312] DR. NELTE: Habe ich Sie gestern richtig verstanden, daß Sie sagten, Sie hätten schon im Herbst 1940 erkannt, daß Hitler die Sowjetunion angreifen wollte?
PAULUS: Ich habe gestern gesagt, daß diese operative Ausarbeitung die theoretische Vorbereitung war für einen Überfall.
DR. NELTE: Aber Sie nahmen doch damals schon an, daß es Hitlers Absicht war.
PAULUS: Es war aus der Art des Auftrages zu entnehmen, daß diese theoretische Vorarbeit auch ihre praktische Durchführung erfahren würde.
DR. NELTE: Ferner haben Sie gestern gesagt, daß keinerlei Nachrichten des Abwehrdienstes vorlagen, die auf Angriffsabsichten der Sowjetunion schließen ließen.
PAULUS: Jawohl.
DR. NELTE: Hat man eigentlich im Kreise des Generalstabs des Heeres über diese Dinge nicht gesprochen?
PAULUS: Ja, man hat auch darüber gesprochen. Man hat seine großen Bedenken dahin auch geäußert; aber irgendwelche Nachrichten darüber, daß Kriegsvorbereitungen der Sowjetunion erkennbar waren, sind mir nicht bekannt geworden.
DR. NELTE: Also waren Sie fest davon überzeugt, daß es sich um einen glatten Überfall auf die Sowjetunion handeln mußte?
PAULUS: Die Anzeichen dafür schlossen dies jedenfalls nicht aus.
VORSITZENDER: Der Zeuge muß langsamer sprechen.
DR. NELTE: Der Zeuge hat gesagt, daß, wenn ich recht verstanden habe, die Anzeichen die Schlußfolgerungen nicht ausschlossen.
PAULUS: Der Auftrag zu der Ausführung dieser zunächst theoretischen Prüfung der Angriffsverhältnisse wurde betrachtet, nicht nur von mir, sondern auch von den anderen eingeweihten Bearbeitern als die Vorstufe der Vorbereitung für einen Angriff, das heißt Überfall auf die Sowjetunion.
DR. NELTE: Sind in der Erkenntnis dieser Tatsache Ihrerseits oder seitens des Generalstabs des Heeres oder des Oberbefehlshabers des Heeres Vorstellungen bei Hitler erhoben worden?
PAULUS: Es ist mir persönlich nicht bekannt, in welcher Form und ob der Oberbefehlshaber des Heeres Vorstellungen erhoben hat.
DR. NELTE: Haben Sie selbst gegenüber Generaloberst Halder oder dem Oberbefehlshaber von Brauchitsch Ihre schweren Bedenken geltend gemacht?
[313] PAULUS: Wenn ich richtig urteile, dann glaube ich, soll ich hier als Zeuge auftreten für die Vorgänge, die den Angeklagten vorgeworfen werden. Ich bitte deshalb den Gerichtshof, mich von der Beantwortung dieser auf mich zielenden Fragen zu entbinden.
DR. NELTE: Herr Feldmarschall, Sie wissen offenbar nicht, daß Sie auch zu dem Kreise der Angeklagten gehören, denn Sie gehören zu der als verbrecherisch angeklagten Organisation der Oberbefehlshaber.
PAULUS: Und daher habe ich eben, da ich glaube, daß ich hier als Zeuge für die Vorgänge, die zu der Anklage gegen die jetzigen Angeklagten geführt haben, gebeten, von der Beantwortung dieser mich betreffenden Frage entbunden zu werden.
DR. NELTE: Ich bitte den Hohen Gerichtshof, darüber zu entscheiden.
VORSITZENDER: Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß Sie die Fragen beantworten müssen, die Ihnen bis jetzt vorgelegt wurden.
PAULUS: Dann darf ich nochmal um Wiederholung bitten.
DR. NELTE: Ich habe Sie zuletzt gefragt, ob Sie die von Ihnen erkannten schweren Bedenken Ihrem Chef Halder oder dem Oberbefehlshaber von Brauchitsch vorgetragen haben?
