Bilder wie nach einem Atomkrieg: Im Inneren des Katastrophen-Reaktors von Tschernobyl fühlt man sich wie in einem Horrorfilm. Über eine unheimliche Recherche berichtet Boris Reitschuster, Moskau.
Je näher wir dem Unglücksreaktor kommen, umso schneller knattert der Geigerzähler – und das Herz. Die erste Sicherheitsschleuse erinnert an die heruntergekomme Umkleide eines fünftklassigen Fußball-Vereins. Wir müssen uns ausziehen bis auf die Unterhose, bekommen ein weißes Hemd, eine blaue Jacke, Handschuhe, weiße Socken, zwei weiße Hosen, ein weißes Kopftuch, einen roten Helm. Schroffe Baumwolle gegen die Angst.
Schutzhülle aus Beton
Das unheimliche Gebilde ist nur noch einen Steinwurf entfernt: Der „Sarkophag“, eine hastig errichtete Schutzhülle aus Beton und Metall, die seit 18 Jahren die extrem strahlenden Überreste des vierten Reaktorblocks überdeckt.
Wir kommen zur zweiten Sicherheitsschleuse. Ein Mann mit breitem Hollywood-Lächeln aus zwei strahlend weißen Zahnreihen streckt uns die Hand entgegen, fast wirkt es, als hätte sich Tom Cruise nach Tschernobyl verirrt: Wladimir Kaschtanow heißt der Fremdenführer des atomaren Schreckens. Er steckt uns „Dosimeter“ um: Kleine, schwarze Geräte, kaum größer als ein Feuerzeug, die messen sollen, welche Strahlendosis wir abbekommen. Dann müssen wir uns Atemmasken überziehen: „Dicht anlegen, bitte!“
Der junge Ingenieur grinst die Angst weg: „Furcht ist doch nur etwas für die, die sich nicht auskennen mit Radioaktivität.“ Je tiefer es in den Bauch des Ungeheuers geht, umso weicher werden die Knie. Endlose Gänge, goldfarben gestrichen. Ausgelegt mit Kunststoff-Folie.
Wir gehen weiter in etwas, das einmal ein Treppenhaus war. Beton hängt von den Wänden. Plastikplanen auf den Stufen. Schreckliche Farben. Rost, herunterhängende Kabel überall, aufgeplatzter Beton. Selbst der Geruch wirkt gespenstisch.
An den Wänden hängen Spinnweben. Kaschtanow lächelt schon wieder. Ohne die weißen Zähne. Sie sind hinter dem Mundschutz verschwunden: „Keine Sorge, das stammt nicht von Spinnen. Es ist ein Mittel, das den Staub an die Wände bindet. Der Staub ist ja hoch radioaktiv hier.“
Schock aus dem Display
Das Beunruhigendste an der Strahlengefahr ist, dass sie nicht zu sehen ist. Nicht zu riechen. Nicht zu spüren. Aus Unsicherheit drücke ich auf meinen Geigerzähler – und mein Herz bleibt fast stehen. „Überdosis“, steht im schwach beleuchteten Display. Mit zitternder Hand stelle ich die Skala um. Zum ersten Mal. Von Milli-Röntgen pro Stunden auf Röntgen pro Stunden. Eine glatte „Zehn“ zeigt dieses verdammte Ding. Schweiß steigt mir auf die Stirn.
„Höchstens zehn Milli-Röntgen pro Stunde, versprochen!“ – hatte uns Kaschtanow in der Schleuse versichert. War sein Lächeln nichts wert? Ich beginne zu zittern: „Verdammt, warum bin ich hier rein!“ Ich haste nach oben – so gut, wie es die Treppe zulässt, starre auf den Geigerzähler. Ein hastiger Sprung über eine gebrochene Stufe. Eine Ewigkeit vergeht, bis es endlich wieder hinaus geht in einen langen Korridor. Hier sei es halbwegs „sauber“, verspricht Kaschtanow.
Heimtückisches Komma
“Mein Dosimeter macht mir Kopfschmerzen“, sage ich und halte ihm das Ding hin. „Muss ein Messfehler gewesen sein auf der Treppe. Oder ein falscher Tritt, an eine Stelle, die verseucht ist.“ Kaschtanow mustert das Gerät. Und plötzlich ist da wieder dieses Lächeln unter dem Mundschutz zu erahnen. „Oh, es ist ein Messfehler: In der Dunkelheit habe ich einfach das Komma übersehen. Nicht zehn Röntgen pro Stunde, sondern zehn Milli-Röntgen.“ Ein Himmelreich für Kaschtanows Lächeln. Selbst wenn zehn Milli-Röntgen pro Stunde immer noch das Tausendfache der natürlichen radioaktiven Strahlung sind.
