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Vollständige Version anzeigen : Rückversicherungsvertrag



Klaus E. Daniel
13.10.2003, 14:27
Der Angelpunkt der Bismarckschen Außenpolitik waren ja seine Verträge, die Deutschland schützen sollten.

Da ich den Eindruck habe, daß einige hier nicht ganz sattelfest sind, eine knappe Zusammenfassung:

"Rückversicherungsvertrag, 1887 auf drei Jahre geschlossener dt.-russ. Geheimvertrag über gegenseitige wohlwollende Neutralität. Reichskanzler Bismarck wollte mit dem R. einer russ.-frz. Annäherung und der Gefahr eines Zweifrontenkrieges vorbeugen; 1890 nach Bismarcks Entlassung nicht erneuert."

KED

pavement
13.10.2003, 14:30
in dem geheimvertrag wurde noch die wohlwollende haltung deutschlands gegenüber der russischen meerengenpolitik festgehalten, oder?

Klaus E. Daniel
13.10.2003, 14:45
Ja, pavement. Um es genau zu sagen, eine Anmerkung:

Bismarcks Rückversicherungsvertrag
1887 schlossen Rußland und Deutschland ein äußerst wichtiges bilaterales Abkommen, das unter dem Namen "Rückversicherungsvertrag" bekannt wurde und das Rußland im Falle eines neuen Krieges zwischen Deutschland und Frankreich zur Neutralität verpflichtete. Die Vereinbarung galt jedoch nur, wenn Deutschland von Frankreich angegriffen würde, nicht im umgekehrten Fall.

Der Rückversicherungsvertrag galt zunächst für drei Jahre. Als im Frühjahr 1890 seine Erneuerung anstand - genau in dem Moment, als Bismarck aus dem Amt ausschied - wurde er nicht verlängert. Wäre Bismarck weiter Kanzler geblieben, hätte er ihn mit Sicherheit verlängert, aber er war entlassen worden. Der russische Außenminister Giers war ebenfalls entschieden für die Verlängerung. Aber der neue deutsche Reichskanzler General Leo von Caprivi - der unter dem Einfluß des anglophilen Friedrich von Holstein stand, der seinerseits für die Verlockungen Edwards VII. empfänglich war - , überzeugte den Kaiser, daß eine Verlängerung des Vertrages nicht notwendig sei.

Bismarcks Rücktritt und die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags zusammengenommen hatten dramatische Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den europäischen Mächten. Bismarck hatte den klaren Überblick über eine ganze Reihe vorwiegend geheimer diplomatischer und die Verteidigung betreffender Verträge mit Rußland, Österreich, Italien und Rumänien. Weil er der Architekt aller dieser Bündnisse war, war er zuversichtlich, daß sie im Krisenfall unter seiner Lenkung wie ein Sicherheitsnetz ineinander greifen würden, auch wenn sie sich im einzelnen ein wenig widersprechen mochten. Aber seine Nachfolger hatten kein Interesse daran, diese komplexe Diplomatie weiter fortzuführen. Vor allem in Deutschland fürchtete man, daß der Vertrag mit Rußland in der Öffentlichkeit bekannt werden könnte, was als große Peinlichkeit für seine Urheber betrachtet worden wäre.

Aber für Bismarck hatte festgestanden, daß der Vertrag mit Rußland absolut notwendig war - und sei es nur, um zu verhindern, daß Rußland versuchen würde, mit Frankreich einen Vertrag als Gegengewicht gegen das Bündnis Deutschlands mit Österreich und Italien abzuschließen. Bismarcks Ansicht sollte durch die geschichtliche Entwicklung vollkommen bestätigt werden: Die russisch-französischen Verhandlungen begannen augenblicklich, nachdem der Rückversicherungsvertrag nicht verlängert worden war, und die Abhängigkeit von Österreich sollte sich in den letzten Tagen vor dem Ausbruch des Weltkrieges als wesentlicher Faktor erweisen.

