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Thema: Sektiererischer Nationalismus inBosnien-Herzegowina

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    Standard Sektiererischer Nationalismus inBosnien-Herzegowina

    n: Ethnos-Nation 1 (1993) H. 2, S. 15-24.
    Die tieferliegenden Ursachen für den gegenwärtigen Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina decken sich im Grunde mit den Wurzeln vergleichbarer Aufstände, zu denen es in der wechselvollen Geschichte dieses Gebiets in den vergangenen beiden Jahrhunderten unter verschiedenen Fremdherrschaften mehrfach gekommen ist: Die serbische Befreiungsbewegung war nicht bereit zuzulassen, daß das katholische Mitteleuropa ihr Land als Versuchsfeld für eine große Auseinandersetzung mit Rußland benutzte. Als 1805 aus der Umgebung Sarajevos erstmals in der modernen Geschichte eine serbische Rebellion gemeldet wurde, erlangten die Dörfer Butmir, Hadzici, Rakovica, Kulijas, Drazgometva, Pazaric, Skanska, Vogosca, Nahorevo, Crna Rijeka traurige Berühmtheit als Ziele militärischer Gegenschläge und Strafmaßnahmen.(1) Dem Leser von Berichten über den heutigen Bürgerkrieg in diesem Gebiet werden diese Namen bekannt vorkommen. Denn genau diese Dörfer bilden jetzt den serbischen Belagerungsring um die bosnische Hauptstadt. 1805 rebellierten unter der Führung von Karadjordjevic die bosnischen Serben gemeinsam mit denen des Mutterlandes. Seit dieser Zeit verzeichnet die Geschichte dieser Provinz 14 serbische nationale Erhebungen verschiedenen Ausmaßes. Sie alle stehen in Zusammenhang mit der Agrarfrage, die bis zur endgültigen Vereinigung Jugoslawiens im Jahre 1918 das Grundmotiv des sozialen Fortschritts dargestellt hat. Die bedeutendsten waren der »Aufstand des Vukalovic« (1852-62) und die Kette von Aufständen während der Großen Orientkrise (1875-78). Beide Ereignisse haben manches gemeinsam mit dem heutigen Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Die Ursache für diese Erhebungen war das Bestreben der christlichorthodoxen Serben, sich mit ihren Landsleuten im freien Serbien und Montenegro zu vereinigen.


    Religiöse und nationale Widersprüche


    Nach Sprache und Ethnizität war die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas zwar homogen, in religiöser Hinsicht aber in drei Gemeinschaften gespalten. Die Intoleranz der Sektierer auf allen Seiten verhinderte eine Besinnung auf die Gemeinsamkeiten jenseits der Glaubensbekenntnisse. Die serbisch-orthodoxen Christen, deren Widerstand gegen die osmanische Herrschaft eine lange Tradition hatte, stellten die größte Bevölkerungsgruppe und besaßen mit 64% auch den größten Teil des Landes. Nach der Volkszählung von 1879 lebten in Bosnien-Herzegowina 42,9% Serben, 38,8% Muslime und 18,1% katholische Kroaten. Die Volkszählung von 1897 ergab eine ähnliche Aufteilung: Serben 42,8%, Muslime 37,0 % und Katholiken 21,3%. Bis zur Volkszählung von 1910 veränderte sich das Verhältnis weiter zuungunsten der Muslime, die nur noch 32,2 % stellten (gegenüber 43,5% Serben und 22,9% Kroaten); ein Trend, der sich bei den Volkszählungen von 1921 (Serben 43,9%, Muslime 31,1 %, Kroaten 23,4%) und 1931 (Serben 44,2%, Muslime 30,9%, Kroaten 23,6 %) fortsetzte. Legt man die Maßstäbe der zivilisierten Welt an, so gehörte die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas zum selben Volk wie die Serben außerhalb dieser Provinz. Das religiöse Zugehörigkeitsgefühl war jedoch so stark und tiefverwurzelt, daß die Unterschiede zwischen den drei Gruppen stärker empfunden wurden als die zwischen Schwarzen und Weißen in einer rassisch gemischten Gesellschaft der westlichen Welt. Die Religion bestimmte alle Lebensbereiche und trennte Christen und Muslime bis 1918 auch sozial scharf voneinander. Die Muslime waren meist Besitzer von feudalen Gütern, Kaufleute oder freie Bauern. Die Christen stellten die leibeigene Bevölkerung, einen Teil der Handeltreibenden und die Intelligenzija, die sich in dieser Zeit herauszubilden begann. Die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Religion war unter der osmanischen Herrschaft sogar mit dem Zwang zur Beachtung einer spezifischen Kleiderordnung verbunden. Vor den Reformen des Jahres 1856 durften die Christen nur die Farben schwarz, weiß und purpurrot tragen. Weitere sozio-kulturell trennende Faktoren waren die verschleierte muslimische Frau und die Polygamie, die bei den Muslimen Bosnien-Herzegowinas noch bis 1945 anzutreffen war (der Zensus von 1910 zählte noch 1 222 polygame Ehen).


