Ich möchte
den ganzen Text hier drin stehen haben, liebe Lara.
RECHTSSTAAT
Das Gesetz des Stärkeren
Schüchtert der Kachelmann-Prozess die Opfer ein und raubt ihnen die Stimme?
Der Kachelmann-Prozess ist eine dunkle Stunde für den Rechtsstaat. Und das unabhängig von der Wahrheit in der fraglichen Nacht, ja sogar unabhängig von dem Urteil, das letztendlich gesprochen wird. Warum? Weil die Art, in der in Mannheim von Verteidigung und manchen Gutachtern mit dem mutmaßlichen Opfer verfahren wird, eindeutige Signale sendet. Nach dem Kachelmann-Prozess dürfen Opfer sich in Deutschland wieder mehr denn je als Freiwild fühlen.
Schon jetzt wird nur jede zwölfte Vergewaltigung angezeigt. Doch welche Frau wird es in Zukunft überhaupt noch wagen, gar den eigenen Freund oder Ehemann zu bezichtigen? Denn eines ist klar: Es gilt weiterhin das Gesetz des Stärkeren.
In den 1970er und 1980er Jahren hatte die Frauenbewegung den Opfern sexueller Gewalt eine Stimme gegeben. Bis dahin hatten sich nicht etwa die Täter geschämt, sondern die Opfer. In den 1990er Jahren hatte der Rechtsstaat für diese Verbrechen Gesetze bzw. deren Verschärfung eingeführt (So ist die Vergewaltigung in der Ehe überhaupt erst seit 1997 strafbar!). Erleben wir jetzt, Anfang des 21. Jahrhunderts, dass diese Gesetze durch die Art der Prozessführung ad absurdum geführt werden und den Opfern wieder die Stimme geraubt wird?
Was ist geschehen seit dem 6. September 2010, diesem ersten *Prozess*tag gegen Jörg Kachelmann, der der schweren Vergewaltigung mit Todesdrohung angeklagt ist? Bis Ende März 2011 gab es genau 39 Verhandlungstage (die monatelangen Vorbereitungen nicht mitgerechnet) und mindestens acht kommen noch bis Ende Mai hinzu, davon nur einer im April. Denn dann fährt der Angeklagte, wie er mitteilen ließ, für drei Wochen nach Kanada und das Gericht muss zwangspausieren. Er verliere sonst das Sorgerecht für die Kinder, die bei seiner *geschiedenen Frau leben, argumentierte Kachelmann.
Bis Ende Mai werden es dann 47 Prozesstage sein, und vielleicht geht es noch länger. Prozesstage mit jeweils vier Richtern (darunter ein Ersatzrichter) und drei Laienrichtern (darunter ein Ersatzschöffe) sowie zwei Staatsanwälten, einem Rechtsbeistand für die Ex-Freundin, einer Pflichtverteidigerin für den Angeklagten plus Gerichtsdiener sowie fünf Gutachtern. Hinzu kommen: drei weitere Verteidiger für Kachelmann und zirka ein halbes Dutzend von der Verteidigung bestellte Gutachter.
Doch was ist herausgekommen bei diesem Mammut-Verfahren? Bisher nichts. Bis heute steht es weiterhin Aussage gegen Aussage – auch wenn das in manchen Medien nicht den Anschein hat. Denn weder scheint die Tatbehauptung des mutmaßlichen Opfers bewiesen, noch die Unschuldsbehauptung des Angeklagten.
Und die Gutachter? Es kommt darauf an. Die widersprechen sich mitunter. Was nicht zuletzt auch damit zu tun haben scheint, wer sie beauftragt hat. Die vom Gericht bestellten Gutachter, die bisher ausgesagt haben, neigen mehrheitlich dazu, der Frau zu glauben; sie wollen gleichzeitig jedoch nicht absolut ausschließen, dass es anders gewesen sein könnte. Und die von Kachelmanns Verteidigung beauftragten Gutachter erklären mehrheitlich: Die Frau lügt, der Mann ist unschuldig!
Der einzige Gutachter der Verteidigung, der sich die Freiheit genommen hat, auch für möglich zu halten, dass die Ex-Freundin die Wahrheit sagt, ist der Neuropsychologe Prof. Hans Markowitsch. Er hält erfahrungsgemäß Erinnerungslücken aufgrund von Traumatisierung für möglich. Resultat: Verteidiger Schwenn lud den Sachverständigen einfach wieder aus – Markowitsch wird nun im Auftrag der Staatsanwaltschaft sein Gutachten vortragen.
Bei Gutachter Prof. Brinkmann lief es genau umgekehrt. Der von der Verteidigung bestellte Rechtsmediziner war in seinem Gutachten weit über seine Kompetenz hinausgegangen und hatte Spekulationen über den Charakter von Jörg Kachelmann reichlich Raum gegeben, Tenor: Der Angeklagte sei ein besonders fürsorg*licher Vater und friedfertiger Mensch. Als der Mediziner endlich zur Sache kam, ging er kategorisch von der Selbstbeibringung der Verletzungen durch das mutmaßliche Opfer aus. Dass der vom Gericht bestellte Rechtsmediziner Prof. Rainer Mattern, der die Frau mehrfach und auch direkt nach der fraglichen Nacht untersucht hatte, durchaus „Fremdbeibringung“ für möglich hält, kann Brinkmann nicht irritieren. Mattern irrt sich eben. – Das Gericht schloss Brinkmann schließlich wegen „Voreingenommenheit“ als Gutachter aus.
