… Bei der ersten Sitzung ging es um Bildung. Das Innenministerium hatte zur Einstimmung den Direktor und ein paar Schüler der Berliner Rütli-Schule eingeladen, jener Neuköllner Hauptschule, deren Lehrer vor ein paar Jahren in einem flehentlichen Brief an den Senat um die sofortige Auflösung ihrer Lehranstalt gebeten hatten, weil sie die alltäglichen Pöbeleien und Gewalttätigkeiten nicht mehr ertrugen. Der neue Schulleiter, ein energisch wirkender Mann mit bestem sozialdemokratischem Hintergrund, berichtete von den Fortschritten, die man gemacht habe: Es gebe jetzt ein Wahlpflichtfach Boxen, und die T-Shirt-AG, bei der die Jugendlichen ihre Hemden mit selbstgewählten Motiven zu bedrucken lernten, sei ebenfalls sehr gut angenommen worden. Auch die Schüler versicherten, dass jetzt alles besser laufe und sie sich mehr anstrengen würden. «Wir verstehen uns auch mit den Deutschen, sie sind ja auch Menschen», sagte einer von ihnen. Die Konferenz nahm das als gutes Zeichen.
Dann gab es einen Vortrag des europäischen Pisa-Koordinators Andreas Schleicher, der einige Grafiken mitgebracht hatte, die eindrucksvoll die schulischen Schwierigkeiten der Migrantenkinder in Deutschland zeigten. Auf einem Bild sah man, wie schwer sich insbesondere junge Türken und Araber tun; die aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland Gekommenen zum Beispiel hängen, was die Schulleistung angeht, lange nicht so hinterher. Ich war auf die Erklärung dafür gespannt, aber offenbar war das Schaubild versehentlich in die Präsentation geraten. Jedenfalls redete Schleicher dann lange von den «institutionellen Barrieren» und «Selektionsmechanismen», die den Ausländerkindern den Weg versperren würden. «Am wenigsten können die Migranten selbst dafür», sagte er. Alle nickten. Die Ex-Jugoslawen oder die Polen schienen es dennoch irgendwie zu schaffen, trotz aller Selektionsbarrieren, aber diesen Gedanken behielt ich lieber für mich.
Man muss sich die Islamkonferenz wie eine lange Therapiesitzung vorstellen, bei der jeder ausführlich das Unrecht beschreibt, das ihm als Angehöriger einer ethnischen Minderheit in Deutschland widerfährt oder widerfahren kann. Der Dialog besteht darin, sich gegenseitig zu versichern, wie sehr Ausländer in Deutschland benachteiligt werden. Wer keiner zu- und eingewanderten Volksgruppe angehört, sondern als Vertreter der Mehrheitsgesellschaft dort sitzt, verhält sich am besten unauffällig und hört aufmerksam zu, welche Zumutungen er und die anderen 75 Millionen Deutschen für die Fremden in ihrer Mitte bedeuten.
Alle schienen auf Anhieb begriffen zu haben, wie die Spielregeln waren. Die eine Hälfte schilderte das Migrantenschicksal, die andere Hälfte saß da und schaute sehr betroffen. Nur einmal kam es zu einem unschönen Zwischenfall, als eine junge Türkin das Wort ergriff, Professorin für Wirtschaftsrecht an der Fachhochschule Anhalt in Bernburg, wie ich den Tagungsunterlagen entnahm. Sie sei es leid, dass der kulturelle Unterschied ständig als Entschuldigung diene, morgens nicht mit den Kindern aufzustehen oder nach der Schule die Hausarbeiten zu vernachlässigen: «Es gibt eine latente Akzeptanz in der türkischen Gemeinde für Eltern, die ihre Kinder schlecht erziehen», sagte sie, «sie finden Verständnis, das sie nicht verdienen.»
Es wurde sehr still im Raum. Der Sitzungsleiter, ein Herr Frehse aus der Grundsatzabteilung des Innenministeriums, guckte betreten in seine Papiere und regte dann eine Kaffeepause an. Die Runde beschloss, den Einwurf der Frau zu übergehen. Wie ich später erfuhr, stammte sie aus einer Gastarbeiterfamilie aus dem Wedding, der Vater Arbeiter in einer Schokoladenfabrik, die Mutter am Band, vier Mädchen, alle Abitur, sie die jüngste Professorin, die jemals in Deutschland einen Lehrstuhl erhalten hat. Ich hätte es interessant gefunden, mehr über ihren Lebensweg zu hören, aber ich war ja auch noch neu. Beim nächsten Mal war sie nicht mehr dabei.
In der zweiten Sitzung ging es um die Medien und ihre Verantwortung. Eine Soziologin, die als Anti-Rassismus-Forscherin vorgestellt wurde, hielt einen Vortrag über die fortlaufenden Versuche der Presse, die Muslime in ein schlechtes Licht zu rücken: Im Rundfunk sei neulich über eine Sparkasse berichtet worden, die keine Sparschweine mehr ausgebe, aus Rücksicht auf die türkischen Kunden. Alle schüttelten den Kopf. Ich fand, das Beispiel sprach eher gegen die Sparkasse als gegen die Türken, aber vielleicht hatte ich es auch einfach nicht begriffen. Dann war ein Professor aus Erfurt an der Reihe, der über ein Jahr lang alle Fernsehbeiträge von ARD und ZDF gezählt hatte, die sich mit dem Islam beschäftigten. Er hatte herausgefunden, dass die überwiegende Zahl der Beiträge «Konflikte» zum Thema hatte, zum Teil sogar «ein offen gewaltsames Geschehen». An sich keine wirkliche Überraschung, schließlich hatten sich in dem Jahr seiner Untersuchung erst vier junge Moslems in der Londoner U-Bahn und einem Doppeldeckerbus in die Luft gesprengt, dann hatte die ganze islamische Welt über ein paar Karikaturen im Feuilleton einer dänischen Zeitung kopfgestanden, und auch in Deutschland musste man mittlerweile beim Zugfahren Kofferbomben im Gepäckteil neben sich befürchten. Es ist schwer, in einem solchen Jahr konfliktfrei zu berichten, schien mir, aber das sah der Professor offenbar anders.
Dann wurde beraten, was man tun könne, um das Islambild in den Medien freundlicher zu gestalten.
Die Konferenz ging das Problem sehr methodisch an. Um mich saßen, wie ich feststellen konnte, viele erfahrene Gremienfüchse, und so war die Lösung schnell gefunden: Man kam überein,
künftig die Verwaltungs- und Rundfunkräte auch mit Vertretern der muslimischen Gemeinden zu besetzen, die dort dann eine «wichtige Korrekturfunktion bei der Programmplanung und -aufsicht übernehmen können», wie es der Professor unter Beifall formulierte. Jemand regte an,
zusätzlich eine Quote «neutraler Berichterstattung» über den Alltag und die reiche Kultur des Islam festzulegen, ein Vorschlag, der ebenfalls sofort breite Zustimmung fand.
Der Mehrheit der Islamkonferenz schien nach kurzer Diskussion 30 Prozent für den Anfang angemessen, und weil sich so eine Vorgabe nicht von selber umsetzt, verständigte man sich auf die Einrichtung eines Aufsichtsrates, der über die Einhaltung der Neutralitätsquote wachen sollte. Es war irgendwie klar, dass der Rat nicht ohne den Professor aus Erfurt auskommen würde…