    Der Entwicklung einer gemeinsamen Identität stand aber auch das jeweilige Geschichtsbewußtsein entgegen, das auf beiden Seiten eher von Mythen als von historischem Wissen geprägt war. Die Identität der drei Bevölkerungsgruppen war so stark religiös geprägt, daß sogar der russische Zar als Serbe angesehen wurde, wie 1857 ein russischer Konsul erstaunt feststellte. Daraus entwickelte sich erst allmählich ein Nationalbewußtsein - die katholische Bevölkerung nahm erst im Zuge der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1918 die Bezeichnung »Kroaten« als Volksnamen im politischen Sinne an. Bis zur österreich-ungarischen Besetzung 1878 bezeichneten sich die Muslime gar als »Türken«, bevor die neuen Herrscher per Dekret die Nationalitäten »Bosnier«, »Muslime«, »national nicht unterschiedene Muslime« und »Kroaten« einführten. Die heutige muslimisch-bosnische Identität geht erst auf die Bestimmungen der kommunistischen Verfassung von 1974 zurück.

    Bosnien-Herzegowina ist ein klassischer Fall für erzwungene nationale Verschmelzung. In osmanischer Zeit, im Rahmen des Millet-Systems, hatten sich Nationalitäts und Religionszugehörigkeit ursprünglich gedeckt. Im Jahre 1868 wurde dann eine künstliche »osmanische Nationalität« geschaffen, die 1882 von der österreich-ungarischen Proklamation der »bosnischen Nationalität« abgelöst wurde. Von 1929 bis 1935 wurde die gesamte Bevölkerung Jugoslawiens der jugoslawischen Nation zugerechnet.

    Während des letzten Krieges wurden die Muslime als »Blume der kroatischen Nation« vom Ustasa-Regime zu Kroaten erklärt. Auch die Serben waren zeitweilig der Unterdrückung ihrer nationalen Identität ausgesetzt. So war das Bekenntnis zur serbischen Identität während der Jahre 1878-1903 und 1914-18 verboten. Unter der deutschen Besatzung (1941-45) waren die Serben im kroatischen Staat sogar einem regelrechten »Holocaust« ausgesetzt, der ihre biologische Existenz bedrohte. Diesen Typ des sektiererischen Nationalismus bezeichne ich als »Nationalismus des Weltuntergangs«.(2) Die bedrükende nationale Gewalt dieser Leute kam aus ihrem Innern und resultierte aus ihrer Neigung zu religiöser Intoleranz. Bis zur Machtübernahme der Kommunisten lehnte man es ab, die gleichen Trachten zu tragen, die Toten wurden auf separaten Friedhöfen bestattet, und Mischehen waren praktisch unbekannt.
    Die Expansion des Katholizismus
    Der serbische nationale Widerstand war in der gesamten jüngeren Vergangenheit die treibende Kraft aller Befreiungsbewegungen auf dem Territorium des späteren Jugoslawien. Gegner war immer der mitteleuropäische Katholizismus, vertreten vor allem durch Österreich-Ungarn, Deutschland und deren Verbündete. Zwischen 1908 und 1917 erfuhr die jugoslawische Einigungsbewegung Unterstützung von seiten Rußlands, das sonst eher zu einem Kompromiß mit den westlichen Mächten entlang der Ostgrenze Bosniens und Serbiens neigte. Großbritannien, das einen russischen Vormarsch zu den südlichen Meeren verhindern wollte, setzte sich jedoch für die Bewahrung des Status quo ein und sorgte dafür, daß die Adriaküste und ihr Hinterland in osmanischer bzw. österreichischer Hand blieb.

