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Vollständige Version anzeigen : Konstitutionsanthropologie: Falkenmänner?



Renfield
02.06.2014, 17:52
1. Teil
Davon, dass die Körperbauformen in Athletiker, Leptosomen und Pykniker unterteilt werden, dürfte jeder schon einmal vage gehört haben. Und vielleicht auch, dass diese Körpertypen mit psychischen Tendenzen in Verbindung stehen: Gemütvoll und genießerisch der Dickliche, zupackend der Muskulöse, verschlossen und intellektuell der Hagere. Konstitutionslehre wird das Ganze auch genannt.
Nicht ganz so bekannt sein dürfte, dass dahinter ein komplexes humanbiologisches (und psychologisch-psychiatrisches) Forschungsprojekt steht, das sich besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblicher Beliebtheit erfreute.Mittlerweile hat sich diese Popularität in weitgehende Ignoranz gedreht. Nicht ganz zu Recht, wie ich meine.
Allerdings sei eingeräumt, dass sich die Suche nach einer begrenzten Zahl von Körperbautypen als methodisch äußerst knifflig erwiesen hat. Wobei die Parallelisierung mit psychischen Eigenschaften noch einmal ein ganz eigenes Spiel darstellt. Dennoch lasse ich mich von diesen Problemen nicht davon abhalten, das Ganze mit einem dritten Aspekt in Beziehung zu setzen: Mit der Evolution, wobei das Hauptinteresse auf den athletischen Typ gerichtet ist.
Einer Zusammenstellung des Mediziners und Sportwissenschaftlers C. Raschka zufolge wurden seit der Antike und besonders seit dem 19. Jahrhundert um die sechzig Körpertypensysteme entwickelt, in denen die Dreiteilung in dickliche, kräftige und schlanke Typen ein immer wiederkehrendes Motiv darstellt. Sehr bekannt wurde das System des deutschen Psychiaters Kretschmer, das dieser Dreiteilung folgt. Kretschmer ging es vor allem um den Zusammenhang zwischen Körperbau und der Veranlagung zu Depression und Schizophrenie. Um die Zeit des Zweiten Weltkrieges herum entwickelte der Amerikaner William Sheldon dieses System weiter, indem er exakten Messungen am Lebenden und am Foto einen entscheidenden Stellenwert einräumte.
Von Sheldon wird gesagt, dass er wie kein anderer gleichermaßen am Aufstieg der Konstitutionslehre mitgewirkt hat wie an ihrem Scheitern. Verantwortlich für letzteres dürfte sein, dass er mit Wertungen nicht gerade hinter dem Berg hielt und dem athletischen (in seiner Diktion mesomorphen) Typ geradezu Hymnen sang, während er bei etwas plumperen Zeitgenossen zu verbalen Nicklichkeiten neigte. Außerdem war er ein glühender – eher sogar extremistischer – Eugeniker, was nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus als Karrierebremse wirken konnte. Dazu kam, dass er seine Lehre als Gegengift gegen die ihm suspekte Psychoanalyse begriff, womit er ein weiteres Mal gegen das falsche Pferd wettete. Unterschlagen werden sollte auch nicht, dass Sheldon zuweilen anscheinend der Neigung nachgab, seine Daten mit etwas zu viel Nachdruck gefügig zu machen.
Dies hielt Heath und Carter nicht davon ab, dieses System weiter zu optimieren, so dass es in der amerikanischen Sportwissenschaft noch immer eine erhebliche Rolle spielt. Auf psychophysische Zusammenhänge hebt es in dieser aktuellen Form nicht mehr ab, sondern dient vor allem als Hilfestellung bei der Wahl der richtigen Disziplin und der typgerechten Trainingsgestaltung.
Wie kommt man aber zu diesen Typen? Und ist es in Stein gemeißelt, dass es exakt drei sein müssen? Offensichtlich beruhten diese Einteilungen zunächst vor allem auf Beobachtung und Intuition, die im zweiten Schritt durch Messungen ergänzt wurden. Besonders objektiv lässt sich diese Methode jedoch nicht gerade nennen. Abhilfe bietet da das statistische Verfahren der Faktorenanalyse. Sie ermöglicht, die Vielzahl von Einzelmessungen (z.B. Körperhöhe, Bizepsumfang, Knochenbreite, Fettschichtdicke, Brustumfang etc.) auf eine kleine Zahl unabhängiger Faktoren zu reduzieren. Wobei es sich bei diesen Faktoren aber zunächst um ziemlich abstrakte Zahlenketten handelt, die einer nachträglichen Interpretation bedürfen.