PAULUS: Ich kann mich nicht erinnern, mit dem Oberbefehlshaber des Heeres darüber gesprochen zu haben, dagegen mit dem mir vorgesetzten Generalstabschef.
DR. NELTE: Teilte er auch Ihre Ansichten?
PAULUS: Er teilte auch meine Ansichten, das heißt die Ansichten der großen Sorge vor einem derartigen Vorhaben.
DR. NELTE: Aus militärischen oder moralischen Gründen?
PAULUS: Aus den vielseitigsten Gründen, sowohl militärischen als auch moralischen.
DR. NELTE: Es steht also fest, daß Sie und der Generalstabschef von Halder diese Tatsachen kannten, die den Krieg gegen Rußland als einen verbrecherischen Überfall dartun und daß Sie trotzdem nichts unternommen haben. Sie haben in Ihrer Erklärung gesagt, Sie sind dann später Oberbefehlshaber der 6. Armee geworden?
PAULUS: Jawohl.
DR. NELTE: Sie haben also in Kenntnis auch der eben festgestellten Tatsachen die Führung der Armee übernommen, die auf Stalingrad vorgestoßen ist. Hatten Sie keine Bedenken, sich zum Werkzeug des von Ihnen als verbrecherisch angesehenen Angriffs zu machen?
[314] PAULUS: So, wie die Lage damals sich für den Soldaten darstellte, in Verbindung auch mit der außerordentlichen Propaganda, die betrieben wurde, habe ich damals wie so viele geglaubt, meinem Vaterlande gegenüber meine Pflicht tun zu müssen.
DR. NELTE: Aber Sie kannten doch die Tatsachen, die dem entgegenstanden?
PAULUS: Die Tatsachen, wie sie nachher klar geworden sind, gerade durch meine Erlebnisse als Oberbefehlshaber der 6. Armee, die ihren Höhepunkt bei Stalingrad erreichten, kannte ich nicht. Auch diese Erkenntnis dieses verbrecherischen Überfalls ist mir erst später bei der Überlegung der ganzen Zusammenhänge gekommen, denn vorher hatte ich nur einen Einblick in Ausschnitte.
DR. NELTE: Dann muß ich also Ihre. Bezeichnung »verbrecherischen Überfall« oder auch die sonstigen Bezeichnungen für die Kriegshetzer als eine nachträgliche Erkenntnis auffassen?
PAULUS: Jawohl.
DR. NELTE: Und ich darf sagen, daß Sie trotz Ihrer schweren Bedenken und Kenntnis der Tatsachen, die den Krieg gegen Rußland als Angriffskrieg und verbrecherischen Überfall erscheinen ließen, es für Ihre Gehorsamspflicht gehalten haben, den Befehl der 6. Armee zu führen und Stalingrad bis zum letzten zu halten.
PAULUS: Ich habe gerade erläutert, daß ich damals, als ich den Befehl übernahm, den Umfang des Verbrechens, der in der Eröffnung und Durchführung dieses Eroberungskrieges lag, nicht in dem Umfang und in der Schärfe erkannt hatte und erkennen konnte, wie es meine Erfahrungen, die ich als Oberbefehlshaber der 6. Armee bei Stalingrad sammeln mußte, dann ergaben.
DR. NELTE: Sie sprechen von dem Umfang, aber von der Tatsache, daß Sie die Gründe kannten, vielleicht als einer der wenigen kannten, haben Sie nicht gesprochen.
PAULUS: Ich kannte sie nicht. Ich kannte die Einleitung dieses Krieges als einen Angriffskrieg, damals aus der Gesamthaltung, aus der Masse des Offizierskorps entspringend, sah ich in der Begründung des Schicksals des Volkes und des Landes auf einer Machtpolitik damals nichts Ungewöhnliches.
DR. NELTE: Also Sie billigten diese Gedankengänge?