    Die österreich-ungarische Besetzung Bosnien-Herzegowinas folgte im Jahre 1878 den blutigen serbischen Aufständen, die seit 1875 in dieser Region aufgeflammt waren. Im Zuge dieser Ereignisse war es im Sommer 1876 zur Proklamation der Vereinigung Bosniens mit Serbien bzw. der Herzegowina mit Montenegro gekommen. Eine solche Vereinigung hatte der mitteleuropäische katholische Klerikalismus seit der Revolution von 1848 stets gefürchtet, weshalb alle politischen Maßnahmen, die das Habsburgerreich nach 1848 ergriff, einen unsichtbaren, jedoch aggressiven klerikalistischen Hintergrund hatten. Die Gefahr einer Vertiefung der alten Gräben wuchs nach dem Ersten Eucharistischen Kongreß, der im Jahre 1900 in Zagreb stattfand.

    Eine der ersten Folgen der österreichischen Okkupation war die Ausschaltung der Franziskaner, die dis dahin das katholische Gemeinde und Geistesleben in Bosnien-Herzegowina bestimmt hatten. Diese traditionelle Sonderstellung wurde dem Orden nun genommen, weil seine Mitglieder verdächtigt wurden, sie seien zu liberal und der Idee einer jugoslawischen Vereinigung gegenüber freundlich gesinnt. 1882 wurde die reguläre katholische Kirchenverwaltung eingeführt, woraufhin die Franziskaner allmählich aus dem Gemeindewesen verdrängt wurden.

    Alles, was die österreich-ungarische Verwaltung vor dem Zusammenbruch im Jahre 1918 unternahm, war als Instrument gegen den schnell wachsenden serbischen Widerstand gedacht. Noch im Jahre 1878 begann der Heilige Stuhl mit dem Ankauf von Land und startete eine katholische Kolonisation. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges wurden etwa 230 000 Kolonisten, meist aus Tirol und Galizien, in 20 neu errichteten Dörfern angesiedelt; eines davon wurde nach dem deutschen Katholikenführer Windthorst benannt. Außerdem war geplant, ein Band katholischer Kolonien entlang der Drina als Mauer gegen den orthodoxen Osten anzulegen. Bis 1914 wurde jedoch nur eine Siedlung errichtet.

    Zum Schutz seines neuen Besitzstandes vor serbischen Angriffen bereitete Habsburg die Aufstellung katholischer und muslimischer Freiwilligenverbände vor. Die Idee einer gegen Serbien gerichteten muslimisch-katholische Zusammenarbeit war zwar nichts völlig Neues - schon die osmanische Regierung hatte sich 1876 darum bemüht, eine »Lateinische Legion« gegen die serbischen Aufständischen zu organisieren -, doch diesmal sollte diese Zusammenarbeit weitreichende Konsequenzen haben. Sie entwickelte sich zum Modell der österreichischen Balkanpolitik. Während der Balkankriege 1912/13 entstand ein weitverzweigtes Netzwerk muslimisch-katholischer paramilitärischer Gruppierungen - die »Schwarze Legion«. Damals wurde auch der Begriff »Kroatische Ustasi« geprägt, der bis heute ein Synonym für den kroatischen Faschismus geblieben ist. 1941 knüpfte das Ustasa-Regime an diese Tradition an, indem es seinen Streitkräften für den Krieg gegen den serbisch geführten Widerstand ebenfalls den Namen »Schwarze Legion« gab.

