet. Der Generalsekretär erhielt auch Kenntnis von weiteren Schritten der polnischen Seite, die die Umstände der Tragödie von Katyn aufklären wollte, da wir keine Bereitschaft zeigten, dieses Problem gemeinsam anzugehen.
Es gab allen Grund zur Sorge, daß unsere Politorthodoxen das Vorgehen Polens als Druck auf die sowjetische Führung auslegen und Gorbatschow zu einem Protest bewegen könnten. Deshalb schlug ich vor, bei der symbolischen Überführung der sterblichen Überreste aus Katyn nach Warschau behilflich zu sein. Am Ende der Denkschrift warnte ich davor, anzunehmen, das Problem sei vom Tisch.
Und wenn wir unsere Ausweichtaktik nicht aufgäben, könne man eine weitere Zuspitzung erwarten.
In meinem Brief an Michail Gorbatschow erinnerte ich ihn daran, daß die Polen uns eine Antwort auf einige für die sowjetische Seite wichtige Fragen schuldeten. Was war aus unseren Soldaten und Offizieren geworden, die 1920/21 von Pilsudskis Truppen gefangengenommen wurden? Etwa vierzigtausend Mann waren damals wie vom Erdboden verschluckt. Nach Angaben unseres Generalstabes waren fast alle in polnischen Lagern zu Tode gequält worden.
Ohne selbst einen Standpunkt zu äußern, beauftragte der Generalsekretär Eduard Schewardnadse, Wladimir Krjutschkow und mich, gemeinsam Vorschläge zu Katyn einzubringen. Sie wurden am 22. März 1989 vorgelegt und gingen etwas weiter als die Überlegungen, die ich zwei Wochen zuvor geäußert hatte. Die Dreiergruppe sprach, sich dafür aus, den Polen mitzuteilen, wie sich die Vorgänge in der Realität abgespielt hatten und wer konkret die Verantwortung dafür trug.
Ich empfehle dem geneigten Leser dieses Dokument im Wortlaut. Es gibt neben allem anderen auch eine Vorstellung davon, wie politische Beschlüsse in der Herrschaftszeit Michail Gorbatschows zustande kamen.
»Geheim
An das ZK der KPdSU
Zum Fall Katyn
Je näher die kritischen Daten des Jahres 1939 rücken, desto heißer wird in Polen über die sogenannten weißen Flecken in den Beziehungen zur UdSSR (und zu Rußland) debattiert. In den letzten Wochen konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf Katyn. In einer Reihe von Veröffentlichungen, die sowohl aus der Feder von Personen stammen, die für ihre oppositionelle Haltung bekannt sind, als auch von Wissenschaftlern und Publizisten, die der polnischen Führung nahestehen, wird offen erklärt, am Tod der polnischen Offiziere sei die Sowjetunion schuld; die Erschießungen hätten im Frühjahr 1940 stattgefunden.
Der Pressesprecher der polnischen Regierung, Jerzy Urban, hat diesen Standpunkt in einer Verlautbarung faktisch zur offiziellen Regierungsposition erklärt. Dabei wird allerdings die Schuld für das Verbrechen von Katyn dem "Stalinschen NKWD" und nicht dem Sowjetstaat angelastet.
Die Taktik der Regierung ist erklärbar - sie versucht, den Druck abzufangen, der entstanden ist, weil das Versprechen, den Fall Katyn aufzuklären, bisher nicht erfüllt wurde. Dies ist in gewissem Maße auch als Druck auf uns zu verstehen, da die Kommission sowjetischer und polnischer Wissenschaftler, die für die Aufklärung der "weißen Flecken" gebildet wurde, bei diesem Thema nun schon zwei Jahre lang auf der Stelle tritt.
Der sowjetische Teil der Kommission verfügt über keinerlei zusätzliche Materialien, die die "Burdenko-Version" von 1944 belegen. Andererseits haben unsere Vertreter auch keine Vollmacht, die im Grunde genommen schwerwiegenden Argumente der polnischen Seite zu erörtern.
Neben der Erklärung Jerzy Urbans werden in Warschau weitere Schritte erwogen, mit denen man die eigene Öffentlichkeit irgendwie zufriedenstellen will. So besteht unter anderem die Absicht, sterbliche Überreste (eine Urne mit Erde) aus Katyn symbolisch auf den Warschauer Zentralfriedhof zu überführen und zugleich die Inschrift auf dem dort errichteten Gedenkstein entsprechend zu ändern.
Je weiter diese Sache hinausgezögert wird ‑ das zeigt eine Lageanalyse ‑, desto eindeutiger wird der Fall Katyn zu einem Stein des Anstoßes nicht nur für die sowjetisch-polnischen Beziehungen in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart. In der Broschüre "Katyn", die 1988 unter der Schirmherrschaft der Kirche erschien, heißt es, Katyn sei eines der schrecklichsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. In anderen Veröffentlichungen ist der Gedanke zu finden, solange die Tragödie von Katyn nicht völlig aufgeklärt sei, könne es zwischen Polen und der UdSSR keine normalen Beziehungen geben.
Mit dem Thema Katyn werden jetzt selbst Fragen des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges und des Überfalls Deutschlands auf Polen künstlich überspielt. Der Hintergrund dieser Kampagne ist klar - den Polen soll eingeredet werden, die Sowjetunion sei keineswegs besser, sondern eher noch schlechter als das damalige Deutschland; sie trage keine geringere Verantwortung für den Ausbruch des‑ Krieges und sogar für die militärische Zerschlagung des damaligen polnischen Staates.
Der Fall Katyn kann - und je mehr Zeit vergeht, desto akuter wird die Gefahr - in Polen das Interesse an der Aufklärung des Schicksals weiterer Tausender internierter polnischer Offiziere rasch anwachsen lassen, deren Spuren sich in der Gegend von Charkow und Bologoje verlieren. Bisher haben wir der polnischen Seite auf diese zusätzlichen Fragen keine zufriedenstellende Antwort gegeben.
Eine Erörterung dieser tragischen Fragen der Vergangenheit mit der Führung der Volksrepublik Polen und der polnischen Öffentlichkeit ist offenbar nicht zu umgehen. Die Zeit arbeitet hier nicht für uns. Vielleicht wäre es zweckmäßiger zu sagen, was wirklich geschehen ist, wer an den Vorfällen konkrete Schuld trägt, und damit die Sache zu beenden. Ein solches Vorgehen richtet letzten Endes weniger Schaden an, als wenn wir weiterhin untätig bleiben.
Der Entwurf eines Beschlusses des ZK der KPdSU liegt bei.
E. Schewardnadse V. Falin W Krjutschkow
22. März 1989«
Eigentlich brauchten Historiker nicht bis auf Falins entlarvende Dokumentation zu warten. „Burdenkos-Katynlüge“ war schon früher zu erkennen gewesen:
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