Seit den Fünfzigerjahren wurden immer wieder Analysen dieser Art durchgeführt. Allerdings schufen sie zunächst mehr Probleme, als sie lösten. Ziemlich durchgängig haben sich in diesen Studien vier unabhängige Grundfaktoren herausgeschält: Ein Körperhöhenfaktor und je einer für Fettansatz, Muskulatur und Knochenderbheit. Wie aber daraus Typen bilden? Wenn wir uns bei jedem Faktor auf drei Merkmalsausbildungen beschränken (starke, mittlere oder schwache Ausprägung), würden wir z. B. beim Körperhöhenfaktor auf die Typen groß, durchschnittlich und klein kommen. Die müssten dann aber noch mit den je drei Stufen der anderen Faktoren kombiniert werden. Und das käme auf 3*3*3*3 = 81 mögliche Typen. Was deutlich mehr als drei ergäbe und keinen übermäßig praktikablen Eindruck macht. Als Lösung böte sich beispielsweise an, die Körperhöhe unberücksichtigt zu lassen: Dick, muskulös oder hager kann man ja schließlich auch bei geringer Körpergröße sein. Außerdem könnte man die mittlere Faktorausprägung unter den Tisch fallen lassen und nur die Extreme beachten. Dann hätten wir nur noch 2*2*2 = 8 Typen. Womit wir uns der magischen Dreizahl immerhin schon erheblich genähert hätten.
Nun ist es so, dass einige Merkmale in engerem Verhältnis zueinander stehen als andere. Auch sind die statistisch ermittelten Faktoren nicht wirklich "chemisch rein". Z.B. spielt der Fettfaktor ungefähr genauso stark in die Körperfülle hinein wie der Muskelfaktor. Das führt dazu, dass die theoretisch möglichen acht Typen nicht gleich häufig sind. Die Kombination dicklich + lang und schmal zum Beispiel dürfte seltener sein als dicklich + untersetzt. Aus diesem Blickwinkel scheint es ziemlich wahrscheinlich, dass sich die traditionellen Dreitypenschemata intuitiv auf die häufigsten Körperbauvarianten konzentrieren. Wie es aussieht, können die faktorenanalytischen Methoden mit den traditionellen Dreierschemata ihren Frieden machen, sofern ein gewisses Maß an Informationsverlust hingenommen wird.
Bei alledem darf nicht übersehen werden, dass diese Typologie eigentlich nur bei Männern funktioniert, während für Frauen wahrscheinlich ein eigenes System entwickelt werden müsste. Im vorliegenden Fall spielt das keine Rolle, da im Weiteren der Schwerpunkt auf den männlichen Athletiker liegen wird.
Doch auch der stellt in der Konstitutionsanthropologie ein echtes Sorgenkind dar. Anhand statistischer Methoden entwickelte der Anthropologe Rainer Knußmann in den 60er Jahren ein stark beachtetes System, bei dem sich dieser Typus komplett in Luft auflöste und nur der Pyknomorphe (gedrungen mit starkem Fettansatz) und der Leptomorphe (schmal, schlank) als polare Typen übrig blieben. Geschlechterübergreifend stellt diesem Ansatz zur Folge der Leptomorphe gleichzeitig den männlichen, der Pyknomorphe den weiblichen Pol der Körperwuchstendenzen dar.
Dazu ist aber zu sagen, dass Knußmann bei seiner Untersuchung nur auf Skelettmaße zurückgriff, während er auf Kennzahlen der Muskelentwicklung verzichtete, die in anderen Systemen ja die Hauptkonstituente des Athletikers bildet. Gleichzeitig wäre es ziemlich irreführend, diesen Typus als Mittelding zwischen Pykniker und Leptosomen aufzufassen, weil bei ihm ja gerade die Muskulatur das überdurchschnittlich entwickelte Merkmal darstellt. In einer ungarischen Studie aus den 90ern etwa wurde die Muskulatur berücksichtigt, wobei sie prompt mit weitem Abstand vor Fettansatz und Knochenderbheit den wichtigsten Faktor bildete.
Andere Studien haben ergeben, dass die Ausprägung der Muskulatur sehr stark erbbedingt ist. Auch kontrastieren die Geschlechter in diesem Merkmal auf geradezu extreme Weise. Im Jahr 2008 erreichten deutsche Frauen im Durchschnitt 93% der männlichen Körperhöhe, aber nur 61% der Muskelmasse. Gleichzeitig ist es unter Trainern und Sportwissenschaftlern gängiges Wissen, dass Männer vom leptosomen Körperbau über eine eher geringe Muskelmasse verfügen, die sich durch Training auch nur schwer aufbauen lässt. Alles in allem scheint es ziemlich in die Irre zu führen, bei solchen Studien auf die Einbeziehung der Muskulatur zu verzichten, den athletischen Typ zu dispensieren oder den Leptosomen zum prototypischen Mann zu erklären. Will man die verschiedenen Körperbauformen nach einem einfachen Grobschema gliedern, bietet sich nach Expertenmeinung immer noch am ehesten das bekannte Dreierschema pyknomorph – athletisch – leptomorph an, wobei der Athletiker den "männlichsten" dieser Typen darstellt (eine Feststellung, zu der übrigens auch der Mediziner Detlev von Zerssen durch eigene faktorenanalytische Forschung gelangt).