    Verfolgung der Serben in Bosnien-Herzegowina

    Bereits vor dem Kriegsausbruch im Jahre 1914 entwarfen die Österreicher einen umfassenden Plan zur Unterdrückung des serbischen Separatismus in Bosnien. Die Zahl der orthodoxen Bevölkerung sollte deutlich gesenkt werden. Hinter dieser Idee standen die habsburgische Armeeführung sowie klerikalistische Kreise. Generalgouverneur Oscar Potiorek, der aus einer slowenischen Familie aus Bleiberg (Niedersteiermark) stammte, wurde beauftragt, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Gemäß dem strategischen Konzept aus dem Jahre 1906 sollten alle Feldzüge gegen Serbien von der Drina geführt werden, d. h. durch sehr unwegsames Gelände, obwohl die bisherigen Kriege in der Geschichte immer aus dem nördlichen, besser entwickelten Save und Donauraum heraus geführt worden waren. Der neuen, aus militärischer Sicht unvernünftigen Strategie lagen politische Motive zugrunde. Mit der serbischen Armee sollte auch die orthodoxe Bevölkerung über die Drina getrieben werden. Zum ersten Mal in der Geschichte ging man daran, eine so großangelegte Vertreibung zu realisieren. Allerdings hatten bereits die osmanischen Behörden in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts muslimische Flüchtlinge aus Serbien (darunter auch einige Tscherkessen) in Ostbosnien angesiedelt, um ein lebendiges Bollwerk gegen Serbien zu schaffen.

    Im Jahre 1914 wurden bei Kriegsausbruch viele Serben in Konzentrationslager deportiert. So etwas war zwar schon zuvor 1903 in Südafrika praktiziert worden, in der europäischen Geschichte stellen die Vorgänge in Bosnien-Herzegowina aber diesbezüglich den ersten Fall dar. Das kyrillische Alphabet, vor 1815 die einzige nichtmuslimische Schrift in der Provinz, wurde zum »östlichen Eindringling« in das Gebiet der westlichen Zivilisation erklärt und verboten. Im Prozeß von Banja Luka wurde fast die gesamte serbische Intelligenzija angeklagt und zu längeren Haftstrafen verurteilt. Der serbischen Regierung warf man damals subversive Umtriebe und Aggression vor. Dem nationalen Befreiungsprogramm der Serben aus dem Jahre 1844 wurde unterstellt, es beabsichtige terroristische Aktionen im Ausland. Diese Politik erhielt einen festen ideologischen Unterbau, als der kroatische Schriftsteller Ivo Pilar unmittelbar nach Kriegsausbruch dem General Potiorek in einer deutschsprachigen Denkschrift ein kroatisch-nationalistisches Programm vorlegte und 1918 darüber in Wien ein Buch unter dem Titel »Südland: Südslawische Frage« veröffentlichte. Kroatische Übersetzungen erfolgten 1943 und 1990. Heute ist dieses Werk gleichsam zur Bibel des kroatischen radikalen Nationalismus geworden.

    Die ersten großen, genozidähnlichen Massaker in der modernen jugoslawischen Geschichte fanden 1914 statt, als muslimische Freiwillige der österreichischen Armee 84 serbische Geiseln in Celebici an der Drina töteten. In einer rückständigen Gesellschaft, in der die Blutrache noch lebendig und der Grundsatz »Zahn um Zahn« ein Leitprinzip des Lebens war, war diese Exekution nur ein geschichtliches Modell für die ähnlichen Massentötungen, die folgten. Während des letzten Krieges war diese Region ein Versuchsfeld für Massenmorde. Da kann es nicht verwundern, daß ähnliche Untaten auch aus dem gegenwärtigen Bürgerkrieg gemeldet werden.

    Der kroatische Faschismus nach 1941 war in Wirklichkeit eine katholische Diktatur. Ihre Ideologie bestand aus Anleihen und Adaptationen aus der habsburgischen Bosnienpolitik und aus dem politischen Arsenal der »Katholischen Aktion«. Was immer nach der Proklamation des kroatischen Satellitenstaates 1941 geschah, speiste sich aus diesen beiden Quellen. Das große Massaker an der orthodoxen christlichen Bevölkerung wurde nie so genau untersucht, daß sich die exakte Zahl der Opfer feststellen ließe. Die Gesamtzahl dürfte auf dem Gebiet Kroatiens eine Million betragen haben. In dem kleinen Ort Capljina, wo der Autor dieses Aufsatzes aufwuchs, sank der serbische Bevölkerungsanteil von 38% vor dem Massaker auf 18% danach.

