Der Sommer steht noch auf der Kippe
SPIEGEL-Interview mit dem Meteorologen Dr. Werner Horst vom Deutschen Wetterdienst in Offenbach
SPIEGEL: Herr Dr. Horst,
es ist das vierte nasse Jahr. Seit zwei Wochen prasselt fast in der ganzen Bundesrepublik der Regen. In Hamburg war es der nasseste Juni, seit es überhaupt Wetteraufzeichnungen gibt, also seit 130 Jahren. Andernorts werden die Badeanstalten geschlossen, weil es zu kalt ist. Ist dieser Sommer schon gelaufen?
HORST: Da kann ich nur mit einem klaren Nein antworten. Der Sommer reicht meteorologisch vom 1. Juni bis zum 31. August. Und bevor nicht der 31. August abgelaufen ist, werden wir uns hüten, eine endgültige Aussage zu machen über diesen Sommer.
SPIEGEL: Aber Sie können auch keine Hoffnungen wecken?
HORST: Nun ja, ich meine, es ist noch alles drin, der Sommer steht noch auf der Kippe. Ich kann mal ein Beispiel bringen: Berlin 1971, auch damals war im Juni extreme Nässe. Aber dann folgten zwei Monate extremer Trockenheit. Also, so etwas ist nicht auszuschließen. Wenn auch die Erhaltungsneigung dafür sprechen könnte, daß es kühl und vielleicht auch etwas über normal feucht bleibt.
SPIEGEL: Sie meinen eine Art meteorologisches Trägheitsgesetz ...
HORST: Ganz recht. Aber es kann auch genausogut andersrum kommen.
SPIEGEL: Der Juni jedenfalls war dieses Jahr viel zu naß, und alle Bundesbürger rätseln, wie es dazu kam.
HORST:
Da muß ich zunächst mal prinzipiell sagen, daß die Sommer in unseren Breiten außerordentlich unterschiedlichen Charakter haben können. Es gibt eben anhaltend warme Sommer, es gibt anhaltend kalte Sommer, und es gibt wechselhafte Sommer. Das hängt damit zusammen, daß wir im Übergangsgebiet zwischen der kalten Polarregion und den warmen äquatorialen Regionen leben. Dieses Übergangsgebiet ist nicht gleichmäßig, sondern die Natur tendiert dazu, immer wieder Ausbrüche von Kaltluft von Norden nach Süden gehen zu lassen und umgekehrt Warmluftausbrüche von Süden nach Norden.
SPIEGEL: Und wenn das sich schön abwechselt, ist das Wetter normal.
HORST: Ja. Und dann wieder gibt es Sommer, in denen sich an bestimmten Stellen der Nordhalbkugel solche Warmluftvorstöße von Süden nach Norden etablieren und da auch bleiben; diesen Fall hatten wir in dem Paradesommer 1976. Damals gab es auch Kaltluftvorstöße von Norden; aber die lagen über dem Atlantik, und deswegen hat sich niemand daran gestört.
SPIEGEL: Diesmal haben wir also eine kalte Nase, die nach Mitteleuropa herunterreicht?
HORST: Ja, aber gleichzeitig gibt es eine Hitzewelle über Texas, und wir haben auch außerordentlich warme Witterung im mittleren Rußland. Noch jenseits von 60 Grad Nord sind da Frühtemperaturen von mehr als 20 Grad gemessen worden.
Da sehen Sie also: Global hat sich gar nichts geändert.
SPIEGEL:
Nun gibt es seit einigen Jahren die Theorie des britischen Klimatologen Hubert Lamb, daß sich doch global etwas geändert haben könnte. Wir meinen die Theorie von der Verlagerung der sogenannten Jet Streams, also von klimabeeinflussenden Luftströmungsgürteln, die sich angeblich südwärts verschoben haben.
HORST:
Ich würde sagen, das als Theorie zu bezeichnen ist schon zu weit gegriffen. Das sind Vermutungen, S.92 die von Zeit zu Zeit durch die Presse geistern. Von seiten des Wetterdienstes kann das nicht bestätigt werden.
SPIEGEL: Nun gut, Theorien gibt es ja genug. So hat zum Beispiel der Bochumer Volkssterndeuter Heinz Kaminski jetzt die Vermutung geäußert, das schlechte Wetter hänge mit dem Vulkanausbruch des Mount St. Helens zusammen. Kaminski behauptet, die Ascheteilchen hingen wie ein Schleier über der Nordhalbkugel und dienten als Kondensationskerne für die Regentropfen.
HORST: Diese Ascheteilchen-Theorie wird doch schon widerlegt durch die warme Witterung in Rußland und in den Vereinigten Staaten. Denn wenn die Ascheteilchen über die Nordhalbkugel verteilt wären, dann müßten ja überall ähnliche Zustände herrschen.