Stättler
02.06.2014, 19:06
1. Teil
Davon, dass die Körperbauformen in Athletiker, Leptosomen und Pykniker unterteilt werden, dürfte jeder schon einmal vage gehört haben.

Du bist ja völlig jenseits aller geprüften gutmenschlichen " Wahrheiten " .........:haha:

Heute zählt nur , ob du Feminist/in, schwul , lesbisch , am besten beides... , Transe und eventuell noch gegen " Nazis " bist !!


Schreib dir das hinter die Ohren !:hzu:

Renfield
02.06.2014, 19:36
Schreib dir das hinter die Ohren !:hzu:

Nee, meine Ohren sind graffitifreie Zone. Die Wahrheit ist, dass ich viel weiter links bin, als es meine bio-anthropologischen Interessen vermuten lassen. Aber das Schauspiel, wie Feminismus und Gendertheorie das angenehm konservative Fach der physischen Anthropologie aufzurollen beginnen, ist doch recht erbärmlich. Da gilt für mich zuallererst die männliche Solidarität.

Renfield
03.06.2014, 07:07
2. Teil
Die andere Seite der Medaille bildet in der Konstitutionsbiologie der seelische Bereich – die Theorie, dass der individuelle Körperwuchs mit psychischen Faktoren in Zusammenhang steht. Besonders in den 40er und 50er Jahren ist dazu recht viel geforscht worden. Auf der körperlichen Seite bildeten entweder die drei Konstitutionstypen, aber auch Einzelmaße wie Körperhöhe, Durchmesser des Beckens, Stärke von Fettschicht und Muskulatur oder der Handumfang den Ausgangspunkt. Geforscht wurde nach Zusammenhängen zu Intelligenz, Kontaktbedürfnis, Dominanz, Neigung zu Stimmungsschwankungen und so weiter. Eine Aufstellung von ungefähr vierzig dieser Korrelationen ergibt, dass sie im Durchschnitt (der Absolutbeträge) bei ungefähr 0,43 liegen. Das ist nicht gerade überwältigend, aber sicherlich auch nicht zu vernachlässigen. Interessanterweise wiesen die Zusammenhänge mehr oder minder durchgängig in die erwartete Richtung – zum Beispiel indem sich der Pyknomorphe tatsächlich als ausgeprägt gesellig, stimmungsgeleitet und weniger dominanzorientiert erwies.
Der engste Zusammenhang ergab sich zwischen pyknomorphem Körperbau und Depression einerseits und Leptomorphie und Schizophrenie auf der anderen Seite. An diesem Befund entzündete sich jedoch schnell Kritik. Tatsächlich verhält es sich so, dass Erwachsene im Laufe des Lebens, besonders ab dem fünften Lebensjahrzehnt, an Fülle zunehmen und viele von ihnen ins pyknomorphe Lager wechseln. Während Schizophrenie nun meist im Jugend- und frühen Erwachsenenalter auftritt, stellt Depression eher eine Krankheit der zweiten Lebenshälfte dar. Daher dürften die untersuchten Patienten von vornherein aus Bevölkerungssegmenten mit unterschiedlicher Konstitution stammen. Neuere Untersuchungen haben den Zusammenhang zwischen Körperbau und Schizophrenie auch deutlich relativiert, den zwischen Pyknomorphie und Depression allerdings bestätigt.