    Als diese Katastrophe 1941 eine große serbische Widerstandsbewegung auslöste, beendete die italienische Armee in den von ihr besetzten Gebieten (Herzegowina, die beiden Krainas und Teile Bosniens) zwar die Massaker, die Zwangskonversion zum Katholizismus wurde aber nicht nur stillschweigend fortgesetzt; vielmehr wurde offen erklärt, die vorausgegangenen Massaker und die Zwangskatholisierung seien mit der Zustimmung des Heiligen Stuhls (»ha il totale appogio della Santa Sede«) erfolgt. (3) Der Faschismus hat zu dieser Politik vor allem den Namen »Bodenreinigung« beigesteuert, den Hitler in seinen frühen Gesprächen mit dem kroatischen Faschistenführer Pavelic benutzte. Die ethnische Säuberung als Mittel der Politik hat in der Geschichte Bosnien-Herzegowinas aber eine viel längere Tradition. Der türkische Historiker Simsir schätzte, daß in den Kriegen von 1876-78 etwa zwei Millionen Muslime aus ihren Heimatorten vertrieben worden sind. Es ist sicher keine übertriebene Feststellung, daß allein auf jugoslawischem Territorium rund eine Million Muslime und noch einmal die gleiche Anzahl Christen gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen.


    (1)Handschriftliche Gerichtsprotokolle in der Bibliothek Gazi Husref-beg in Sarajevo.

    (2)M. Ekmecic: Stvaranje Jugoslavije 1790-1918 (Belgrad 1989) Bd. I, Vorwort.

    (3)Odone Talpo: Dalmazia. Una cronaca per la storia, 1941 (Roma 1985) 998.

    (4)Spasovski/Zivkovic/Stepic: Etnicki sastav stanovnista BiH (Belgrad 1992).

  2. #2
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    Standard AW: Sektiererischer Nationalismus inBosnien-Herzegowina

    Die Tradition von Gewalt und Vertreibung

    Nach der österreichischen Okkupation 1878 emigrierten mindestens 140 000 Muslime in die Türkei, und rund 40 000 Serben wurden gezwungen, Bosnien-Herzegowina zu verlassen. Die Zahl derer, die aus ökonomischen Gründen auswanderten, betrug mehr als 90 000. Die Massenvergewaltigung von Frauen, um Babies der anderen Religion in die Welt zu setzen, gehört ebenfalls zur bosnischen Tradition. Zum ersten Mal überliefert ist Derartiges für den muslimischen Feldzug Smail-aga Cengic gegen die herzegowinischen Serben im Jahre 1840. Damals wurden alle Babies von vergewaltigten Frauen unmittelbar nach der Geburt getötet. Nur die Benutzung der natürlichen Vertiefungen in der Karstregion als Massengräber für die Opfer der genozidartigen Schlächtereien entstammte nicht der der Tradition Bosnien-Herzegowinas. Dieses Verfahren wurde von der kroatischen Regierung entwikelt, nachdem sie 1941 beschlossen hatte, dort kein großes Konzentrationslager im Stile von Jasenovac zu bauen.

    Der gegenwärtige Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina knüpft an die Religionskriege der Vergangenheit an. Seine tiefste Ursache liegt in dem Versuch der westlichen Staaten, einmal mehr den Rezepten des katholischen Klerikalismus in Deutschland nachzugeben, die dort seit 1878 Anwendung gefunden haben. Deshalb hat der Zusammenbruch des Kommunismus nicht zur Verbreitung der Demokratie beigetragen, sondern vergangene Albträume wiederbelebt. Die demokratischen Nationen billigten 1919 in Versailles das Prinzip, wonach die Sprache die Basis der Nation sei, und auf dieser Grundlage wurde ganz Jugoslawien die Selbstbestimmung gewährt. Im Jahre 1992 dagegen wurde in Maastricht das alte osmanischhabsburgische Prinzip wiederbelebt, wonach die Religion die Basis der Nation sei, und man hat zugelassen, daß sich zwei religiöse Gemeinschaften gegen den Willen der dritten durch ein Referendum von Jugoslawien abspalteten.