Kaschtanow holt Plastikschläuche aus seiner Tasche. Wir müssen sie über die weißen Schuhe ziehen: „Sonst kommt Ihr da mit einer zu hohen Dosis raus“. Die nächste Tür geht auf. Dunkelheit. Eine Metall-Leiter. Im Licht der Taschenlampe tasten wir uns hoch. Die Luft ist feucht. Wir hangeln uns an einem Geländer vorwärts. Durch die Löcher im Dach des „Sarkophags“ – die es gar nicht geben dürfte – dringt allmählich etwas Licht ein. Licht, wie aus einer anderen Welt. Wände, so schief wie der Turm von Pisa. Die Decke auf Trägern, die halb weg gebrochen sind. Wasser tropft in die gespenstische Stille. Der zerstörte Maschinensaal. Wohin wir blicken – nur Trümmer.
„Das Ding kann jeden Tag einstürzen, und dann sind wir wieder da, wo wir 1986 waren“, sagt Kaschtanow. 50 000 Milli-Röntgen pro Stunde zeigt der Geigerzähler. Igor Gawrilow, mein Fotograf und Freund, geht noch weiter. Ich taste mich zurück, in der Eile finde ich die Taschenlampe nicht. In der Dunkelheit komme ich nicht weiter. Endlich – die Taschenlampe. Sie geht nicht. Keine Batterien. „Igor, hast Du Batterien?“ Eine Ewigkeit vergeht. Raus hier!
Schaltraum des Grauens
22 Meter tiefer. Der „Zentrale Schaltraum“ des vierten Blockes. Das Schaltpult, auf dem die diensthabenden Ingenieure im April 1986 vergeblich gegen den Gau ankämpften. Die Kontrollwände grau in grau, zäh mumifiziert mit diesen „Spinnenweben“ – der ekligen, hellbraunen Antistaub-Flüssigkeit. Alle Schalter sind ausgebaut, Löcher überall, Brandflecken. Die Farbe ist abgesplittert, die Knöpfe angeschmort. Rost. Kabel baumeln von den Wänden. So muss es nach einem Atomkrieg aussehen. 40 Meter sind es von hier noch zum Reaktor. Zu dem, was übrig blieb.
Die Strahlung dort erreicht heute noch 2500 Röntgen pro Stunden – einer tödlichen Dosis. Zehn Minuten waren wir im Sarkophag. Es war eine Ewigkeit. Als wir rauskommen, sehen wir die Silhouette von Pripjat am Horizont – der Geisterstadt. Bis zum Unglück lebten hier 50 000 Menschen – in Plattenbau-Hochhäusern. Im Kindergarten liegen noch die Puppen am Boden. Die kleinen Betten sind noch bezogen. Spielzeug überall. Knetmasse. Kinder-Gasmasken. Lenin-Bilder. Totenstille.
Auf dem Rückweg überall tote Dörfer. Dann Tschernobyl. Eine mutierte Stadt. 6500 Menschen leben heute hier. In Schichten kommen sie angereist, vier Tage Arbeit hier – dann drei Tage Zuhause. Sie leben in den alten Häusern, die heute „Gemeinschaftsunterkünfte“ sind. Sie arbeiten in der „Todeszone“ – so nennen sie den Kreis von 30 Kilometern um das Kraftwerk. Waldarbeiter, Wissenschaftler, Feuerwehrleute. Eine Stadt ohne Kinder, ohne alte Menschen. Überall leere, zerfallene Häuser. Keine Autos – nur gelegentlich Lastwagen.
Fünf Tage sind wir in Tschernobyl. In einem „Hotel“, das keines ist. In einer Stadt, die keine ist. Mit Einwohnern, die keine sind. Als wir am sechsten Tag mit dem Zug aus Tschernobyl wegfahren, glauben wir unseren Augen nicht, als nach einer halben Stunde zum ersten Mal „lebendige“ Dörfer in den dreckigen Zugfenstern auftauchen. Es ist, als ob man aufwacht. Endlich wieder in einer lebendigen Welt.