Prof. Brinkmann, 70, ist ein in Ehren ergrauter, international *renommierter Wissenschaftler und der Kronzeuge von Sabine Rückert, der Gerichtsberichterstatterin der Zeit. Die wusste bereits im Juni 2010, also drei Monate vor Eröffnung des Verfahrens, dass die Anklage ein tragischer Justizirrtum sei und die Frau lüge, weil sie sich rächen wolle an dem armen Kachelmann. Suggestiv fragte die Journalistin: „Schlug die Huldigung einer blind Verliebten um in Vernichtungswünsche gegen den Verräter?“ Die Zeit-Gerichtsreporterin ging so weit, bereits im Juni 2010 all den zahlreichen Frauen, denen Kachelmann über Jahre gleichzeitig die wahre Liebe und eine gemeinsame Zukunft versprochen hatte, „Vernichtungswünsche“ zu unterstellen. Sie verglich die Aussagen der betrogenen Frauen mit dem biblischen Feldzug der Gemahlin von Potiphar gegen den schönen Joseph und kam zu dem Schluss: „Jetzt verfolgen enttäuschte Frauen den weniger schönen Kachelmann.“
Rückert berief sich dabei zentral auf das Gutachten von Brinkmann und das nicht zum ersten Mal. Über einen anderen „Justizirrtum“, der mit Hilfe dieses Gutachters „aufgeklärt“ wurde, hatte sie 2008 sogar ein ganzes Buch geschrieben („Unrecht im Namen des Volkes“). Da hatte eine junge Frau ihren Vater und Onkel beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. Das Landgericht Osnabrück verurteilte die beiden Männer zu Gefängnis und der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil. Gutachter Brinkmann und Anwalt Schwenn aber, in diesem Fall ebenfalls mit von der Partie, erwirkten ein Wiederaufnahme-Verfahren, das den bereits Verurteilten letztendlich den Freispruch brachte. Und Rückert berichtete. Ein bewährtes Trio also.
Es wäre an den Medien, solche Verflechtungen zu durchleuchten. Doch die beugen sich mehrheitlich dem Gesetz der Stärke. Sie rapportieren, was Verteidiger Schwenn machtvoll intoniert. In Fällen, in denen ebenso gut geschrieben werden könnte: Das Glas ist halbleer – wird versichert: Das Glas ist halbvoll. Halbvoll mit Zweifeln an der Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers.
Sicher, im Fall Kachelmann ist die Beweislage kompliziert. Wie meist bei Verfahren wegen des Verdachts eines Sexualverbrechens, bei dem selten ein Dritter zugegen ist. Und verschärft bei Sexualverbrechen innerhalb von Beziehungen, wo die Grenze zwischen Einvernehmlichkeit und Überwältigung nicht immer einfach zu ziehen ist.
Doch wird in diesem Fall jeder Ungereimtheit der Opferzeugin *triumphal nachgegangen, die zahllosen Ungereimtheiten auf Seiten des Angeklagten jedoch werden kaum beachtet. So unter anderem die Tatsache, dass Kachelmann nach dem Verlassen der Wohnung der Ex-Freundin noch in derselben Nacht sein Skype-Programm ausgewechselt und damit auch die Kommunikation mit dieser und wohl auch anderen Frauen gelöscht hat. Ganz zu schweigen von *Kachelmanns Auftreten vor Gericht, wo er seit Monaten beharrlich schweigt und einen zynischen Spaß zu haben scheint an dem kruden Vorgehen seines Anwalts auf Kosten von Geschädigten sowie missliebigen Gutachtern und Journalisten.
Journalisten, die nicht mantramäßig über die vermeintliche *Unschuld des armen Angeklagten berichten, behandelt der Hamburger Anwalt wie Schmierenjournalisten. Einschüchterungsversuche und Drohgebärden gehören zum üblichen Repertoire dieses „Star-Verteidigers“. In Verhandlungen reißt er häufig als erster das Wort an sich, manches Mal noch vor dem Richter, und gibt es auch so schnell nicht wieder her. In nasalem Ton verteilt der Hanseat dann Noten an Richter und Staatsanwälte und walzt alles nieder, was nicht in seine Strategie passt. Es ist schon erstaunlich, was das Mannheimer Gericht sich von diesem Matador alles so bieten lässt. Man fühlt sich in Mannheim wirklich wie in einem schlechten Film, in einem sehr schlechten Film.
Doch eines ist klar: Egal, welches Urteil letztendlich fallen wird und eigentlich auch egal, ob Kachelmann nun schuldig ist oder *unschuldig – dieser Prozess ist auf jeden Fall ein Rückschlag für alle Opfer sexueller Gewalt.
Und das hat vielfache Gründe. Da ist die strukturelle Täterorientierung des deutschen Rechts, das Angeklagten viele Rechte gibt und Opfer ausliefert. Da ist die häufige ökonomische Überlegenheit von Angeklagten in Fällen sexueller Gewalt, in diesem Fall kommt noch der „Promi-Faktor“ hinzu. Da ist das hemmungslose Vorgehen von Verteidigern, die auch noch die kleinste formaljuristische Lücke nutzen und nicht zögern, das Gericht zu degradieren, Opfer zu verhöhnen und unliebsame Gutachter und Journalisten einzuschüchtern. Und da ist die zunehmende Macht der Gutachter bei Gericht. Zwar sagt in ein und demselben Fall der eine oft genau das Gegenteil vom anderen, aber dennoch stützen sich verunsicherte Richter oft kritiklos auf diese Gutachten, statt selber zu richten.
Um den Rechtsstaat ist es gerade in Fällen sexueller Gewalt in Deutschland nicht gut bestellt zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Alice Schwarzer, EMMA Frühling 2011