Sehr geehrte Frau Kekilli,
im Interview mit Spiegel Online vom 06. März 2007 beschweren Sie sich zu Recht, dass sie - in Deutschland geboren und eingebürgert - immer noch nicht akzeptiert und willkommen sind. Trotz guter Ausbildung, perfekter Sprachkenntnisse, überragendem beruflichen Erfolg, herausragender Verdienste für die Kultur.
Anstatt daraus konsequent den Schluss zu ziehen, dass die Deutschen offenbar eine nicht integrationsfähige Gesellschaft bilden, machen Sie den (Mit-)Schuldigen da aus, wo ihn alle ordentlichen Deutschen für alles und jedes verorten: der böse Muselmane ist schuld. Ich möchte es Ihnen entgegen schreien, weil soviel Blindheit kaum erträglich ist: es sind nicht die gläubigen Muslime schuld. Es sind noch nicht mal die Islamisten schuld. Es ist die deutsche Schuld, Frau Kekilli.
Wie sonst soll es erklärlich sein, dass Sie aus England Rollen für “Einheimische” bekommen, während sie in Deutschland immer nur Türkinnen mit Kopftuch spielen sollen. In England gibt es nicht nur ähnlich viele Muslime, sie sind auch in der Gesellschaft präsenter, ihr Auftreten in der Medienöffentlichkeit wird nicht von ”moderat” erscheinenden Aleviten geprägt, sie haben eigene Parteien gegründet (man stelle sich den Aufschrei in Deutschland vor) und England war Opfer eines Terroranschlages, der von den Tätern mit dem Islam begründet wurde. Nach Ihrer Logik müsste das bedeuten, dass Sie in England erst recht nur stereotype Rollenangebote bekommen.
Oder anders herum betrachtet: Wären Sie nicht so unglaublich deutsch und daher mit wenig Empathie für andere ausgestattet, würden sie feststellen, dass das Gefühl des Nichtakzeptiertwerdens und Ausgegrenztsein in Deutschland wohl von jedem geteilt wird, der nach den strengen deutschen Mehrheitsmaßstäben “nichtdeutsch” aussieht oder “nichtdeutsch” heißt. Der mit einem Akzent spricht. Nicht weiß genug ist. Zu schwarzhaarig ist. Oder sonst wie nicht ins Schema passt. Ein indischstämmiger Schauspieler wird hier immer nur den Rosenverkäufer spielen, ein Kenianer den Drogenhändler, ein Chinese den Restaurantbesitzer oder Schutzgelderpresser.
Die Ursache für das Gefühl der immerwährenden Fremdheit liegt in der urdeutschen Abwehr alles Fremden und Anderen begründet. Und diese Abwehr ist so fest verankert, der Begriff des “Fremden” so weit gefasst, dass niemand, der nicht christlich-deutschstämmig ist, jemals in unserer Mitte ein Zuhause finden wird. Das Wort, dass unsere Großeltern verwendet haben, um auseinander zu dividieren, wer Anspruch auf vollständige gesellschaftliche Teilhabe hat und wer nicht, das dürfen wir nicht mehr verwenden. Wir verstecken es hinter Bezeichnungen wie “Deutsch-Äthiopier” oder “Deutsch-Türke”, die juristisch falsch und inhaltsleer sind, aber die deutschen Verhältnisse klarmachen: ach, der ist also zweiter Klasse. Das gilt auch für Sie, Frau Kekilli, und es wäre hilfreich, wenn Sie die verständliche Wut darüber dorthin richten, wo sie hingehört. Auf die Mehrheitsgesellschaft, in der Sie gern zuhause wären, die ihnen das aber verwehrt. Trotz perfekter Assimilation. Es hilft nicht, in den Chor der Xenophoben einzustimmen. Wir sind die Kinder und Enkel derjenigen, die Viktor Klemperer als Juden verfolgt haben, obwohl er seit 1912 Protestant war. Sie können sich hier nicht integrieren. Unsere klebrige Faszination für Ihre Abstammung steht dem entgegen, die an uns pappt wie schwarzer Teer und die wir nicht loswerden, nur immer verlagern können, in der ständig enttäuschten Hoffnung, sie endlich abgeschüttelt zu haben.
