3. Eigenverantwortlichkeit zurückbringen
Eine der drängendsten Angelegenheiten der heutigen Sozialstaaten ist das Spannungsfeld zwischen Eigenverantwortlichkeit des Bürgers und staatlicher Intervention. Die klassische Auseinandersetzung dabei war ursprünglich diejenige, dass die Bürger individuelle Freiheiten für sich einforderten, während die Regierenden sie gerne weiterhin bevormunden wollten. Soweit zur Normalität, möchte man meinen, scheint dies doch in der
Natur der Beteiligten zu liegen. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Auseinandersetzung groteskerweise in ihr völliges Gegenteil verkehrt: Weder will das Individuum Selbstverantwortung übernehmen, noch
wollen oder können es ihm der Staat oder andere Institutionen wirkungsvoll abnehmen. Wird ein verhungertes Kind gefunden, schreien die Bürger nach dem Staat und verlangen eine Ausweitung der in ihre persönliche Freiheit eingreifenden Kompetenzen etwa des Jugendamtes, was der Staat wiederum, meist aus finanziellen Gründen, nicht leisten kann. Der Streit entzündet sich also nicht mehr daran, dass beide Seiten eine bestimmte Kompetenz
für sich beanspruchen, sondern daran, dass beide diese nicht innehaben wollen und dem jeweils anderen zuschieben. So kommt es, dass ein Berliner Innensenator einen Speiseplan für Arbeitslose und Arme erstellt, und sich daraufhin alle entzürnen, aber nicht etwa ob der Tatsache, dass die Politik
sie bevormundet und in ihre individuellen Angelegenheiten eingreift, sondern größtenteils daran, dass dieser Speiseplan nicht abwechslungsreich genug sei oder zeige, dass die staatlichen Aufwendungen noch nicht hoch genug seien.
Glaubt man den gängigen Argumenten amerikanischer Konservativer, so stellt sich das Dilemma recht einfach dar: „Big government“, wie es gerne heißt, sei nie eine Lösung, sondern Teil des Problems. „Government social programs are a security threat because they weaken the ultimate line of defense: the free-born citizen whose responsibilities are not subcontracted to the overnment.“44 Aber dies verkennt die Komplexität des Sachverhaltes,
die sich in folgender fataler Spirale ausdrückt:
(1) Ein gesellschaftliches Phänomen tritt auf, das allgemein als nicht wünschenswert angesehen wird. Beispiele sind etwa: schlechtes deutsch, überbordender Medienkonsum, schlechte Ernährung von Schulkindern.
(2) Diese Entwicklungen lassen die Bürger nach dem Staate rufen, und um sich nicht Untätigkeit vorwerfen lassen zu müssen45, entwerfen Politiker Vorschriften, Richtlinien, Verbote. So werden in Schulen Sprachkurse angeboten, „Killerspiele“ verboten, steuerfinanzierte Kampagnen und Richtlinien für bessere Ernährung entworfen.
(3) Dadurch aber werden die Individuen erkennbar weiter ihrer Verantwortung
entbunden, etwa ihren Kindern die Landessprache beizubringen, auf deren
Medienkonsum zu achten oder ihnen eine ausgewogene Ernährung nach bewährten Rezepten zu vermitteln. Sie weichen auf den Feldern ihrer vormaligen alleinigen Souveränität weiter zurück und der Staat muss nachrücken. Nun beginnt dieser Kreislauf von neuem.
Die Spirale ist damit in Gang gesetzt, die im Extremfall in den totalitären Staat mündet, der von der Kindererziehung über die Medien bis hin zu persönlichen Daten und Vorlieben alles einst Private kontrolliert.
Ab Seite 35:
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