n: Ethnos-Nation 1 (1993) H. 2, S. 15-24.
Die tieferliegenden Ursachen für den gegenwärtigen Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina decken sich im Grunde mit den Wurzeln vergleichbarer Aufstände, zu denen es in der wechselvollen Geschichte dieses Gebiets in den vergangenen beiden Jahrhunderten unter verschiedenen Fremdherrschaften mehrfach gekommen ist: Die serbische Befreiungsbewegung war nicht bereit zuzulassen, daß das katholische Mitteleuropa ihr Land als Versuchsfeld für eine große Auseinandersetzung mit Rußland benutzte. Als 1805 aus der Umgebung Sarajevos erstmals in der modernen Geschichte eine serbische Rebellion gemeldet wurde, erlangten die Dörfer Butmir, Hadzici, Rakovica, Kulijas, Drazgometva, Pazaric, Skanska, Vogosca, Nahorevo, Crna Rijeka traurige Berühmtheit als Ziele militärischer Gegenschläge und Strafmaßnahmen.(1) Dem Leser von Berichten über den heutigen Bürgerkrieg in diesem Gebiet werden diese Namen bekannt vorkommen. Denn genau diese Dörfer bilden jetzt den serbischen Belagerungsring um die bosnische Hauptstadt. 1805 rebellierten unter der Führung von Karadjordjevic die bosnischen Serben gemeinsam mit denen des Mutterlandes. Seit dieser Zeit verzeichnet die Geschichte dieser Provinz 14 serbische nationale Erhebungen verschiedenen Ausmaßes. Sie alle stehen in Zusammenhang mit der Agrarfrage, die bis zur endgültigen Vereinigung Jugoslawiens im Jahre 1918 das Grundmotiv des sozialen Fortschritts dargestellt hat. Die bedeutendsten waren der »Aufstand des Vukalovic« (1852-62) und die Kette von Aufständen während der Großen Orientkrise (1875-78). Beide Ereignisse haben manches gemeinsam mit dem heutigen Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Die Ursache für diese Erhebungen war das Bestreben der christlichorthodoxen Serben, sich mit ihren Landsleuten im freien Serbien und Montenegro zu vereinigen.
Religiöse und nationale Widersprüche
Nach Sprache und Ethnizität war die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas zwar homogen, in religiöser Hinsicht aber in drei Gemeinschaften gespalten. Die Intoleranz der Sektierer auf allen Seiten verhinderte eine Besinnung auf die Gemeinsamkeiten jenseits der Glaubensbekenntnisse. Die serbisch-orthodoxen Christen, deren Widerstand gegen die osmanische Herrschaft eine lange Tradition hatte, stellten die größte Bevölkerungsgruppe und besaßen mit 64% auch den größten Teil des Landes. Nach der Volkszählung von 1879 lebten in Bosnien-Herzegowina 42,9% Serben, 38,8% Muslime und 18,1% katholische Kroaten. Die Volkszählung von 1897 ergab eine ähnliche Aufteilung: Serben 42,8%, Muslime 37,0 % und Katholiken 21,3%. Bis zur Volkszählung von 1910 veränderte sich das Verhältnis weiter zuungunsten der Muslime, die nur noch 32,2 % stellten (gegenüber 43,5% Serben und 22,9% Kroaten); ein Trend, der sich bei den Volkszählungen von 1921 (Serben 43,9%, Muslime 31,1 %, Kroaten 23,4%) und 1931 (Serben 44,2%, Muslime 30,9%, Kroaten 23,6 %) fortsetzte. Legt man die Maßstäbe der zivilisierten Welt an, so gehörte die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas zum selben Volk wie die Serben außerhalb dieser Provinz. Das religiöse Zugehörigkeitsgefühl war jedoch so stark und tiefverwurzelt, daß die Unterschiede zwischen den drei Gruppen stärker empfunden wurden als die zwischen Schwarzen und Weißen in einer rassisch gemischten Gesellschaft der westlichen Welt. Die Religion bestimmte alle Lebensbereiche und trennte Christen und Muslime bis 1918 auch sozial scharf voneinander. Die Muslime waren meist Besitzer von feudalen Gütern, Kaufleute oder freie Bauern. Die Christen stellten die leibeigene Bevölkerung, einen Teil der Handeltreibenden und die Intelligenzija, die sich in dieser Zeit herauszubilden begann. Die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Religion war unter der osmanischen Herrschaft sogar mit dem Zwang zur Beachtung einer spezifischen Kleiderordnung verbunden. Vor den Reformen des Jahres 1856 durften die Christen nur die Farben schwarz, weiß und purpurrot tragen. Weitere sozio-kulturell trennende Faktoren waren die verschleierte muslimische Frau und die Polygamie, die bei den Muslimen Bosnien-Herzegowinas noch bis 1945 anzutreffen war (der Zensus von 1910 zählte noch 1 222 polygame Ehen).