Möglicherweise sind wir tatsächlich zu lange tolerant gewesen. Tolerant gegenüber eingebürgerten säkularen Türkischstämmigen, die glauben, das Erbe der Shoah nicht mittragen zu müssen. Zu tolerant gegenüber eingebürgerten Ex-Muslimen, die glauben, sie könnten uns herablassend, arrogant und naiv (oder absichtlich) den Neofaschisten in die Hände spielend belehren, wir sollten mit unserer “übertriebenen Betroffenheit” und der “überzogenen Toleranz” gegenüber den gläubigen Muslimen aufhören und die “lächerliche Angst ablegen, als Rassist zu gelten”. Vielleicht hätte man es Ihnen auf die Rückseite der Einbürgerungsurkunde schreiben müssen: “Wer Deutscher wird, übernimmt mit die Verantwortung, die aus der Schuld für den Holocaust erwächst”. Was das bedeutet? Es verbietet Hetze gegen jeden Gläubigen, auch und gerade dann, wenn er seinen Glauben anders und/oder strenger ausübt, als man selbst. Es verbietet, die Angehörigen einer Glaubensgemeinschaft negativ zu markieren, nur weil einige sich nach Maßstäben verhalten, welche die Mehrheit nicht teilen mag, ja noch nicht einmal dann, wenn Einzelne ein schweres Verbrechen begehen. Es verbietet, zum Hass aufzustacheln. Es verbietet - und das kann in Zeiten wie diesen nicht oft genug betont werden - es verbietet, die Schuld für alles, was in der eigenen gesellschaftlichen Gruppe frustrierend oder falsch ist, traurig oder wütend macht, bei der immer gleichen Personengruppe zu suchen. Es verbietet, seinen Frust an einer Personengruppe abzuarbeiten, sie mit Klischees zu überziehen, sie permanent für jede Kleinigkeit zu kritisieren, bis die Menschen so eingeängt und bewegungsunfähig sind, dass sie nicht mehr zu atmen wagen. Es verbietet, jedes kleine Unterscheidungsmerkmal zu isolieren, unter die mediale Superlupe zu legen und zu diffamieren, bis der Träger des Merkmals den letzten Rest Selbstwertgefühl und Würde verloren hat.
All das verbietet es. Man hätte es Ihnen vielleicht bei der Einbürgerung sagen sollen. Denn es erfordert nicht enden wollende Anstrengung. Einen wachen Blick. Den Mut, den Mund nicht zu halten, wenn alle um Sie herum Sie niederschreien und bedrohen.
Denn das tun nicht nur Islamisten, Frau Kekilli, das tun auch Faschisten. Sie sind noch hier, sie waren nie weg. Und sie haben unbehelligt ihre Kinder und Enkel grossgezogen, in ihrem unveränderten Sinn. Die Kinder und Enkel der Nationalsozialisten sind die Leute, die Sie heute nicht in ihre Gemeinschaft lassen wollen. Fragen Sie lieber bei denen, warum das so ist. Fragen sie nicht jene, die - wie Sie selbst - Opfer der deutschen Xenophobie sind, unter ständigem staatlichen und medialen Dauerfeuer stehen und längst nicht mehr das Recht zur freien Meinungsäußerung haben, weil sie bei jedem Wort in eigener Sache als islamistische Fundamentalisten unter Terrorverdacht abqualifiziert und mundtot gemacht werden.
Sogar in Ihrem Bemühen, den Schuldigen außerhalb des gesellschaftlichen Mehrheitssystems zu suchen, dem sie so gerne angehören möchten, agieren Sie so durch und durch deutsch, dass es mich zutiefst rührt. Aber Sie sehen, selbst Ihre “deutschesten” Eigenschaften erlauben Ihnen den Eintritt in diese Gesellschaft nicht.
Ich würde vor Ihnen auf die Knie gehen, damit Sie “die Deutschen” nicht mehr auffordern, “sich stärker einzumischen” oder “nicht mehr wegzusehen”, wenn es um “islamische Missstände” geht. [Ich weiß, dass Sie glauben, sie fordern stabile Demokraten auf, das zu tun. Das sind die Deutschen aber nicht, sie wurden zur Demokratie gezwungen und tragen das Erbe der Faschisten im kulturellen Gepäck. Sie fordern die Kinder und Enkel der Nationalsozialisten auf, Andersgläubige zu diffamieren und durch Ausüben von Druck “im deutschen Sinne” zu verändern. Und spielen dabei mit dem Streichholzbriefchen an der Benzinpfütze, die Sie nicht sehen können, weil Ihnen der nationalsozialistische Familienhintergrund fehlt. Dieses Eintreten ist nicht mutig. Es ist brandgefährlich.
Anstatt im vielstimmigen Chor in pseudoaufklärerischer Dauerkritik “dem Islam” den Spiegel vorzuhalten, könnten Sie Ihr Gefühl des Ausgegrenztseins nutzen, um den Spiegel dahin zu richten, wo er hingehört: auf die integrationsunwillige deutsche Mehrheitsgesellschaft. Es ist allerhöchste Zeit und es braucht dringend erfolgreiche und prominente Menschen wie Sie, die dies lautstark thematisieren. Um die fremdenfeindliche Hetze kümmern wir uns dann schon selbst. Dazu bedarf es erfahrungsgemäß keiner gesonderten Aufforderung.
Mit freundlichen Grüßen
Annette Böcker - Köln im März 2007