Alles in allem lässt sich sagen, dass es wohl in der Tat Beziehungen zwischen Körper und Psyche gibt. Allerdings sind die Zusammenhänge eher luftig-locker geknüpft, sodass man einem Mitmenschen sicherlich nicht auf den Grund der Seele schauen kann, wenn man lediglich seinen Bauchumfang kennt.
Bemerkenswert ist, dass besonders der Zusammenhang zwischen Leptomorphie und Intelligenz und Intellektualität, um den vor allem deutsche Anthropologen wie Knußmann und Schwidetzky auffallend viel Wind machten, in diesen Studien erheblich an Glanz verliert. Sogar Sheldon Höchstselbst, der für gewöhnlich mit Kolossalkorrelationen nur so um sich warf, kam auf einen Zusammenhang von nicht mehr als 0,19. Wenn man davon ausgeht, dass der Körperbau auf die Intelligenz wirkt und nicht umgekehrt, und wenn das sogenannte Bestimmtheitsmaß zu Rate gezogen wird, heißt das: Die leptomorphe Konstitution ist zu gerade einmal 3,6% am Intelligenzquotienten beteiligt. Andere Zusammenhangsmaße kamen auf noch mickrigere Ergebnisse. Nun ja. Vielleicht gibt es ja doch einen Konstitutionstyp, bei dem der Zusammenhang von Psyche und Physis klarer hervortritt. Wir werden in Kürze darauf zurückkommen.
Wenn die klassische Konstitutionsbiologie auch ein wenig eingeschlafen ist, trat seit den 70er und 80er Jahren etwas an ihre Stelle, das eine verdächtige Familienähnlichkeit aufweist. Zu nennen ist da einmal das Aufkommen von Soziobiologie und evolutionärer Psychologie. Es wurde deutlich, dass Männer und Frauen bei der Partnersuche ganz unterschiedliche Strategien verfolgten: Männer streben nach Dominanz und entwickeln dabei eine ausgeprägte Wettbewerbsorientierung, während Frauen diejenigen sind, die die entscheidende Wahl treffen und dabei eine Schwäche für Männer mit hohem sozialen Rang offenbaren.
Zu den Seitentrieben der evolutionären Psychologie gehört die Attraktivitätsforschung. Sie fragt danach, welche körperlichen Merkmale aus welchen evolutionären Gründen als attraktiv gelten. Insgesamt zeigte sich, dass Männer für Äußerlichkeiten mehr Interesse hegen als Frauen. Aber auch das schöne Geschlecht erwies sich männlicher Körpergröße, Kraft, kantigen Gesichtszügen und kräftigem Kiefer durchaus zugetan. Merkmale, die mit Durchsetzungsfähigkeit und hohem Rang in Verbindung stehen dürften. Allerdings kommen diese Vorlieben eher bei flüchtigen sexuellen Bekanntschaften zur Geltung. Geht es Frauen um den geeigneten Langzeitpartner, bevorzugen sie Männer mit weicheren Merkmalen.
Noch ein weiteres Forschungsprojekt trat sozusagen in die Fußstapfen der alten Konstitutionsanthropologie. Ungefähr seit den 70er Jahren wurde es immer leichter, bei Menschen den aktuellen Sexualhormonspiegel zu messen. Männliche Sexualhormone, vor allem Testosteron, werden bereits vom Embryo gebildet. Zunächst sind sie an der Entwicklung der Sexualorgane beteiligt, in späteren vorgeburtlichen Stadien an der Differenzierung des Gehirns und zum großen Teil wohl auch an der sexuellen Orientierung. In der Pubertät steuert es die Ausbildung sekundärer männlicher Geschlechtsmerkmale wie tiefe Stimme, Körperbehaarung, kantige Gesichtszüge und prominentes Kinn. Bei Erwachsenen zeigt der aktuelle Testosteronspiegel zudem Einflüsse auf psychische Reaktionen.