PAULUS: Nicht die Tendenz, die sich nachher herausstellte, aber ich schloß nicht aus, daß auch das Schicksal des Landes auf der Machtpolitik mit aufgebaut werden könnte. Es war eine – mit einer Verkennung der Tatsache, daß zu dieser Zeit und im 20. Jahrhundert nur die Demokratie und die Anerkennung des Nationalitätenprinzips die bestimmenden Faktoren sind.
[315] DR. NELTE: Erkennen Sie auch anderen, die nicht so nahe an der Quelle saßen, den guten Glauben zu, daß sie für ihr Vaterland das beste wollten?
PAULUS: Natürlich.
DR. SAUTER, VERTEIDIGER FÜR DIE ANGEKLAGTEN VON SCHIRACH UND FUNK: Herr Zeuge, Sie haben bei Ihrer gestrigen Aussage einmal erwähnt, daß Sie als die Schuldigen an diesem Krieg auch die Hitler-Regierung betrachten. Stimmt das?
PAULUS: Ja, das hab' ich...
DR. SAUTER: In Ihrer schriftlichen Aussage, die Sie unter dem 9. Januar 1946, und zwar, wie es heißt, in einem Kriegsgefangenenlager abgegeben haben, steht davon nichts, wenigstens habe ich bisher nichts davon gefunden.
PAULUS: Dieses Schreiben hat damit auch nichts zu tun. Das ist ein Schreiben an die Sowjetregierung, in dem ich mich auseinandergesetzt habe mit den Fragen, wie sie in der Hauptsache die Erscheinungen, die bei der 6. Armee in Rußland vorgekommen sind, betrafen, und das sich mit meinen persönlichen Erfahrungen befaßt.
DR. SAUTER: In diesem Schreiben steht aber unter dem 8. Januar 1946 ausdrücklich, und ich zitiere hier:
»Heute, wo über die Verbrechen Hitlers und seiner Helfer Gericht der Völker gehalten wird, sehe ich mich verpflichtet, alles, alles, was mir auf Grund meiner Tätigkeit bekannt ist und als Beweismaterial für die Schuld der Kriegsverbrecher im Nürnberger Prozeß dienen kann, der Sowjetregierung zu unterbreiten.«
Trotzdem steht in der schriftlichen Erklärung, die ja sehr ausführlich ist, davon nichts.
VORSITZENDER: Dr. Sauter, wenn Sie den. Zeugen über diesen Brief ins Kreuzverhör nehmen, müssen Sie den Brief erst als Beweismaterial vorlegen, und zwar den ganzen Brief.
DR. SAUTER: Das ist die Erklärung, die der Zeuge am...
VORSITZENDER: Ich habe keinen Zweifel darüber, ich meine nur, wenn Sie ein Kreuzverhör des Zeugen wegen dieses Briefes vornehmen und ihm diesen Brief vorhalten, dann müssen Sie ihn als Beweisstück vorlegen. Haben Sie eine Abschrift dieses Briefes?
DR. SAUTER: Jawohl, es ist das die Erklärung, die der russische Ankläger gestern dem Zeugen bereits vorgehalten hat und bezüglich derer der Zeuge angab, daß er sie wiederhole und als richtig anerkenne.
[316] VORSITZENDER: Ja, ich verstehe, ich war nicht ganz sicher, ob es tatsächlich vorgelegt wurde, oder ob es in Anbetracht der Vorladung des Zeugen selbst zurückgezogen wurde. Ist der Brief nun vorgelegt worden?
DR. SAUTER: Aber der Zeuge hatte ausdrücklich auf eine Frage des russischen Anklägers diese Aussage wiederholt.
VORSITZENDER: Herr Willey, wurde der Brief vorgelegt oder nicht?
MR. WILLEY: Er wurde nicht vorgelegt.
VORSITZENDER: Gut, Sie können fortsetzen, ihn in dieser Sache zu verhören, jedoch muß das Dokument vorgelegt werden. Das ist alles.
DR. SAUTER: