AG Globalisierung & Krieg Hintergrundpapier Nr. 1
Der Ukraine-Krieg und seine geopolitischen Hintergründe
Autor: Peter Wahl
5. Die ukrainische Eskalationsgeschichte
22 Die
ukrainische Eskalationsgeschichte ist zum einen Teil der
weltpolitischen Konstellation, wie sie hier skizziert wurde. Die Ukraine soll
seit langem zum
Außenposten in der
Globalstrategie der
USA ausgebaut werden. Zum anderen hat sie auch ihre
eigene Dynamik.
Der für die Konfliktgeschichte entscheidende Ausgangspunkt ist das in 4.3. erwähnte Problem, dass es nach dem Ende der UdSSR an der Peripherie Russlands in den 14 neu entstandenen Staaten23 russische Minderheiten mit entsprechendem Konfliktpotential gab, 24 sowie in Kombination damit die US-Strategie der Eindämmung Russlands.
In jungen Staaten gibt es zudem die generelle Tendenz zu starkem
Nationalismus. In der Ukraine ist er besonders aggressiv, und erhielt nach dem
Maidan-Umsturz offiziellen Status.
Russisch wurde als Amtssprache
verboten, auch andere Minderheiten, wie die ungarische kamen unter Druck einer rigorosen Ukrainisierung.
Die geschichtsrevisionistische Erzählung vom sog. Holodorm, 25 sowie die Heroisierung von Nazi-Kollaborateuren und Verantwortlichen für Judenpogrome wurden zum Nationalmythos. Der
Maidan, anfangs als
Protest gegen
Korruption und
Oligarchen durchaus nicht ohne Legitimität, geriet bald unter rechtsextreme Hegemonie und wurde rasch
geopolitisch instrumentalisiert.
Der damalige deutsche Außenminister
Westerwelle und die
EU-Außenbeauftragte Ashton traten auf dem Maidan auf.
Am stärksten involviert waren die USA mit der damaligen
Botschafterin Nuland, berühmt geworden durch ihre Verachtung gegenüber Versuchen der EU
(„Fuck the EU“), eigenständige Interessen in der Krise 2014 zu verfolgen.
Eine vernünftige politische Lösung, unter Beteiligung der französischen und deutschen Außenminister, nämlich Neuwahlen binnen einiger Monate später, wurde durch den
Umsturz zunichte gemacht. Dennoch erkannte der Westen das neue Regime in Kiew
sofort an. Anlass dieser Konfliktetappe war der
EU-Assoziierungsvertrag. Das Land war jahrhundertelang Teil des russischen Reiches. Der Vertrag erzwingt aber eine scharfe Kappung unzähliger historisch gewachsener Verbindungen.
Ein legitimes Interesse Russland, in einem
dreiseitigen Verständigungsprozess auch seine Interessen eine gewisse
Berücksichtigung zu gewähren, wie das das z.B. bei der Trennung Großbritanniens von der EU der Fall war, wurde von Brüssel
ignoriert.
Der
Gegenschlag folgte dann mit dem Unabhängigkeitsreferendum auf der Krim, rechtlich mit dem Selbstbestimmungsrecht gerechtfertigt, 26 und die anschließende Integration der Halbinsel in die russische Föderation. Die Regie dafür wurde in Moskau geführt. In Zentrum stand dabei das russische Interesse, den Flottenstützpunkt in Sewastopol nicht in die Hände der NATO fallen zu lassen. Ein Blick auf die Landkarte zeigt auch ohne Studium an der Bundeswehrakademie, dass der Hafen der Schlüssel zur militärischen Kontrolle des nördlichen Schwarzen Meeres ist.
In einem informellen Referendum im Donbass, vergleichbar etwa der Abstimmung, wie sie
Katalonien durchgeführt wurde, erklärten sich
Donezk und
Luhansk für unabhängig. Die Regierung Poroschenko erklärte die Separatisten zu Terroristen und
schickte Armee und rechtsextreme Freischärler. Russland unterstützte die Separatisten mit Waffen und Beratern, was mit einer militärischen Niederlage Kiews endete.
Die damaligen Kräfteverhältnisse wurden dann in dem Minsker Abkommen (Minsk II) festgeschrieben. Kiew
blockierte von Anfang an die
Umsetzung von Minsk II, und von seinen westlichen Garantiemächten Frankreich und Deutschland kam außer Worten
keine praktische Initiative. Stattdessen gab es im Donbass einen Krieg niedriger Intensität, dem 14.000 Menschen zum Opfer fielen. In der Ukraine wird also nicht erst seit dem 24. Februar geschossen.
Die
Haltung des Westens zu Minsk II
ermutigte Kiew eine ihm genehme Lösung der Probleme vorzubereiten. Im Dekret Nr. 117 des ukrainischen Präsidenten vom 24.3.2021 wird die
Vorbereitung von Maßnahmen angekündigt, um
‚die vorübergehende Besetzung‘ der Krim und des Donbass zu beenden.