Ein Problem war, daß Frankreich während dieser ganzen Zeit mit Überlegungen beschäftigt war, den beschämenden Friedensvertrag von 1871 rückgängig zu machen. Dies war und blieb die vorherrschende außenpolitische Zielsetzung. Einflußreiche Kreise in Frankreich, aber auch in anderen europäischen Staaten, waren überzeugt, daß ein neuer Krieg in Europa unvermeidbar wäre - deshalb, so lautete die Logik, müsse man sich darauf vorbereiten. Aber in Wirklichkeit war es gerade diese Vorstellung der Unvermeidbarkeit, die zum Kriege führte und die Sicht auf vorhandene Alternativen versperrte. Die Kriegsplanung durch die Generalstäbe, die von dieser "Unvermeidbarkeit" ausging, war es gerade, die diese schuf, unterstützt natürlich von der Dummheit der politischen Führung, nicht den Weg der Kooperation zu gehen.

Zar Alexander III. sah es nicht als Verlust an, auf den Rückversicherungsvertrag zu verzichten, und auch die beiden führenden Militärs, Wannowskij und Obrutschew, waren nicht im geringsten über einen möglichen Angriff Deutschlands besorgt. Sie waren sicher, daß Frankreich sofort versuchen würde, Elsaß-Lothringen zurückzuerobern, falls sich Deutschland einem Angriff Englands auf Rußland anschlösse, und daß Deutschland keinen Zweifrontenkrieg riskieren würde. So war es nur Außenminister Giers, der sich in Rußland über den Rücktritt Bismarcks und die Nichterneuerung des Vertrages Sorgen machte. Giers war auch nicht von dem Gerede erbaut, daß die Nichterneuerung Rußland "freie Hand" geben würde, da er weder für die imperialistischen russischen Absichten auf dem Balkan noch für Abenteuer in Zentralasien Sympathien hegte. Giers befürchtete, daß die Allianz zwischen Rußland und Frankreich Europa in zwei gegnerische militärische Lager spalten und die Gefahr eines großen Krieges heraufbeschwören würde.

Die deutsche Regierung war im übrigen über alle diese Überlegungen informiert, denn der deutsche Botschafter in Rußland, von Schweinitz, warnte in seinen Berichten ausdrücklich, daß die Nichterneuerung einen Prozeß in Gang setzen würde, der zu einem russisch-französischen Bündnis führen werde.

Wenn man diese Periode im Nachhinein betrachtet, wundert man sich über die sträfliche Nachlässigkeit, mit der die deutsche Regierung die Möglichkeit außer acht ließ, daß Rußland sofort das Bündnis mit Frankreich suchen würde und umgekehrt. Sie schien mit Blindheit geschlagen, was die Folgen ihrer eigenen Zielsetzungen betraf, ähnlich wie die Kriegspartei in Washington heute. Caprivi z.B. vertrat die lächerliche Ansicht, eine russisch-französische Allianz sei für Rußland deshalb uninteressant, weil Rußlands einziges Interesse in der Kontrolle der Meeresengen (Bosporus und Dardanellen) bestünde. Von Schweinitz machte das Argument geltend, der Rückversicherungsvertrag würde die russische Neutralität wenigstens für die ersten Wochen nach einem Kriegsausbruch garantieren, doch Caprivi lehnte dies ab, da Deutschland den größten Teil seiner Truppen ohnehin in der Nähe der russischen Grenze stationieren würde.

Bald wurde jedoch deutlich, daß die Frage der sofortigen und gleichzeitigen Mobilmachung die entscheidende Frage in den russisch-französischen Verhandlungen war; für die Franzosen war dies die alles entscheidende Frage. Auch die Vorstellung, Rußland hätte nur Interesse an den Meeresengen, war eine gravierende Fehleinschätzung, denn darum ging es bei den russisch-französischen Verhandlungen 1890 nicht.