Bei diesen Substanzen dürfte es sich um das handeln, wovon die klassischen Konstitutionsforscher immer geträumt haben: Echte Brücken zwischen Körper und Seele. Wobei teilweise auch ungewöhnliche Beziehungen zu Tage treten. Bei Männern ist der vierte, der Ringfinger, länger als der Zeigefinger, während es sich bei Frauen umgekehrt verhält. Es konnte nachgewiesen werden, dass diese Relation in Zusammenhang mit dem vorgeburtlichen Testosteronspiegel steht. Interessanterweise nähern sich lesbische Frauen den männlichen, schwule Männer den weiblichen Verhältniszahlen. Zu den Kuriosa dürfte auch gehören, dass homosexuelle Frauen über ein ausgesprochen männlich geformtes Innenohr verfügen. Daneben hat sich in Befragungen herausgestellt, dass homosexuelle Männer, die den sexuell aktiven Part übernehmen, einen männlicheren Körperbau aufweisen als ihre Partner.
Testosteron scheint der Treibstoff zu sein, der die Entwicklung des athletischen Körperbautypus anheizt. Je stärker seine Wirkung, desto breiter die Schultern, massiger die Muskeln, derber die Knochen – desto mehr Körperfülle insgesamt. Allein in Deutschland schlucken zehntausende von Männern testosteronähnliche anabole Steroide, um etwas mehr an Muskelmasse zuzulegen.
Ein Zusammenhang besteht aber auch zwischen Testosteron und Aggressivität. Bei diversen Tierspezies konnte ein sehr enger Zusammenhang festgestellt werden, während die Datenlage beim Menschen nicht ganz so klar ist. Herausgestellt hat sich zumindest, dass bei Jungen während der Pubertät Hormonspiegel und aggressives Verhalten mehr oder minder im Gleichklang steigen. Junge Männer mit überdurchschnittlichem Hormonspiegel, Probanden, denen Testosteron injiziert wurde, oder auch Benutzer anaboler Steroide berichten von verstärkten Aggressionsimpulsen. Vor allem aber zeigen Häftlinge, die auf Grund von Gewaltdelikten einsitzen, deutlich erhöhte Testosteronwerte. Gleichzeitig sind sie häufiger an Gewaltakten während des Strafvollzugs beteiligt.
Hier bestehen interessante Beziehungen zum Körperbau. Athletiker kommen unter verurteilten Kriminellen bis zu dreimal häufiger vor als in der Normalbevölkerung. Andere Untersuchungen zeigen, dass Männer mit kräftigem Körperbau stärker zu rechten politischen Einstellungen neigen – möglicherweise wegen ihrer ausgeprägten Wettbewerbs- und Konfliktneigung.
Damit zeichnet sich ein faszinierender Mechanismus ab. Einerseits scheint Testosteron an der Entwicklung eines männlich-athletischen Körperbaus beteiligt zu sein, andererseits fördert es Aggressivität und Wettbewerbsneigung. Ein außerordentlich sinnvoller Prozess, denn in welchem Körpertyp wäre Kampfgeist besser aufgehoben?

