15.03.2012
Veteranen der Waffen-SS in Riga
Missbrauchte Lebensläufe
An diesem Freitag wird in Riga wie jedes Jahr der Kämpfer der lettischen Legion der Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg gedacht. Doch bei den Veteranen und ihren einstigen Gegnern herrscht mehr Nachdenklichkeit als früher.
Nordische Birken, nordische Kiefern. Stunde auf Stunde verfallene Kolchosen, graue Dörfer: Wie ein Riegel schiebt sich Kurland - Kurzeme, wie die Letten diesen Teil ihres Landes nennen - von der Ostsee in die Tiefe des Raums Richtung Russland. Vor 67 Jahren, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, haben
Aleksandrs Komarovskis und
Peteris Liepins hier vielleicht aufeinander geschossen, genau wie
Inese Spura und
Visvaldis Lacis. Die einen fochten für Hitler, die anderen für Stalin - für die beiden Diktatoren, die damals den Osten Europas zum „Blutland“ des 20. Jahrhunderts gemacht haben, wie es
der Historiker Timothy Snyder in seinem 2010 erschienenen Buch „Bloodlands“ genannt hat.
Hitler hatte damals befohlen, die eingekesselte „Festung Kurland“ um jeden Preis zu halten. Zur Unterstützung der deutschen Streitkräfte hatte er eine „Lettische SS-Freiwilligenlegion“ aufstellen lassen, und
Visvaldis Lacis, Kind einer patriotischen lettischen Familie, die in Stalins Sowjetunion eine noch ärgere Bedrohung des Vaterlandes sah als im nationalsozialistischen Deutschland, hatte in ihren Reihen bis zuletzt gekämpft, so wie
insgesamt vielleicht 160 000 Letten, die damals in deutschen Dienst traten.
Von den Geschehnissen gibt es zwei gegensätzliche Deutungen
Aus den letzten Kriegstagen ist ihm vor allem dieses Bild in Erinnerung geblieben: plötzlich im Unterholz vor ihm zwei Rotarmisten, kaum fünf Meter weg, Bajonett am Gewehr, tödlich erschrocken wie er selbst. Die Waffen zucken hoch, er feuert, doch schon sind sie weggetaucht, einer rechts, einer links. Dann hat der Wald sie verschluckt.
Visvaldis Lacis ist damals weitergestürmt, durch die Birken und Kiefern, und kurz darauf hat er dann diesen Katjuscha-Splitter ins Bein bekommen, und der Krieg war aus für ihn. Die zwei Feinde aber, die Sekunde des Erschreckens im Wald, sind ihm nie aus dem Sinn gegangen. Schlank waren sie und hochgewachsen, mit starken Backenknochen und schmalen Augen, vielleicht Usbeken oder Tadschiken.
Inese Spura saß in jenen Tagen auf der anderen Seite der Front in ihrer Stabsstelle. Sie hatte den Krieg als begeisterte Jungkommunistin begonnen, zuletzt diente sie in der Telefonzentrale der Division. Gestenreich, angetan mit sowjetischen Orden auf ihrem besten Kostüm, erzählt die alte Dame bei Plätzchen und Kaffee, wie sie am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, die Telefonkabel stöpselte für den letzten Befehl:
„14 Uhr Feuer einstellen.“
Es gibt zwei gegensätzliche Deutungen von dem, was damals in Lettland geschehen ist. Die Moskauer Lesart ist einfach: Sowjetische „Befreier“ kämpften gegen deutsche „Faschisten“. Die lettischen Kämpfer der SS waren für die Sowjets einfach nur Kollaborateure des Feindes. Diese Erzählung beginnt damit, dass die Wehrmacht nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 in Lettland von einem großen Teil der Bevölkerung mit Blumen empfangen wurde. Am
Holocaust in Lettland (bis Ende 1941 wurden hier
fast alle Juden ermordet) waren einheimische Einheiten beteiligt, und als 1943 die „Lettische SS-Freiwilligenlegion“ geschaffen wurde, setzte die Bevölkerung der Aushebung kaum Widerstand entgegen.