Deutschlands Begriffsstutzigkeit war enorm - selbst noch, als der französische Generalstabschef Raoul François Charles Le Mouton De Boisdeffre zwei Wochen lang erste offizielle Verhandlungen über das erstrebte Bündnis mit Rußland praktisch unter den Augen des Kaisers führte, der bei den Manövern in Narva zu Besuch war. Während des Besuches der französischen Flotte in Kronstadt und bei den folgenden, beispiellos aufwendigen Festlichkeiten in Petersburg entstand dann der erste Entwurf des russisch-französischen Vertrags. Er enthielt als ersten Punkt, daß alle den Frieden in Europa betreffende Fragen zwischen den beiden Staaten koordiniert werden sollten, und besagte zweitens, daß es zu einer sofortigen und gleichzeitigen Mobilmachung kommen würde, falls ein Bündnispartner von einem oder mehreren Mitgliedern des Dreibunds Deutschland-Österreich-Italien angegriffen werden sollte. Ebendiese Klausel trug dann bekanntermaßen zu der späteren Unvermeidbarkeit des Ersten Weltkrieges bei.

Hinzu kamen noch die Manipulationen korrupter Elemente wie des russischen Botschafters in Frankreich, Baron von Mohrenheim, einer schrecklichen und aufdringlichen Person mit der Neigung, alles zu übertreiben - wie z.B. die Gefahr, die angeblich vom Dreibund ausging, oder den Fortschrittsgrad der russisch-französischen Verhandlungen. Diese Verfälschungen waren nicht eben hilfreich. Später sollte sich herausstellen, daß er genauso korrupt war wie einige Vertreter der Kriegspartei heute, die persönlichen Gewinn als Kriegsgewinnler machen. Mohrenheim war tief in die sogenannte Panama-Affäre verstrickt.

Ein weiteres Problem bestand darin, daß der Zar eine tiefe Antipathie gegen Kaiser Wilhelm II. entwickelt hatte. Dies war hauptsächlich das Resultat von Klatsch und Tratsch in den Salons, wobei man dem Zaren jeweils hinterbrachte, was der Kaiser angeblich über ihn gesagt hatte. Mit der Zeit baute sich im Kopf des Zaren der Kaiser als verabscheuungswürdiger Gegner auf.

Der neue französische Botschafter, Montebello, überbrachte im März 1892 ein Memorandum an Giers, dessen Inhalt Giers zu der Überzeugung brachte, daß Frankreich eine "Carte Blanche" für alle möglichen Abenteuer suchte, die Rußland dann zu unterstützen gezwungen wäre. Im Gegensatz dazu befand der Zar, noch ehe er das Dokument gelesen hatte, es müsse augenblicklich unterzeichnet werden: "Wir müssen darauf vorbereitet sein, Deutschland anzugreifen, so daß es keine Zeit hat, zuerst Frankreich zu besiegen und sich dann uns zuzuwenden. Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und Deutschland bei der ersten sich bietenden Gelegenheit vernichten."

Giers war schockiert, als er dies hörte; er nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte: "Aber was würden wir gewinnen, wenn wir Frankreich bei der Zerstörung Deutschlands helfen?" Der Zar antwortete: "Ja, was wohl? Was wir gewinnen würden ist, daß Deutschland in seiner gegenwärtigen Form verschwände. Es würde sich in eine Anzahl kleiner, schwacher Staaten auflösen, so wie es vorher war." Giers berichtete diese Äußerung des Zaren seinem Vertrauten und Stellvertreter Lamsdorf mit dem Kommentar: "Unser Monarch denkt, daß er der Herr der Welt sein wird, wenn er Deutschland zerstört haben wird. Er redet solchen Unsinn und zeigt einen solchen wilden Instinkt, daß ich nur noch still zuhören konnte."