Ben Richards
03.06.2014, 15:44
Im deutschen Standardwerk der differentiellen (Persönlichkeits-)Psychologie ("Psychologie der Persönlichkeit") basht Asendorpf das ganze Konzept der Verbindung von Körperbau und Charakter doch ziemlich arg.

Renfield
03.06.2014, 16:51
Im deutschen Standardwerk der differentiellen (Persönlichkeits-)Psychologie ("Psychologie der Persönlichkeit") basht Asendorpf das ganze Konzept der Verbindung von Körperbau und Charakter doch ziemlich arg.

Danke für den Tipp. Werde mal einen Blick riskieren. Das kann aber frühestens morgen geschehen.

Renfield
04.06.2014, 13:14
Hab mir den Asendorpf jetzt einmal angeschaut (in der Auflage von 2007): Die neuere Forschung zum Zusammenhang zwischen körperlichen Merkmalen und Sexualhormonen erkennt er durchaus an. Allerdings nennt er die Ergebnisse der klassischen Konstitutionsforschung Scheinkorrelationen – besonders auch, was die Verbindung zwischen schweren psychischen Erkrankungen und Körperbau angeht. Dabei bezieht er sich auf das Standardwerk von Anne Anastasi aus dem Jahr 1971, das ich nicht kenne, das sich aber anscheinend nur mit Sheldon auseinandersetzt. Nun berichtet der Psychiater Huber, zum Teil auf eigene Forschung fußend, in seinem Lehrbuch von 2005 weiterhin von einem engen Zusammenhang zwischen Depression und pyknomorphem Körperbautyp. Eine Korrelation zwischen Leptomorphie und Schizophrenie konnte er hingegen nicht bestätigen. Gleichzeitig bezeichnet er pyknomorphe Konstitution bei Schizophrenen immerhin als prognostisch günstiges Merkmal.
In einem Handbuchbeitrag aus dem Jahr 1977 referiert D. von Zerssen weiterhin über diverse Korrelationen zwischen Körperbau und Korrelationen, die von verschiedenen Autoren herausgearbeitet wurden – und das, obwohl er das Lehrbuch von Anastasi kennt und in sein Literaturverzeichnis aufgenommen hat. Alles in allem sieht es nicht so aus, als ob die psychophysischen Korrelationen damit vom Tisch wären (die ja auch in der älteren Forschung nicht gerade üppig ausfielen).