Die lettische Gegenerzählung setzt etwas früher an. Hier ist der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 der Ausgangspunkt, das Abkommen, in welchem die beiden Diktatoren Osteuropa untereinander aufteilten, um wenige Tage später gemeinsam Polen zu überfallen.
Das unabhängige Lettland ist damals wie die Nachbarstaaten Estland und Litauen von der Sowjetunion besetzt worden. Der Terror, der mit dem Eintreffen der Roten Armee 1940 einsetzte, die Deportationen und Morde des Geheimdienstes NKWD, sind bis heute ein nicht überwundenes Trauma der baltischen Völker.
Zweimal im Jahr gibt es in Riga die Konfrontation
Dass man sich freute, als die Deutschen 1941 die Russen wieder vertrieben, und dass man willig mitkämpfte, als Hitler estnische und lettische SS-Divisionen schuf, bestreiten auch lettische Fachleute wie Valters Nollendorfs nicht, der Vorstandsvorsitzende des Okkupationsmuseums in Riga. Sie weisen aber darauf hin,
dass es den Letten damals nicht darum gegangen sei, Hitler zu helfen, sondern darum, im Ringen der beiden Terrorregimes in Ost und West die Existenz ihres eigenen kleinen Landes zu wahren. Man habe gehofft, so die lettische Version dieser Geschichte, dass der Zweite Weltkrieg so enden könnte wie der Erste, als Russland und Deutschland gleichzeitig zusammenbrachen und die kleinen Völker dazwischen ihre Chance hatten. Für diesen Fall hätten dann die lettischen SS-Verbände zum Kern einer eigenen Armee werden können.
Auch vor dem Vorwurf, am Holocaust beteiligt gewesen zu sein, nimmt diese Denkschule die Legionäre in Schutz. Als nämlich die SS 1943 durch allgemeine Mobilisierung zwei lettische Divisionen aufgestellt habe, sei der Judenmord in Lettland längst abgeschlossen gewesen. Die einheimischen Mittäter seien zwar möglicherweise damals auch in die neuen Einheiten aufgenommen worden, aber der größte Teil der Legionäre habe nur im Fronteinsatz gekämpft.
In Riga, der von Backsteingotik, Renaissance und Jugendstil geprägten Hauptstadt Lettlands, prallen diese beiden Geschichtsdeutungen zweimal im Jahr aufeinander: einmal am 9. Mai, wenn die
russischsprachigen Bewohner des Landes (etwa ein Drittel der Bevölkerung) mit großem Gepränge den „Tag des Sieges“ begehen, und ein anderes Mal am 16. März, wenn die Veteranen der lettischen SS-Verbände sich beim Freiheitsdenkmal am Rande der Altstadt versammeln. Die Empörung auf beiden Seiten schlägt dann jedes Mal hohe Wogen.
Den „Russen“ wirft der Chef der lettisch-populistischen „Nationalen Allianz“, Raivis Dzintars, dann etwa vor, sie feierten nichts anderes als die Okkupationspolitik des „totalitären Stalin-Regimes“, während auf der anderen Seite russische Diplomaten spitz mitteilen, die „Heroisierung“ von Nazi-Schergen wecke in ganz Europa „Empörung“. Jedes Jahr vor dem 16. März herrscht auch die Sorge, es könne zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Teilnehmern des Legionärsmarsches und Gegendemonstranten kommen.
In den vergangenen Jahren hatte die lettische Regierung stets versucht, den 16. März mit möglichst wenig Aufsehen hinter sich zu bringen - auch aus Furcht vor einem Image-Schaden für Lettland, wie er entstanden war, als das Parlament in Riga den Tag der Legionäre Ende der neunziger Jahre zu einem offiziellen Gedenktag erklärt hatte. Nach nur zwei Jahren wurde dieser Beschluss rückgängig gemacht. Doch dieses Jahr ist die Aufregung größer als sonst,
nachdem Ende Februar Präsident Andris Berzins die internationale Kritik am Gedenken an die lettische SS-Legion als „unfair“ bezeichnet hat.
