In 2008 ist es 75 Jahre her, dass die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen. Ein Jubiläum, dass die allermeisten wohl vergessen und verdrängen wollen - aber Pech gehabt. Es gibt einige wichtige Gründe, die nichts mit der offiziellen Mahnkultur und dem "verordneten Antifaschismus" zu tun haben, die gegen das Verdrängen des 75sten der Nazi-"Revolution" sprechen.
Grund 1 ist die - mit Verlaub - erbärmliche Diskussionskultur
So war letztes Jahr der 90. Jahrestag der Oktoberrevolution. Hier ist eine kritische Diskussion auch und gerade in den "eigenen Reihen" möglich. Auch und gerade Linke fragen sich: was haben wir damals falsch gemacht, dass es zu Terror, Massenmord und zum Zusammenbruch des Projektes kommen konnte? Alles auf Stalin zu schieben hilft da auch nicht - der georgische Psychopath wäre ohne für ihn geeignete Strukturen ein Kleinkrimineller geblieben. Diese Strukturen haben die Bolschewiki geschaffen, als sie die Macht bis zum Anschlag zentralisierten und Lenins Spruch "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" nicht auf den eigenen Machtapparat anwandten.
Eine vergleichbare Diskussion sehe ich bei den Rechten nur in Ansätzen. Die ganz Harten im braunen Garten rechtfertigen den NS mit all seinen Scheußlichkeiten mehr oder weniger unverblümt und schreien gar nach einem Remake :rolleyes: - schließlich muss der Paragraph 175 wieder her und wir brauchen unbedingt einen Krieg mit Polen um verlorene Gebiete. Der letzte Krieg mit Polen um verlorene Gebiete war ja so erfolgreich.
Die Weichspül-Rechten, die klerikalfaschistischen oder bürgerlichen Reaktionäre dagegen tun so, als ob sie gar nichts mit dem Nazitum zu tun haben und im Zweifelsfall an vorderster Front des Widerstandes gegen Hitler gestanden hätten. Das hätten sie auch bitter nötig gehabt - denn sie waren die Wegbereiter und Steigbügelhalter Hitlers. Nur wird das mehr oder weniger geleugnet.
Aber die Rechten sind zumindest diskussionstechnisch nicht allein an allem Schuld. Und Neonazis sind auf ihrem Holzweg nicht allein.
Grund 2 - eine sinnlose Schwarz-Weiß-Sichtweise
Die Verbrechen des NS legen nahe, dass es sinnvolle Schwarz-Weiß-Sichtweisen gibt: die Nazis waren zu 100 Prozent Scheiße und alles, was zu ihrem Fall beitrug, ihren Fall beschleunigte und die Zahl der Opfer verringerte, war gut.
Leider deckt das nicht alles ab, denn die Nazis haben die Menschen mit Dingen geködert, die an sich gut, möglicherweise notwendig sind. So kommt in den Dokus über den NS neben dem Schrecken, den verkrachte Existenzen und mordlüsterne Technokraten verbreiteten, oft ein Gefühl von Gemeinschaft rüber. Selbst Dokus aus einem System heraus, dass den NS mit gutem Grund verworfen hat, geben immer das Gefühl als ob da zumindest in den "lichten Momenten" ein System da war, das große Aufgaben anpackte und wo man Teil einer Gemeinschaft war. Sinn und Unsinn wird etwa an den Erzählungen einer Frau deutlich, die in der "Kaderschmiede" des BDMs war und da - mit Verlaub - blödsinnige Aufsätze über Adolf Hitler schrieb.
Man könnte die Verarschung mit der Volksgemeinschaft als solche brandmarken und abtun, weil es zum Beispiel damals so gut wie kein Kindergeld gab. Kleinvieh zu halten und Brot selbst zu backen, half vermutlich vielen Volksgenossen eher über die Runden als Lächerlichkeiten wie das "Winterhilfswerk" oder der dicke Göring mit der Sammelbüchse.
Nur habe ich manchmal den Eindruck, dass ausgerechnet in Berichten über die dunkelsten 12 Jahre deutscher Geschichte noch etwas von Gemeinschaft und großen Aufgaben durchschimmert. Anstatt einer bis ins Mark pervertierten "Volksgemeinschaft" geisteskranker Abenteurer eine positive Gemeinschaft entgegenzusetzen, anstatt zutiefst verbrecherische durch positive Ziele, Menschenverachtung durch Menschheit zu ersetzen, geht unser System immer mehr dazu über, jede Gemeinschaft zu leugnen, jedes Ziel zu verwerfen und in der "Ellenbogengesellschaft" den Sozialdarwinismus der Nazis wieder aufleben zu lassen.
Grund 3 - das Herauslösen aus jedem historischen Kontext
Schon x mal habe ich hier geschrieben, dass der NS im Kontext des deutschen Imperialismus stand. Und der deutsche Imperialismus stand im Kontext des Imperialismus der Großmächte überhaupt. In einen Kontext zu stellen, hat nichts mit Verharmlosen und Relativieren zu tun. Verbrechen werden dadurch nicht besser, dass sie andere auch begangen haben. Der Kontext ist notwendig zum Verstehen und zur Analyse. Davon sehe ich aber in der einschlägigen Diskussion nicht allzu viel. Eher durch Zufall erfährt man da, dass nicht nur die Nazis, sondern auch ein Brite in Fernost schon mal von "Untermenschen" sprach. Ist ja auch zu peinlich, wenn rauskommt, dass der NS mit seinen rassepolitischen Erwägungen voll auf der Höhe der Zeit war. Nur haben es dann die Krauts mächtig übertrieben :rolleyes:
Grund 4 - ist ein Remake möglich?
Als Linke halte ich die Diskussionen über die Oktoberrevolution und den Staatssozialismus in Osteuropa und der Dritten Welt für wichtig, weil ich kein Remake sinnloser, ja katastrophaler sozialer und politischer Experimente will. Keinen "Revolutionären Kommandorat", wo sich Schägertypen und Intriganten tummeln, keine hypertrophe Staatspartei, keine sozialsitische Staatsreligion, an die nach einer Generation keine Sau mehr glaubt.
Je mehr und je kritischer über den gescheiterten Staatssozialismus diskutiert wird, desto wirksamer wird ein fruchtloses Remake unterbunden. Der Weg zu einer drastischen Veränderung der Verhältnisse mag dadurch qua Resignation verbaut sein. Aber er kann sich auch öffnen und dann führt er nicht in die nächste selbstreferenzielle Tyrannei.
Der Horror des NS mag ein Remake verhindern, eine falsch geführte Diskussion macht es zumindest denkbar. Sei es von Seiten der Rechtsextremen, die das Remake wollen. Sei es von Seiten des Systems, dass den NS nur in seinen Oberflächenphänomenen verwirft, mir aber auf dem "besten" Wege scheint, auch repressive Strukturen aufzubauen. Und das noch immer am Sozialdarwinismus festhält. Ach ja, der ist ja ein Ding der pösen Rechten, deswegen können wir als Liberale ihn auch fahren, ohne dass uns jemand dingfest macht.