Ganz schön, nicht wahr. (ich habe mal in sehr früher Zeit an einer Untersuchung des sehr komplizierten B. Vertragswerk gearbeitet). Friedrich von Holstein war völlig überfordert - eine Katastrophe. Wilhelm II wollte ja unbedingt den Sohn Bismarcks (Herbert) behalten, aber der rächte sich an der Entassung seines Vaters und sagte kategorisch NEIN.

Gruß

KED

Siran
13.10.2003, 14:50
War es nicht auch so, dass Italien, zusätzlich zum Vertrag mit Deutschland noch einen Geheimvertrag mit Frankreich hatte, was dann dafür sorgte, dass Italien Deutschland im 1. Weltkrieg nicht zu Hilfe kam?

Ich habe auch irgendwo mal gelesen, dass Bismarck gegen die Annektierung von Elsaß-Lothringen war, weil er eben befürchtete, dass Frankreich unversöhnlich daran arbeiten würde, diese Schmach wieder wettzumachen. Weiß darüber irgendwer was?

pavement
13.10.2003, 14:53
das mit bismarcks sohn wusste ich noch nicht.

1894 wars ja dann soweit, russland und frankreich schlossen ein bündniss, dann noch 1904 die entente cordiale zwischen frankreichund england, und das bündnissystem des 1.weltkriegs war zum größten teil geschaffen.

Klaus E. Daniel
13.10.2003, 15:14
Original von Siran
War es nicht auch so, dass Italien, zusätzlich zum Vertrag mit Deutschland noch einen Geheimvertrag mit Frankreich hatte, was dann dafür sorgte, dass Italien Deutschland im 1. Weltkrieg nicht zu Hilfe kam?

Ich habe auch irgendwo mal gelesen, dass Bismarck gegen die Annektierung von Elsaß-Lothringen war, weil er eben befürchtete, dass Frankreich unversöhnlich daran arbeiten würde, diese Schmach wieder wettzumachen. Weiß darüber irgendwer was?

Italien wurde durch die ungeschickte Großmachtspolitik von Wilhelm II verprellt, außerdem dachte es an seine langen ungeschützten See -Grenzen.

Das mit Frankreich stimmt - es war ein Riesenfehler Bismarcks. den Hurra Patrioten, dem Militär und dem Badener Schwiegersohn vom preußischen König wie auch der Großindustrie nachzugeben.

Den Fehler hat er nie mehr gemacht, keine Kriege geführt, aber bei Frankreich saß der Stachel tief. Das gefügelte Wort der Franzosen war:

"Niemals davon reden, immer daran denken".

Gruß

KED

pavement
13.10.2003, 16:46
da konnte sich bismarck des stimmung der deutschen einfach nicht mehr widersetzen; selbst ein bismarck konnte nicht mehr gegen das volk regieren.


beim 1866 krieg konnte er ja noch verhindern, dass die preusischen truppen ihren triumphzug durch wien machen, da er genau wusste, dass österreich in einer zukünftigen bündnispolitik eine wichtige rolle spielen würde.

Siran
13.10.2003, 16:52
Stimmt, allerdings, so im Nachhinein wäre es wohl besser gewesen, Deutschland hätte seinen Siegeszug durch Wien gemacht und dafür Frankreich Elsaß-Lothringen gelassen.

Klaus E. Daniel
13.10.2003, 16:58
Stimmt. pavement.

Kennen Sie den herlichen Satz, den Wilhelm I gesagt hat (nicht aus den Aphorismen):


"Es ist sehr schwer, unter Bismarck Kaiser zu sein."

Aber die beiden haben schon meistens gut zusammengearbeitet.

Freundlich

Klaus E. Daniel

pavement
13.10.2003, 17:24
nee, den satz kannte ich noch nicht.

aber es muss schon schwer gewesen sein, als kaiser neben einem solchen politischen kaliber zu bestehen und diesem die wichtigsten entscheidungen zu überlassen.

wilhelm II. konnte das nicht mehr.