Kein Zorn auf die alten Gegner, sondern Nachdenklichkeit
An den Kaffeetischen und in den Rentnerwohnungen der wenigen Kämpfer, die heute noch am Leben sind, hört man leisere Töne. Wer alte Rotarmisten besucht,
Aleksandrs Komarovskis vielleicht oder
Inese Spura, die beide 1945 das Blutbad der Kurlandschlachten durchlebt haben, wird zwar erfahren, dass beide bis heute über weite Strecken der sowjetischen „großen Erzählung“ aus alten Zeiten folgen. Beide hatten sich schon ganz jung der Sowjetmacht angeschlossen, und beide gehörten nach dem Krieg zur neuen Elite der Lettischen Sowjetrepublik - Aleksandrs Komarovskis als Soldat, zuletzt im Rang eines Oberstleutnants, Inese Spura als Parteimitglied und Chefredakteurin sowjetischer Kinderzeitschriften.
Manche der alten Mythen sind bei ihnen noch so lebendig, als seien sie erst gestern geprägt worden.
Inese Spura legt ihre Orden an, wenn Journalisten kommen, und wenn Komarovskis von der Roten Armee erzählt, die „Europa von den Nazis befreit“ habe, greifen seine Arme zur großen Geste aus - genau wie damals, als es noch galt, auf Kadersitzungen zu den leuchtenden Horizonten des Fünfjahrplans zu weisen.
Zugleich aber ist bei diesen Männern und Frauen, die damals bis zuletzt im Kampf standen (die eingekesselten Deutschen und Letten streckten erst am Tag der Kapitulation die Waffen), kein Zorn auf die alten Gegner zu spüren. Statt der dröhnenden Beschimpfungen der Marktplätze ist bei ihnen Nachdenklichkeit der Grundton.
Dass mit den russischen Panzern nicht das Paradies ins Land kam, sondern Mord und Massendeportationen, leugnen nicht einmal mehr die Privilegierten der alten Nomenklatura. Weder dem Oberstleutnant Komarovskis noch der Genossin Spura fällt es heute schwer, Achtung aufzubringen für die Gegner von früher, die sich unter dem Eindruck von Stalins Terror den lettischen SS-Verbänden anschlossen.
„Ich verurteile diese Männer nicht“, sagt Inese Spura, vorgebeugt über ihr Kaffeegeschirr. Heute wisse sie, dass die Männer auf der anderen Seite damals genau wie sie glaubten, für ein freies Lettland zu kämpfen. Der postsowjetischen Siegesfeier am 9. Mai ist sie zuletzt ferngeblieben.
„Dieser Krieg“, sagt die einstige Kommunistin, „muss aufhören.“
Auf der anderen Seite, bei denen, die zu Sowjetzeiten viele Jahre als „Faschisten“ verfolgt und gedemütigt wurden, ist der Ton oft ebenso leise.
Die Lebensläufe dieser Männer sind anders verlaufen als die von Aleksandrs Komarovskis oder Inese Spura. Laufbahnen und Anerkennung blieben ihnen verwehrt. Peteris Liepins etwa, Jahrgang 1924, wurde nach der Kapitulation in ein Arbeitslager bei Moskau gesteckt, später schlug er sich als Lkw-Fahrer durch, und
während die beiden ehemaligen Rotarmisten heute komfortable Appartements in Riga bewohnen, haust er in einer winzigen, mit Medikamentenschachteln, Nippesfiguren und Zeitungsschnipseln vollgestopften Plattenbauwohnung.