    Die moralischen und politischen Folgen hängen mit diesem faulen Kompromiß der westlichen Staaten zusammen. Sie haben Deutschland erlaubt, die Formeln der Balkanpolitik seiner undemokratischen Vergangenheit zu wiederholen. Nach allen wissenschaftlichen Standards bilden Serben, Kroaten, Muslime, ein Teil der Slowenen und ein Teil der Makedonen eine einzige Ethnie. Die Theorie, nach der Bosnien-Herzegowina ein fremdes Land und Ziel der serbischen Agression sei, wurde von der »Katholischen Aktion« entworfen und von der habsburgischen Verwaltung nach 1878 angewandt. Als diese Theorie 1941 wiederholt wurde, rief sie eine Revolte hervor, und ein weiteres Mal 1991/92. Der Genozid an den Serben 1941-45, der zum Verlust ihrer demographischen Dominanz in Bosnien-Herzegowina führte (die Volkszählung von 1981 weist 32,0% Serben, 39,5% Muslime, 18,4 % Kroaten und 7,9% Jugoslawen aus), ist oft übersehen worden.

    Zu den Opfern des Holocaust von 1941 müssen die Betroffenen des Massenexodus aus Bosnien-Herzegowina während des Krieges und danach addiert werden. Nach einer Statistik sind bis 1981 266 637 Serben nach Serbien und 205 542 Kroaten nach Kroatien (4) emigriert, das entspricht einem jährlichen Exodus der Nichtmuslime von 13 500 Personen. Eine andere Statistik, welche die Nachkommen der Emigranten mitberücksichtigt, zeigt, daß ohne diesen Exodus heute 363 000 Serben mehr in Bosnien-Herzegowina leben würden. Dazu muß man eine weitere halbe Million addieren, die nach dem Ausbruch des gegenwärtigen Bürgerkriegs geflüchtet sind. Da sich darunter ca. 1 500 Personen mit Doktortitel befinden, bedeutet das auch einen starken brain drain der Serben in Bosnien-Herzegowina.

    Das Erscheinen des muslimischen Nationalismus unter Tito

    Die Auflösung Jugoslawiens begann während des kommunistischen Regimes, das die Grenzen der Teilrepubliken nicht nach ethnischen Prinzipien gezogen hatte. Auf dem serbokroatischen Territorium wurden zwei künstliche Staaten proklamiert. Nach 1960 begann Tito, von den Prinzipien der jugoslawischen Wiedergeburt abzuweichen. Bei allen Verfassungsänderungen wurden die Institutionen und Ideen der totalitären Bewegungen im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit übernommen. Vor 1964 war das jugoslawische Parlament fast ein Abbild des Bundesparlaments des »Christlichen Ständestaates« Österreich der Jahre 1934-38. Sogar die Grundmerkmale der nach 1953 im Wirtschafts und Kulturleben eingeführten Selbstverwaltung waren offenbar ähnlichen Institutionen der italienischen Republica di Saló 1944-45 nachempfunden. Die Ideologie der Arbeiterselbstverwaltung, die als Mittelweg zwischen dem kapitalistischen freien Markt im Westen und der bürokratischen Planwirtschaft in der Sowjetunion gedacht war, unterschied sich von dem italienischen spätfaschistischen Modell nur in der sorgsamen Vermeidung des Mythos von der arischeuropäischen Bruderschaft der Nationen. Die Etiketten der Institutionen (»Rat der Werktätigen«, »Verwaltungsrat«, »Versammlung«) glichen ihren italienischen Vorbildern wie Kohlepapier-Durchschläge. Statt freier Individuen traten nunmehr die Ethnien als Zellen einer politischen Struktur auf, die man Demokratie nannte.

