NZZ / 24.12.2019 / von Jeronim Perović (Auszug)
Vor 40 Jahren marschierten die Russen in Afghanistan ein – und die Tragödie nahm ihren Anfang. Doch wie kam es überhaupt dazu?
Im April 1978 ergriffen afghanische Kommunisten die Macht im Land. Der Putsch war der Prolog zum sowjetischen Einmarsch eineinhalb Jahre später – und damit zu Chaos und Gewalt, die bis heute kein Ende nehmen.
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Zerstrittene Kommunisten
Zeitgleich eskalierten die Spannungen zwischen den zerstrittenen Fraktionen der kommunistischen Volkspartei. Die radikalere, von Präsident Taraki und Aussenminister Amin angeführte Fraktion, «Khalq» (Volk), ging daran, Regierung und Armee von den Anhängern der «Parcham» (Fahne), die unter der Leitung von Babrak Karmal stand, zu säubern. Vizepräsident Karmal hatte musste bereits im Juli 1978 das Land verlassen. Er wurde als Botschafter Afghanistans in die Tschechoslowakei versetzt, tauchte dort jedoch mit seiner Familie unter, um sich vor einem Killerkommando in Sicherheit zu bringen, das Taraki entsandt hatte.
Trotz Repression und einem mit grossem Aufwand betriebenen Personenkult war die Position Tarakis keineswegs gefestigt. Im Hintergrund zog
Amin, der nun auch die
Geheimpolizei leitete, die Fäden. Taraki sah sich zunehmend bedroht und plante, in Abstimmung mit Moskau, Mitte September 1979 die Absetzung Amins. Doch dieser kam ihm zuvor, liess den Präsidenten festnehmen und kurze Zeit später ermorden. Gleichzeitig ging
Amin gegen die Anhänger Tarakis vor und liess Tausende verhaften oder
hinrichten.
Das war für die Sowjetunion ein Schlag ins Gesicht. Taraki war ein enger Verbündeter Moskaus und persönlicher Freund des Parteichefs Leonid Breschnew.
Amin dagegen galt als
unberechenbar. Beunruhigend war aus sowjetischer Sicht vor allem der Umstand, dass Amin die Macht ergriffen hatte, ohne Moskau in Kenntnis gesetzt zu haben.
Afghanistan versank mit jedem Tag weiter in
Krieg und
Chaos. Das Land, in das die
Sowjetunion über
drei Jahrzehnte lang
Millionen investiert hatte, schien zu entgleiten. Weite Teile Afghanistans standen unter der Kontrolle aufständischer Milizen. Über die kaum zugänglichen afghanisch-pakistanischen Gebirgspässe wurden die Aufständischen mit Waffen, Nahrung und Ausrüstung versorgt. Bereits im Sommer 1979 begannen die USA, über
CIA-Kanäle verdeckte Militärhilfe an die Mujahedin zu leisten. Unterstützt wurden diese auch von weiteren Staaten, unter ihnen
Saudiarabien und
Pakistan.
Der Weg in die Militärintervention
Trotz der prekären Lage scheute Moskau eine militärische Intervention lange. Der entschlossenste Gegner einer Intervention war Ministerpräsident Alexei Kosygin, der vor Tarakis Sturz mehrere Begehren des afghanischen Präsidenten um sowjetische Militärunterstützung abgelehnt hatte.
Nach der Machtergreifung von Amin kippte die Stimmung im Moskauer Politbüro. Wichtig dürfte eine von der örtlichen Agentur des sowjetischen Geheimdiensts
KGB in Kabul verbreitete Meldung gewesen sein, bei
Amin handle es sich um einen
amerikanischen Agenten. Amin war einer Kontaktaufnahme mit den Amerikanern tatsächlich
nicht abgeneigt, doch sein Ziel war, durch Androhung eines «Frontenwechsels» den Druck auf Moskau zu erhöhen. Er wollte so endlich die dringend benötigte militärische Unterstützung erhalten.
Amins Plan ging nicht auf, er spielte der Kabuler KGB-Agentur in die Hände. Weil diese merkte, dass auch ihr Chef in Moskau, Juri Andropow, eine Militärintervention in Betracht zog, zeichnete sie die Situation in ihren Berichten in dramatischen Farben:
Amin wurde als CIA-Spion bezeichnet, der Afghanistan den Amerikanern als Basis zur Verfügung stellen wolle. Das beunruhigte Moskau zu diesem Zeitpunkt auch deshalb, weil die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion massiv zugenommen hatten.
Ein Scheitern der bilateralen Verhandlungen über die Begrenzung der atomaren Mittelstreckenraketen zeichnete sich ab. Zudem näherte sich Washington dem sowjetischen Erzfeind China an, und die
amerikanische Marine drang in den
Persischen Golf ein. Dort sollte sie, so eine Fehlwahrnehmung in Moskau, möglicherweise eine
Invasion Irans vorbereiten.
All diese Entwicklungen gaben den konservativen Kräften im Politbüro Auftrieb: Neben dem KGB-Vorsteher Andropow drängten Verteidigungsminister Dmitri Ustinow und Aussenminister Andrei Gromyko den alternden Parteichef Breschnew dazu, in eine
Intervention einzuwilligen.
Am 12. Dezember 1979, am selben Tag, als die Nato die
Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in
Europa beschloss, traf das Politbüro den folgenschweren Entscheid, eine
Spezialeinheit nach Kabul zu entsenden, um
Amin zu
liquidieren.
Nachdem am 17. Dezember ein Mordanschlag auf Amin fehlgeschlagen war, begann am 25. Dezember eine grossangelegte Invasion sowjetischer Truppen. Spezialeinheiten stürmten am
27. Dezember den Präsidentenpalast, in dem sich Amin verschanzt hielt, und
töteten diesen. Als neuen Präsidenten installierte Moskau
Babrak Karmal, der zwei Wochen zuvor heimlich ins Land geschleust worden war.
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