Der Entwicklung einer gemeinsamen Identität stand aber auch das jeweilige Geschichtsbewußtsein entgegen, das auf beiden Seiten eher von Mythen als von historischem Wissen geprägt war. Die Identität der drei Bevölkerungsgruppen war so stark religiös geprägt, daß sogar der russische Zar als Serbe angesehen wurde, wie 1857 ein russischer Konsul erstaunt feststellte. Daraus entwickelte sich erst allmählich ein Nationalbewußtsein - die katholische Bevölkerung nahm erst im Zuge der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1918 die Bezeichnung »Kroaten« als Volksnamen im politischen Sinne an. Bis zur österreich-ungarischen Besetzung 1878 bezeichneten sich die Muslime gar als »Türken«, bevor die neuen Herrscher per Dekret die Nationalitäten »Bosnier«, »Muslime«, »national nicht unterschiedene Muslime« und »Kroaten« einführten. Die heutige muslimisch-bosnische Identität geht erst auf die Bestimmungen der kommunistischen Verfassung von 1974 zurück.
Bosnien-Herzegowina ist ein klassischer Fall für erzwungene nationale Verschmelzung. In osmanischer Zeit, im Rahmen des Millet-Systems, hatten sich Nationalitäts und Religionszugehörigkeit ursprünglich gedeckt. Im Jahre 1868 wurde dann eine künstliche »osmanische Nationalität« geschaffen, die 1882 von der österreich-ungarischen Proklamation der »bosnischen Nationalität« abgelöst wurde. Von 1929 bis 1935 wurde die gesamte Bevölkerung Jugoslawiens der jugoslawischen Nation zugerechnet.
Während des letzten Krieges wurden die Muslime als »Blume der kroatischen Nation« vom Ustasa-Regime zu Kroaten erklärt. Auch die Serben waren zeitweilig der Unterdrückung ihrer nationalen Identität ausgesetzt. So war das Bekenntnis zur serbischen Identität während der Jahre 1878-1903 und 1914-18 verboten. Unter der deutschen Besatzung (1941-45) waren die Serben im kroatischen Staat sogar einem regelrechten »Holocaust« ausgesetzt, der ihre biologische Existenz bedrohte. Diesen Typ des sektiererischen Nationalismus bezeichne ich als »Nationalismus des Weltuntergangs«.(2) Die bedrükende nationale Gewalt dieser Leute kam aus ihrem Innern und resultierte aus ihrer Neigung zu religiöser Intoleranz. Bis zur Machtübernahme der Kommunisten lehnte man es ab, die gleichen Trachten zu tragen, die Toten wurden auf separaten Friedhöfen bestattet, und Mischehen waren praktisch unbekannt.
Die Expansion des Katholizismus
Der serbische nationale Widerstand war in der gesamten jüngeren Vergangenheit die treibende Kraft aller Befreiungsbewegungen auf dem Territorium des späteren Jugoslawien. Gegner war immer der mitteleuropäische Katholizismus, vertreten vor allem durch Österreich-Ungarn, Deutschland und deren Verbündete. Zwischen 1908 und 1917 erfuhr die jugoslawische Einigungsbewegung Unterstützung von seiten Rußlands, das sonst eher zu einem Kompromiß mit den westlichen Mächten entlang der Ostgrenze Bosniens und Serbiens neigte. Großbritannien, das einen russischen Vormarsch zu den südlichen Meeren verhindern wollte, setzte sich jedoch für die Bewahrung des Status quo ein und sorgte dafür, daß die Adriaküste und ihr Hinterland in osmanischer bzw. österreichischer Hand blieb.
Die österreich-ungarische Besetzung Bosnien-Herzegowinas folgte im Jahre 1878 den blutigen serbischen Aufständen, die seit 1875 in dieser Region aufgeflammt waren. Im Zuge dieser Ereignisse war es im Sommer 1876 zur Proklamation der Vereinigung Bosniens mit Serbien bzw. der Herzegowina mit Montenegro gekommen. Eine solche Vereinigung hatte der mitteleuropäische katholische Klerikalismus seit der Revolution von 1848 stets gefürchtet, weshalb alle politischen Maßnahmen, die das Habsburgerreich nach 1848 ergriff, einen unsichtbaren, jedoch aggressiven klerikalistischen Hintergrund hatten. Die Gefahr einer Vertiefung der alten Gräben wuchs nach dem Ersten Eucharistischen Kongreß, der im Jahre 1900 in Zagreb stattfand.