Die Regierung wurde beauftragt, einen entsprechenden ‚Aktionsplan‘ zu entwickeln.“ Die Reaktion Moskaus war jene Doppelstrategie, die der Westen schon länger für sich reklamiert:
Dialog und Stärke. So forderte Putin einerseits den Stopp der NATO-Ausdehnung, keine Stationierung von Angriffswaffensystemen an den russischen Grenzen und eine Rückführung der NATO-Infrastruktur auf den Stand von 1997, als die NATO-Russland Akte vereinbart wurde. Zum anderen ließ er Truppen an der ukrainischen Grenze aufmarschieren.
Die USA beharrten kompromisslos auf der
Verweigerung von Sicherheitsgarantien für Moskau und demonstrierten so einmal mehr, dass sie nicht bereit sind, das Prinzip der gleichen und ungeteilten Sicherheit zu akzeptieren. Darauf folgte dann als
Eskalationsstufe neuer Qualität der russische Angriff.
Putin rechtfertigt ihn mit seiner Bedrohungswahrnehmung:
„Das nennt man, das Messer an der Kehle zu haben.“ Es kann sein, dass er das tatsächlich so sieht, es kann auch sein, dass es nur vorgeschoben ist, so wie Tony Blair vor dem Angriff der Koalition der Willigen auf den Irak behauptete, Saddam Hussein könne innerhalb 45 Minuten Mittelstreckenraketen mit biologischen oder chemischen Sprengköpfen abschießen.
Wie auch immer, hier stellt sich ein Grundproblem internationaler Beziehungen unter den gegenwärtigen Umständen: die Rolle von
Bedrohungswahrnehmungen und
Feindbildern.
Polen und Balten fühlen sich von Russland bedroht. Israel fühlt sich vom Iran bedroht. China fühlt sich von den USA bedroht. Der Iran fühlt sich von den USA bedroht. Taiwan fühlt sich von Peking bedroht. Armenien fühlt sich von Aserbeidschan bedroht.
Man kann diese Liste noch lange fortsetzen. In allen Fällen kann es sein, dass etwas dran ist, ebenso wie es möglicherweise Propaganda sein kann - oft wohl auch eine Mischung aus beidem. Die in Abschnitt 2. und 3. skizzierten Verhältnisse führen also generell zu einem
Klima des Misstrauens in den
internationalen Beziehungen.27
Das kann man nicht mit Worten abbauen nach dem Motto Aberwir-wollen-euch-doch-gar-nichts-tun, oder ist-doch-in-Wirklichkeit-nicht-so-schlimm, sondern geht nur durch Taten. D.h. hier wird die Bedeutung einer Politik vertrauensbildender Maßnahmen deutlich, die Schärfe und Spannungen aus dem System herausnehmen.
Wenn Russland meint, die NATO an ihren Grenzen sei eine Bedrohung, was spricht dann eigentlich dagegen, dass die NATO sich den Grenzen fernhält? Überhaupt nichts, es sei denn die NATO verfolgt tatsächlich die Absicht, Spannungen zu erzeugen und Russland unter Druck zu setzen.
6. Kompromissfrieden statt Sieg und Rache
Zu jedem Zeitpunkt in einer Eskalationsspirale gibt es Alternativen. Die gab es zwischen Dezember 2021 und dem 24. Februar, als die Situation sich zuspitzte. Und es gibt sie auch, nachdem der Krieg begonnen hat, vorausgesetzt die entscheidenden Akteure haben den politischen Willen dazu. Gegenwärtig fordern Teile der Friedensbewegung von ihren Regierungen Waffenlieferungen an die Ukraine und/oder scharfe Sanktionen u.ä. Schritte gegen Russland, die von den NATO-Regierungen aber ohnehin schon längst unternommen werden. Sie begeben sich damit ins Schlepptau der NATO. Gefragt ist dagegen eine Friedenspolitik, die „vom systemischen Charakter der internationalen Beziehungen und damit einem dritten Standpunkt ausgeht.“ 28
Entscheidendes Kriterium für eine dritte, autonome Position jenseits von NATO und Russland muss sein, was das Beste für die Menschen in der Ukraine ist. Und das sind Maßnahmen, die so schnell wie möglich zum Ende des Krieges führen. Gefragt ist eine Paketlösung, deren Kern darin bestünde, die Kampfhandlungen zu beenden und die russischen Truppen zurückzuziehen, und die Russland Sicherheitsgarantien gibt und Verhandlungen zur Lösung der übrigen strittigen Fragen, wie Status des Donbass etc. beginnt. Und es gilt, die Zeit nach dem Ende des Krieges in den Blick zu nehmen.
Mit der Klimakatstrophe steht die Menschheit vor einer historisch einmaligen Herausforderung. Sie ist nur zu meistern, wenn an die Stelle von Machtpolitik, Rüstungswettlauf und Kriegen, eben Entspannung, Koexistenz und Kooperation treten.
Wir werden uns in weiteren Hintergrundpapieren mit Themen beschäftigen, die im Rahmen des vorliegenden Textes nicht oder nur andeutungsweise behandelt werden konnten. So z.B. mit den Zusammenhängen zwischen Binnenverfasstheit von Staaten und deren Außenpolitik, darunter die Imperialismusfrage, der Sicht des Globalen Südens und die Auswirkungen der Großmachtpolitik und des Ukraine-Krieges auf ihn, sowie der Rolle Chinas.
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