Renfield
04.06.2014, 13:26
Teil 3/Schluss
An dieser Stelle kann der Bogen zur Evolutionstheorie geschlagen werden. In der typischen Säugetierpopulation bilden die Weibchen die knappe Ressource, um die die Männchen konkurrieren (nur um ein Beispiel zu nennen: 10% aller männlichen Hirsche sterben an den Spätfolgen ihrer Revierkämpfe). Auch der Mensch dürfte dieser evolutionären Logik unterworfen gewesen sein. Aber: Wenn der Athletiker für derartige Duelle prädestiniert ist und einen besonders guten Kämpfer abgibt, warum fallen dann nur 30% aller Männer in diese Körperbaukategorie? Warum nicht alle?
Einen ersten Hinweis geben möglicherweise die brasilianischen Yanomamö-Indianer. Sie stehen im Ruf, extrem aggressiv und wettkampforientiert zu sein. Erfolg im Duell münzt sich bei ihnen direkt in Paarungserfolg um. Der unokai, der erfolgreiche Kämpfer, bringt es auf dreimal so viele Kinder wie der Nichtkämpfer. Doch dieser Erfolg hat seinen Preis: 30 Prozent der männlichen Yanomamö sterben gewaltsam. Damit stellt der Weg des Duellanten eine krasse Hochrisikostrategie dar.
Das Yanomamö-Beispiel verweist auf ein theoretisches Konzept, das in der Evolutionstheorie einigen Einfluss gewonnen hat: Die Spieltheorie. Geradezu klassisch zu nennen das Falke-Tauben-Spiel, wie es von John Maynard-Smith entwickelt wurde. In elementarer Einfachheit demonstriert es, wie in einer Bevölkerung unterschiedliche Verhaltensstrategien ein stabiles Gleichgewicht erreichen können.
Stellen wir uns eine Spezies vor, in der es regelmäßig zu Kämpfen kommt (z. B. um Futterquellen oder um Weibchen). Der Sieger erhalte 50 Pluspunkte. Gehen wir nun davon aus, dass es in dieser Population zwei Arten von Duellanten gibt. Da sind einmal die Tauben. Sie kämpfen nur solange, wie der Kampf nicht zu ruppig wird. Anderenfalls steigen sie freiwillig als Verlierer aus. Treten Tauben gegen Tauben an, werden Sieger und Verlierer 10 Punkte für den Energieverlust abgezogen, womit der Sieger also netto 40 Pluspunkte erhält. Nun gibt es allerdings noch den zweiten Kämpfertyp, den Falken. Er kämpft ohne Rücksicht auf Verluste. Gegen Tauben gewinnt er kampflos. Anders der Fall, wenn er auf einen anderen Falken stößt: Da hier mit Klauen und Zähnen gerungen wird, drohen dem Verlierer wegen des erhöhten Verletzungsrisikos 100 Minuspunkte.
In einer Population, die ganz überwiegend aus Tauben besteht, hat der Falke natürlich leichtes Spiel und kann seine Siege in Serie abräumen. Aber je stärker sich dieser Typ vermehrt, desto ungemütlicher wird es in seinem Leben, da er immer häufiger auf andere Falken trifft. Und solche Begegnungen sind alles andere als lukrativ. Sie können 50 Pluspunkte, aber auch 100 Minuspunkte bedeuten, was im Durchschnitt 25 Miese ergibt. Es lässt sich leicht errechnen, worauf das Ganze hinausläuft: Die Falken können die Bevölkerung nicht komplett übernehmen. Vielmehr pendelt sich ein stabiles Gleichgewicht ein, bei dem Tauben- und Falkenstrategie die gleiche Erfolgsaussicht haben. Mit Modellen wie diesen lässt sich theoretisch demonstrieren, wie sich unterschiedliche Verhaltensvarianten in einer Bevölkerung halten können. Die Evolutionspsychologen benutzen derartige Modelle, um zu klären, wie sich beim Menschen unterschiedliche, genetisch bedingte, Persönlichkeitstypen entwickeln konnten.
Ich gebe zu, dass das alles recht spekulativ ist: Aber ich schlage der interessierten Wissenschaft vor, die alte Konstitutionslehre abzustauben und sich folgender Frage zu widmen: Ob es unter Männern "Falken" gibt – aggressive Wettkämpfer, die auf Hochrisikostrategie setzen, wobei der athletische Typ, vermittelt über das Testosteron, lediglich den körperlichen Ausdruck dieser Strategie darstellt.

Ben Richards
04.06.2014, 14:34
Hab mir den Asendorpf jetzt einmal angeschaut (in der Auflage von 2007): Die neuere Forschung zum Zusammenhang zwischen körperlichen Merkmalen und Sexualhormonen erkennt er durchaus an. Allerdings nennt er die Ergebnisse der klassischen Konstitutionsforschung Scheinkorrelationen – besonders auch, was die Verbindung zwischen schweren psychischen Erkrankungen und Körperbau angeht. Dabei bezieht er sich auf das Standardwerk von Anne Anastasi aus dem Jahr 1971, das ich nicht kenne, das sich aber anscheinend nur mit Sheldon auseinandersetzt. Nun berichtet der Psychiater Huber, zum Teil auf eigene Forschung fußend, in seinem Lehrbuch von 2005 weiterhin von einem engen Zusammenhang zwischen Depression und pyknomorphem Körperbautyp. Eine Korrelation zwischen Leptomorphie und Schizophrenie konnte er hingegen nicht bestätigen. Gleichzeitig bezeichnet er pyknomorphe Konstitution bei Schizophrenen immerhin als prognostisch günstiges Merkmal.
In einem Handbuchbeitrag aus dem Jahr 1977 referiert D. von Zerssen weiterhin über diverse Korrelationen zwischen Körperbau und Korrelationen, die von verschiedenen Autoren herausgearbeitet wurden – und das, obwohl er das Lehrbuch von Anastasi kennt und in sein Literaturverzeichnis aufgenommen hat. Alles in allem sieht es nicht so aus, als ob die psychophysischen Korrelationen damit vom Tisch wären (die ja auch in der älteren Forschung nicht gerade üppig ausfielen).