„Politiker missbrauchen unsere Biographien“
Trotz aller Unterschiede prägt die eigentümliche Mischung aus alten Stereotypen und neuer Nachdenklichkeit im Duktus der alten Rotarmisten aber auch die Erzählungen der SS-Veteranen. So ist die Anklage gegen den sowjetischen Terror Dreh- und Angelpunkt im Denken dieser Männer:
Peteris Liepins weiß noch genau, wie Stalins Schergen 1940, gleich nachdem in Riga die ersten sowjetischen Panzer erschienen waren, befreundete Familien samt Kindern und Großeltern nach Sibirien verschleppten. Er hat die Annexion Lettlands durch Stalin in lebendiger Erinnerung, und das Argument, dass man (trotz des Holocausts, den er durchaus wahrnahm) mit den Deutschen gehen müsse, um die Russen loszuwerden, hat er damals gehört und geglaubt.
Dennoch ist auch in diesem Lager der Ton gedämpft. Liepins hegt heute trotz Arbeitslager, trotz Jahrzehnten der Besetzung keinen Groll mehr gegen die „Russen“. Okkupanten? - „Die Offiziere von damals kann man sicher so nennen“, sagt er heute.
Aber für die junge Generation gelte das natürlich nicht mehr. Den lärmenden Streit um den 16. März und den 9. Mai lehnt der alte Legionär ebenso ab wie auf der anderen Seite Inese Spura: „Politiker auf beiden Seiten“, stellt er fest, „missbrauchen unsere Biographien.“
Diese differenzierten Töne der letzten Veteranen sind trotz des Theaterdonners, auf beiden Seiten zuletzt in Lettland immer stärker wahrgenommen worden.
Die Rigaer Soziologin Vita Zelce (deren Vater in der Roten Armee gedient hat, während der Onkel bei der SS kämpfte) hat Ende 2011 in einem Buch unter dem Titel „Zwei Seiten“ die Perspektiven von Überlebenden beider Lager gleichberechtigt nebeneinandergestellt und sich damit über Nacht an die Spitze der lettischen Bestseller-Listen gesetzt.
Weder Schurken noch Helden - sondern „Opfer wie wir“
Voldemars Kalpins, Rotarmist und später Kulturminister der Lettischen Sowjetrepublik, hat schon 1988 bekannt, angesichts des Unglücks, das nach 1945 über Lettland kam, habe er manchmal bereut, dass er nicht noch „am Tag des Sieges“ gefallen sei. Zu so radikaler Selbstkritik sind die meisten Veteranen nicht bereit.
Inese Spura, die von der begeisterten Jungkommunistin zur Karrierefunktionärin wurde, leugnet zwar nicht Stalins Terror, aber sie beharrt darauf, für die Verbrechen von damals seien allein die unmittelbaren Täter verantwortlich.
Sie selbst habe nur Kinderzeitschriften herausgegeben, und darauf sei sie stolz.
Auf der anderen Seite antwortet Visvaldis Lacis, der Mann, der damals den zwei Feinden in die fremdartig geschnittenen Augen sah, auf die Frage, wie er es verantworten könne, an Hitlers Seite gekämpft zu haben, während die Krematorien noch rauchten, lediglich mit einer Gegenfrage: „Und wie konnten die Alliierten es verantworten, Stalin zu unterstützen - den größten Verbrecher der Geschichte?“
Die Diskussion ist im Gang. Manche, die damals zwischen Birken und Kiefern im Kurlandkessel kämpften, sind alt genug geworden, um zu erkennen, dass diejenigen, die damals auf der anderen Seite standen, sehr oft weder Schurken waren noch Helden, sondern, wie der alte Rotarmist Komarovskis es beim Abschied noch gesagt hat, „Opfer wie wir“ - wie Millionen in diesen Jahren, als zwei Diktatoren den Osten Europas zum „Blutland“ machten.
Zur Erkenntnis der eigenen Verantwortung, der eigenen Mitschuld gar, wird vielleicht erst die nächste Generation finden. „Dafür“, sagt Vita Zelce, deren Vater und Onkel damals gegeneinander kämpften, „ist unsere Gesellschaft vielleicht noch nicht reif.“
Fotos von Komarovskis und Lacis:
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