Eine der ersten Folgen der österreichischen Okkupation war die Ausschaltung der Franziskaner, die dis dahin das katholische Gemeinde und Geistesleben in Bosnien-Herzegowina bestimmt hatten. Diese traditionelle Sonderstellung wurde dem Orden nun genommen, weil seine Mitglieder verdächtigt wurden, sie seien zu liberal und der Idee einer jugoslawischen Vereinigung gegenüber freundlich gesinnt. 1882 wurde die reguläre katholische Kirchenverwaltung eingeführt, woraufhin die Franziskaner allmählich aus dem Gemeindewesen verdrängt wurden.
Alles, was die österreich-ungarische Verwaltung vor dem Zusammenbruch im Jahre 1918 unternahm, war als Instrument gegen den schnell wachsenden serbischen Widerstand gedacht. Noch im Jahre 1878 begann der Heilige Stuhl mit dem Ankauf von Land und startete eine katholische Kolonisation. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges wurden etwa 230 000 Kolonisten, meist aus Tirol und Galizien, in 20 neu errichteten Dörfern angesiedelt; eines davon wurde nach dem deutschen Katholikenführer Windthorst benannt. Außerdem war geplant, ein Band katholischer Kolonien entlang der Drina als Mauer gegen den orthodoxen Osten anzulegen. Bis 1914 wurde jedoch nur eine Siedlung errichtet.
Zum Schutz seines neuen Besitzstandes vor serbischen Angriffen bereitete Habsburg die Aufstellung katholischer und muslimischer Freiwilligenverbände vor. Die Idee einer gegen Serbien gerichteten muslimisch-katholische Zusammenarbeit war zwar nichts völlig Neues - schon die osmanische Regierung hatte sich 1876 darum bemüht, eine »Lateinische Legion« gegen die serbischen Aufständischen zu organisieren -, doch diesmal sollte diese Zusammenarbeit weitreichende Konsequenzen haben. Sie entwickelte sich zum Modell der österreichischen Balkanpolitik. Während der Balkankriege 1912/13 entstand ein weitverzweigtes Netzwerk muslimisch-katholischer paramilitärischer Gruppierungen - die »Schwarze Legion«. Damals wurde auch der Begriff »Kroatische Ustasi« geprägt, der bis heute ein Synonym für den kroatischen Faschismus geblieben ist. 1941 knüpfte das Ustasa-Regime an diese Tradition an, indem es seinen Streitkräften für den Krieg gegen den serbisch geführten Widerstand ebenfalls den Namen »Schwarze Legion« gab.
Verfolgung der Serben in Bosnien-Herzegowina
Bereits vor dem Kriegsausbruch im Jahre 1914 entwarfen die Österreicher einen umfassenden Plan zur Unterdrückung des serbischen Separatismus in Bosnien. Die Zahl der orthodoxen Bevölkerung sollte deutlich gesenkt werden. Hinter dieser Idee standen die habsburgische Armeeführung sowie klerikalistische Kreise. Generalgouverneur Oscar Potiorek, der aus einer slowenischen Familie aus Bleiberg (Niedersteiermark) stammte, wurde beauftragt, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Gemäß dem strategischen Konzept aus dem Jahre 1906 sollten alle Feldzüge gegen Serbien von der Drina geführt werden, d. h. durch sehr unwegsames Gelände, obwohl die bisherigen Kriege in der Geschichte immer aus dem nördlichen, besser entwickelten Save und Donauraum heraus geführt worden waren. Der neuen, aus militärischer Sicht unvernünftigen Strategie lagen politische Motive zugrunde. Mit der serbischen Armee sollte auch die orthodoxe Bevölkerung über die Drina getrieben werden. Zum ersten Mal in der Geschichte ging man daran, eine so großangelegte Vertreibung zu realisieren. Allerdings hatten bereits die osmanischen Behörden in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts muslimische Flüchtlinge aus Serbien (darunter auch einige Tscherkessen) in Ostbosnien angesiedelt, um ein lebendiges Bollwerk gegen Serbien zu schaffen.