Ich wollte es nur erwähnen, nicht abstreiten. Ich bin da ja auch nicht so ganz seiner Meinung.

Sehen wir es mal so, die (physische) Anthropologie und die moderne Psychologie haben sich ja auch nie "getroffen" und kooperiert. In den frühen Jahren war die Psychologie zu sehr Philosophie und im Geist-Seele-Dualismus verankert, während die Anthropologie ziemlich unter Beschuss gekommen ist (teilweise mit guten Argumenten, aber oft auch einfach in einer übertriebenen Art und Weise) und doch auch irgendwo in den 70ern stehen geblieben ist. Die Soziologie scheint ja auch fleißig alle Erkenntnisse in anderen Disziplinen zu ignorieren. Max Weber würde sich schämen).

Nunja, Körperbautypologie und Psychologie treffen sich ja zumindest mittlerweile indirekt über den "Umweg" der biologischen, evolutionären und verhaltensgenetischen Paradigmen der Psychologie... Da würde man schon genügend Korrelationen finden, denke ich. Die Trennung von "Geist" und "Körper", die in vielen Bereichen ja oft noch angenommen wird, ist ja eher ein Resultat der Auswirkungen der christlichen Lehre auf die Menschen des Abendlandes, die auch auf selbsternannte "Atheisten stark auswirkt.

Es gibt ja auch in den letzten Jahren im Bereich Kognitionsforschung (und auch dem sensorischen Marketing) den Trend, dass man mittlerweile gerne mit Theorien die auf dem "Embodiment" / "Grounded Cognition" agieren, falls du davon schon mal gehört hast. Das geht dann auch mal in die Richtung der Einheit der Körperlichkeit und des Geistes:

http://de.wikipedia.org/wiki/Embodiment

Renfield
04.06.2014, 17:44
Das mit dem Embodiment klingt ziemlich interessant, obwohl der Wiki-Eintrag ziemlich philosophisch-sozialwissenschaftlich gefärbt ist (nicht ganz meine Baustelle).

Die klassische physische Anthropologie ist ja nun mehr als einen falschen Weg gegangen. Das heißt für mich aber nicht, dass man das Kind mit dem Bade ausschütten sollte. Das mit der Falkenstrategie und dem Athletiker war reine Gedankenspielerei. Ich versuche mir einfach nur vorzustellen, wie man die physische Anthropologie ein wenig aufpeppen und mit modernen Forschungsansätzen kombinieren könnte.

Ben Richards
04.06.2014, 20:23
Das mit dem Embodiment klingt ziemlich interessant, obwohl der Wiki-Eintrag ziemlich philosophisch-sozialwissenschaftlich gefärbt ist (nicht ganz meine Baustelle).

Ist es eigentlich gar nicht.

Einen interessanten Überblick liefert z.B. Barsalou: http://www.cogsci.ucsd.edu/~ajyu/Teaching/Cogs202_sp12/Readings/barsalou08_grounded.pdf

Umfasst ja im weiteren Sinne auch so "neue" Themen wie die Spiegelneuronen. (http://de.wikipedia.org/wiki/Spiegelneuron)

Alles so Dinge, die unser Weltbild und soziale Theorien umkrempeln werden bzw. sollten.

Renfield
06.06.2014, 07:11
Faszinierender Stoff. Der einen oder anderen Theorie bin ich in anderem Zusammenhang schon einmal begegnet. Zum Beispiel, dass visuelles Erinnern und Imaginieren von denselben Hirnzentren gesteuert wird wie das Sehen. Die Konstitutionsanthropologie war ja nur ein Schlenker. Am intensivsten befasse ich mich mit evolutionärer Psychologie. Genauer gesagt: Mit evolutionärer Kulturtheorie. Noch genauer: Mit der evolutionären Kulturtheorie des Unheimlichen und Phantastischen. Aber zu dem Komplex sollte man vielleicht einen neuen Strang öffnen.