    Alle konservativen Bewegungen Europas haben den jugoslawischen Kommunismus Titoscher Prägung als Vision ihrer eigenen Zukunft gesehen. Die obskure Zeitschrift »Neues Mitteleuropa«, die 1979 in Triest erschien, erklärte, daß Tito nicht der »letzte Habsburger« sei, wie ihn Alan J. P. Taylor genannt hatte, sondern der erste der großen Männer des kommenden »Zentraleuropäischen Staates«. Aus der internationalen Gruppe »Alpen-Adria« wurde später die »Pentagonale«. Man darf konstatieren, daß der Titoismus nicht einen Fortschritt vom Stalinismus zur Demokratie darstellt, sondern vielmehr eine Degeneration des Stalinismus in Richtung auf die Ideologie der totalitären Bewegungen Zentraleuropas zwischen den Weltkriegen.

    Im Zuge dieser ideologischen Veränderungen wurde die muslimische Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina als Verkörperung der Teilrepublik angesehen. Unter den Muslimen wurden als »Klassenfeinde« nur die Fundamentalisten angesehen, die einen islamischen Staat auf Grundlage der Scharia anstrebten. Alle anderen, einschließlich derer, die seit 1941 ins Exil geflohen waren, wurden willkommen geheißen. Ihre Bücher wurden als große wissenschaftliche Errungenschaften bezeichnet und übersetzt. Schritt für Schritt wurden die marxistischen Elemente des muslimischen Nationalismus durch den islamischen Fundamentalismus ersetzt. Heute unterscheiden sich die muslimischen Parteien (Partei der Demokratischen Aktion, Bosnische Muslimische Partei und die ehemaligen Kommunisten) kaum voneinander. Nur die verbliebenen muslimischen Kommunisten haben die panislamische Proklamation vom Mai 1992 (»Gens una summus«) nicht unterzeichnet. Alle bekannten muslimischen Intellektuellen dagegen haben unterschrieben.

    Während der letzten zwei Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft wurde nur dem muslimischen Nationalismus offizielle Unterstützung und Hilfe zuteil. Die Zahl der Moscheen in Jugoslawien nahm rasch zu, da in dieser Zeit jährlich 20 neue muslimische Gotteshäuser gebaut wurden. Das Geschichtsbewußtsein, das stets von den Streitigkeiten mit fremden Gruppen und den daraus resultierenden Emotionen beeinflußt wird, griff auf das ideologische Konstrukt einer bosnischen Nationalität zurück, wie es unter der Herrschaft der Habsburger in den Jahren 1882-1902 entstanden war. Der daraus entstandene offizielle Slogan »Die Revolution (1941-45) war serbisch, der Staat ist muslimisch« war der Schirm, unter dem das Konzept der bosnischen Unabhängigkeit reifte: Die Muslime seien die Nachkommen der mittelalterlichen christlichen Sekte der Bogomilen, die muslimische Aristokratie stamme ebenfalls von der christlichen Aristokratie aus der Zeit vor der osmanischen Eroberung im Jahre 1463 ab, das bosnische »eyalet« (oder wilayet) sei nicht ein Verwaltungskörper unter 24 anderen gewesen, sondern ein autonomer Staat. Der Geschichtsunterricht an der Universität wurde offiziell als zu »eurozentrisch« angegriffen. Eine Anzahl bedeutender nichtmuslimischer Intellektueller mußte nach Serbien emigrieren.

    Die antiserbische Politik der Europäischen Gemeinschaft

    Nach der Briony-Erklärung vom 7. Juli 1991 schlug die europäische und amerikanische Unterstützung der jugoslawischen Einheit um in ein vom altösterreichischen Geist beherrschtes Ultimatum gegen Jugoslawien. Die Bestimmungen des »Carrington-Papiers« vom 23. Oktober 1991 bildeten einen Plan zur Auflösung Jugoslawiens. Ein europäisches Expertengremium (»Bad Inter-Kommission«) erklärte am 29. November 1991, daß Jugoslawien nicht mehr existiere. Durch Zufall oder Absicht erwiesen sich alle europäischen Vermittlungsversuche als Ermutigung zu Separatismus und offenem Aufruhr. Wie immer im ewigen Krieg der drei Götter in Bosnien wurde der eine von ihnen nicht von Mitteleuropa unterstützt. Mit einem Federstrich wurde das Ergebnis des zweihundertjährigen Kampfes der Serben um ihre Vereinigung in einem demokratischen Staat zunichte gemacht.

