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Frankreich, England und gegen die Sowjetunion berichten. Damit bleibt offen,
welche Niederschriften stimmen. Es kann sein, daß die einen Protokollanten
Wichtiges verschweigen, um es zu verschleiern. Es kann auch sein, daß die anderen
die Rede so ergänzen und frisieren, daß die Niederschriften eindeutigere
„Beweise“ der weitgesteckten Kriegsabsichten Hitlers und der deutschen Generale
liefern. Wenn die „scharfen“ Versionen der Redeniederschriften Falsches wiedergeben,
wäre das fatal, denn sie und nur sie sind in die Geschichtsschreibung
eingegangen. Sie prägen seit den Nürnberger Prozessen das Bild, das man sich in
Deutschland und in der Welt von der frühen Mitwisserschaft der deutschen Generalität
macht. So ist es für den Beweis der Komplizenschaft der Generale oder
für ihre Entlastung von entscheidender Bedeutung, was Adolf Hitler an diesem
22. August 1939 denn nun wirklich sagt.
Der Vergleich der Niederschriften ist wie ein Stück aus einem Kriminalroman.
Die sieben Protokolle der Obersalzberg-Rede verschwinden 1939 auf Jahre in den
Akten. Einige von ihnen tauchen 1945 bei den Nürnberger Prozessen als „Beweise“
wieder auf, andere erst später.
Als erstes legt die Nürnberger Anklagebehörde ein angebliches Originaldokument
vor,67 das die Hitler-Ausführungen in besonders brutalen, vulgären und
grotesken Formulierungen wiedergibt. Das „Dokument“ wird dem US-Ankläger
Alderman von einem amerikanischen Journalisten zugespielt.68 Es wird in die
Verhandlung eingeführt, dann aber gleich als Beweisstück abgelehnt. Zu offensichtlich
ist die Fälschung. Diese vom Gericht nicht anerkannte Falsch-Version
glänzt mit Zitaten und Schilderungen wie:
„Entschluß zum Angriff auf Polen im Frühling. … Ich lasse jeden füsilieren,
der auch nur ein Wort der Kritik äußert. … Das Kriegsziel ist nicht das
Erreichen von bestimmten Linien, sondern die physische Vernichtung des
Gegners. … Polen wird entvölkert und mit Deutschen besiedelt. … Nach
Stalins Tod zerbrechen wir die Sowjetunion. Dann dämmert die deutsche
Erdherrschaft herauf.“ Nach der Falsch-Version setzt Hitler fort: „Ich habe
nur Sorge, daß mir Chamberlain oder irgend so ein anderer Saukerl im
letzten Moment mit Vorschlägen und Umfallen kommt. Er fliegt die Treppe
herunter. Und wenn ich ihm persönlich vor den Augen aller Photographen
in den Bauch treten muß. … Ob die Welt das glaubt, ist mir scheißegal. …
Die Bürger Westeuropas müssen vor Entsetzen erbeben. … Und nun ran
an den Feind! In Warschau feiern wir Wiedersehen! … Die Rede wurde
mit Begeisterung aufgenommen. Göring stieg auf den Tisch. Blutrünstiger
Dank und blutrünstiges Versprechen. Er tanzte wie ein Wilder herum.“ 69
Soweit die erste Falsch-Version.
67 IMT-Dokument 03-L/US-28
68 IMT-Verhandlungen, Band XIV, Seite 76
69 IMT-Dokument 03-L/US-28
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