Im Jahre 1914 wurden bei Kriegsausbruch viele Serben in Konzentrationslager deportiert. So etwas war zwar schon zuvor 1903 in Südafrika praktiziert worden, in der europäischen Geschichte stellen die Vorgänge in Bosnien-Herzegowina aber diesbezüglich den ersten Fall dar. Das kyrillische Alphabet, vor 1815 die einzige nichtmuslimische Schrift in der Provinz, wurde zum »östlichen Eindringling« in das Gebiet der westlichen Zivilisation erklärt und verboten. Im Prozeß von Banja Luka wurde fast die gesamte serbische Intelligenzija angeklagt und zu längeren Haftstrafen verurteilt. Der serbischen Regierung warf man damals subversive Umtriebe und Aggression vor. Dem nationalen Befreiungsprogramm der Serben aus dem Jahre 1844 wurde unterstellt, es beabsichtige terroristische Aktionen im Ausland. Diese Politik erhielt einen festen ideologischen Unterbau, als der kroatische Schriftsteller Ivo Pilar unmittelbar nach Kriegsausbruch dem General Potiorek in einer deutschsprachigen Denkschrift ein kroatisch-nationalistisches Programm vorlegte und 1918 darüber in Wien ein Buch unter dem Titel »Südland: Südslawische Frage« veröffentlichte. Kroatische Übersetzungen erfolgten 1943 und 1990. Heute ist dieses Werk gleichsam zur Bibel des kroatischen radikalen Nationalismus geworden.
Die ersten großen, genozidähnlichen Massaker in der modernen jugoslawischen Geschichte fanden 1914 statt, als muslimische Freiwillige der österreichischen Armee 84 serbische Geiseln in Celebici an der Drina töteten. In einer rückständigen Gesellschaft, in der die Blutrache noch lebendig und der Grundsatz »Zahn um Zahn« ein Leitprinzip des Lebens war, war diese Exekution nur ein geschichtliches Modell für die ähnlichen Massentötungen, die folgten. Während des letzten Krieges war diese Region ein Versuchsfeld für Massenmorde. Da kann es nicht verwundern, daß ähnliche Untaten auch aus dem gegenwärtigen Bürgerkrieg gemeldet werden.
Der kroatische Faschismus nach 1941 war in Wirklichkeit eine katholische Diktatur. Ihre Ideologie bestand aus Anleihen und Adaptationen aus der habsburgischen Bosnienpolitik und aus dem politischen Arsenal der »Katholischen Aktion«. Was immer nach der Proklamation des kroatischen Satellitenstaates 1941 geschah, speiste sich aus diesen beiden Quellen. Das große Massaker an der orthodoxen christlichen Bevölkerung wurde nie so genau untersucht, daß sich die exakte Zahl der Opfer feststellen ließe. Die Gesamtzahl dürfte auf dem Gebiet Kroatiens eine Million betragen haben. In dem kleinen Ort Capljina, wo der Autor dieses Aufsatzes aufwuchs, sank der serbische Bevölkerungsanteil von 38% vor dem Massaker auf 18% danach.
Als diese Katastrophe 1941 eine große serbische Widerstandsbewegung auslöste, beendete die italienische Armee in den von ihr besetzten Gebieten (Herzegowina, die beiden Krainas und Teile Bosniens) zwar die Massaker, die Zwangskonversion zum Katholizismus wurde aber nicht nur stillschweigend fortgesetzt; vielmehr wurde offen erklärt, die vorausgegangenen Massaker und die Zwangskatholisierung seien mit der Zustimmung des Heiligen Stuhls (»ha il totale appogio della Santa Sede«) erfolgt. (3) Der Faschismus hat zu dieser Politik vor allem den Namen »Bodenreinigung« beigesteuert, den Hitler in seinen frühen Gesprächen mit dem kroatischen Faschistenführer Pavelic benutzte. Die ethnische Säuberung als Mittel der Politik hat in der Geschichte Bosnien-Herzegowinas aber eine viel längere Tradition. Der türkische Historiker Simsir schätzte, daß in den Kriegen von 1876-78 etwa zwei Millionen Muslime aus ihren Heimatorten vertrieben worden sind. Es ist sicher keine übertriebene Feststellung, daß allein auf jugoslawischem Territorium rund eine Million Muslime und noch einmal die gleiche Anzahl Christen gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen.
(1)Handschriftliche Gerichtsprotokolle in der Bibliothek Gazi Husref-beg in Sarajevo.
(2)M. Ekmecic: Stvaranje Jugoslavije 1790-1918 (Belgrad 1989) Bd. I, Vorwort.
(3)Odone Talpo: Dalmazia. Una cronaca per la storia, 1941 (Roma 1985) 998.
(4)Spasovski/Zivkovic/Stepic: Etnicki sastav stanovnista BiH (Belgrad 1992).