    Als die kroatisch-muslimische Allianz im bosnischen Parlament eine Unabhängigkeitserklärung vorbereitete, beantworteten die Serben diesen Schritt am 9./10. November 1991 mit einem für sie sehr erfolgreichen Plebiszit. Trotz aller Warnungen vor einem Bürgerkrieg erlärte die »Bad Inter-Kommission« im voraus, daß nur das geplante muslimisch-kroatische Referendum über die Unabhängigkeit Bosniens rechtsgültig sei, obwohl dessen Durchführung eindeutig gegen die Verfassung verstieß, die für eine solche Maßnahme die Zustimmung aller drei religiösen Gruppen verlangte. Mit der Rückendeckung der europäischen Außenpolitik wurde das muslimisch-kroatische Referendum am 29. Februar 1992 abgehalten. Einen Tag später wurde in der Altstadt Sarajevos eine serbische Hochzeitsgesellschaft angegriffen, wobei eine Novize getötet und ein Priester verletzt wurde. In der Morgendämmerung des 20. März sah die bosnische Hauptstadt, die nach der letzten Volkszählung zu einem Drittel von Serben bewohnt ist, die ersten serbische Barrikaden. Die örtlichen Gefechte umd die Kontrolle über die Polizeistationen setzten dann die ganze Republik in Brand. Die Schlagzeile einer Sarajevoer Tageszeitung lautete am 24. März: »Feuer von der Küste bis zur nördlichen Grenze«. Kleinere Massaker (Kupres, Sijekovac bei Bosanski Brod, Bijeljina) versetzten die Angehörigen aller drei Volksgruppen in Angst und Schrecken. Nachdem es in Bijeljina zum ersten Massenmord an Muslimen gekommen war, ordnete die Regierung am 5. April 1992 schließlich die Generalmobilmachung an.

    Als die Europäische Gemeinschaft und die USA am 6. April 1992 die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas anerkannten, handelte es sich dabei bereits um einen »Phantomstaat« in voller Auflösung. Es existierte keine Regierung mehr, welche die Glückwünsche zur Erlangung der Unabhängigkeit hätte beantworten können, das Präsidium der Republik bestand nur noch aus vier von sieben Mitgliedern, das Parlament war nie wieder beschlußfähig. Eine Gruppe von Abgeordneten autorisierte das verstümmelte Präsidium, neue Gesetze zu erlassen. Hastig wurden ein neues Staatswappen und eine neue Nationalfahne eingeführt. Beides ist von einem Amateurhistoriker mit einem Faible für mittelalterliche Geschichte entworfen worden und symbolisiert ausgerechnet die staatliche Union Bosniens und Serbiens im Mittelalter. Der Staat, der da für souverän und unabhängig erklärt wurde, war gar nicht vorhanden.

    Die Anerkennung Bosnien-Herzegowinas führte, wie schon zuvor im Falle Sloweniens und Kroatiens, zum Ausbruch eines Religionskrieges. Sie basierte auf einem faulen Kompromiß zwischen Großbritannien und Deutschland. Dem britischen Prinzip, daß als unabhängig nur Nationen anerkannt werden können, die eine klare nationale Identität und ein unbestrittenes nationales Territorium besitzen und in der Lage sind, sich ohne ausländische Hilfe zu verteidigen, stellten sich die Deutschen entgegen, und da innerhalb der EG die Stimme jedes Mitgliedsstaates gleiches Gewicht besitzt, setzten sich die Deutschen durch.

    Jede dauerhafte Lösung in Bosnien und Herzegowina hängt heute von der Frage ab, ob die mitteleuropäischen »Ärzte« überhaupt qualifiziert genug waren, um ein Rezept für die traditionellen Krankheiten des Balkans ausstellen zu können. Es ist sicher falsch, den Deutschen für die Zukunft Expansionsabsichten zu unterstellen - ihre Expansion hat schon begonnen. Außerdem sollte man sich vor Augen halten, daß jegliches Sektierertum in Bosnien schon immer Ursache für internationale Kriege war. Europa sollte im bosnischen Bürgerkrieg vermitteln und nicht Partei ergreifen. Die Zerstückelung Jugoslawiens ist kein Fortschritt für die Menschheit.

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