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Vollständige Version anzeigen : Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit



John Donne
07.03.2004, 17:31
Nachdem die Begriffe "soziale Gerechtigkeit" und "Chancengleichheit" in politischen Programmen recht häufig vorkommen, würde mich interessieren, wie ihr diese Begriffe definiert, wie wichtig sie euch programmatisch sind und wie ihr sie umsetzen würdet.

Ich selbst beginne einfach mal.
Unabhängig von den verschiedenen Definitionen halte ich beide Begriffe allein aufgrund ihres häufigen Auftretens für programmatisch höchst wichtig. Nicht zuletzt bezeichnet sich eine der beiden großen bundesdeutschen Volksparteien, die SPD, als die Partei der sozialen Gerechtigkeit. Daß mit beiden Begriffen vielfach eine besondere Emotionalisierung von Diskussionen einhergeht, daß sie in Wahl- und Parteiprogrammen Verwendung finden und Wirtschaftstheoretiker beschäftigen, unterstreicht ihre Bedeutung. Definitionen dieser Begriffe findet man allerdings kaum, deshalb füllt diese vielverwandten Begriffe jeder mit seiner eigenen Interpretation.

Ich beginne mit dem aus meiner Sicht etwas klareren Begriff der Chancengleichheit.
Für mich bedeutet Chancengleichheit, daß jeder gleichwertige Chancen hat. Daneben gibt es für mich das Prinzip des "Jeder bekommt eine Chance", was bedeutet, daß - obwohl die Chancen verschieden sein mögen - jeder zumindest eine einigermaßen gute Chance bekommt. Ich habe in Diskussionen festgestellt, daß für einige die Begriffe "Chancengleichheit" wie ich ihn verstehe und "Jeder bekommt eine Chance" zusammenfallen. Das tun sie meines Erachtens nicht. Eine Bewertung liegt aus meiner Sicht recht klar auf der Hand: Da Menschen verschieden sind - es gibt dumme und kluge, faule und fleissige, ungebildete und gebildete, ungeschickte und geschickte Menschen (wobei sich die Liste noch lange würde fortsetzen lassen) - und die mit dem jeweils zweiten Begrif der Begriffspaare ausgestatteten Menschen in aller Regel einen Vorteil, eben bessere Chancen, haben werden, ist echte Chancengleichheit ohne massivste Eingriffe in die Verschiedenartigkeit und Vielfalt von Menschen nicht zu erreichen. Da Intelligenz und körperliche Leistungsfähigkeit beispielsweise bis zu einem gewissen Grad durch die genetische Disposition bestimmt werden, müßte der genetische Faktor (etwa durch Klonen) ausgeschaltet und gleichgemacht werden, was ich für ethisch unverantwortlich halte.
Allerdings verlangen die sich aus dem Gesellschaftvertrag ergebenden Schutzpflichten des Staates und ethische Prinzipien wie das bürgerliche "jeder nach seinen Leistungen und Fähigkeiten", daß sowohl das Lebensnotwendigste als Startbedingung jedem gegeben wird als auch jeder bis zu einem gewissen Maß in die Lage versetzt werden muß, seine Leistungen und Fähigkeiten auch zu entfalten.
Nachdem ich echte Chancengleichheit auf den oben angeführten offensichtlichen Gründen ablehne, stellt sich also die Frage, bis zu welchem Grad und in welcher Anzahl denjenigen, die aus welchen unverschuldeten(!) Gründen auch immer im freien Wettbewerb schlechte oder gar keine rellen Chancen hätten, Chancen zu ermöglichen sind. Diese Frage ist nicht zuletzt eine der politischen Ausrichtung. Den Weg, Chancengleichheit auch und gerade nach Einsicht seiner Unerreichbarkeit zum Ziel zu erheben (damit man sich wenigestens darauf zu und damit in die "richtige" Richtung bewegt), lehne ich ab, da ich nicht der Meinung bin, aus zwielichtigen Zielen erwachse Gutes.
In gewisser Weise berührt die Frage - wie die der sozialen Gerechtigkeit - die Frage nach Eigentumsgarantie und Testierfreiheit, da klar sein muß, daß beide Ursachen für Chancenungleichheit sind. Beide bilden dennoch meiner Meinung nach völlig zurecht Grundpfeiler unserer Gesellschaft und sind überhaupt grundsätzlich in jeder freien Gesellschaft, die den Anspruch erhebt eine offene und freie zu sein, notwendig.
Ich bin der Meinung, zwischen Eigenverantwortung und Chancenausgleich muß ein Mittelweg gefunden werden, der eínerseits jedem Bürger mindest eine oder zwei brauchbare Chancen verschafft und andererseits Eigenverantwortung nicht aus dem Auge verliert.

Im Begriff soziale Gerechtigkeit ist der Gerechtigkeitsbegriff, der eine allgemein anerkannte Bedeutung hat, enthalten. Soziale Gerechtigkeit definieren allerdings die meisten Menschen höchst individuell.
"Niemand hat bis jetzt eine einzige allgemeine Regel herausgefunden, aus der wir für alle Einzelfälle, auf die sie anzuwenden wäre, ableiten konnten, was 'sozial gerecht' ist." Inhaltlich werden dem sehr viele zustimmen, aber schon die Tatsache, daß hier Friedrich August von Hayek zitiert wird, stößt vermutlich einigen als neoliberale Provokation übel auf. Die Befürchtung, ich könnte den weiteren Ausführung von von Hayek zustimmen, ist gewissermaßen berechtigt, denn ich zitiere ihn zunächst in voller Zustimmung weiter:
"Mehr als zehn Jahre lang habe ich mich intensiv damit befasst, den Sinn des Begriffes "soziale Gerechtigkeit" herauszufinden. Der Versuch ist gescheitert; oder besser gesagt, ich bin zu dem Schluss gelangt, dass für eine Gesellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinen Sinn hat."
Gerechtigkeit beruht unter anderem darauf, daß gleiche Regeln für alle gelten. Gerade das wollen aber die Verfechter der "sozialen Gerechtigkeit" in der Politik nicht. Sie wollen nicht, daß alle nach einer gleich angewandten Regel behandelt werden, sondern wollen letztendlich materielle umverteilen. Dies können sie nur, wenn sie ungleich behandeln. Gleichzeitig suggerieren sie, es gebe einen umfassenden moralischen Maßstab für diese Umverteilung. Wie von Hayek zu Recht feststellt, gibt es einen solchen Maßstab allerdings nicht.
Kurz: Wie von Hayek meine ich, daß der Begriff "soziale Gerechtigkeit" eine contradictio in adjecto darstellt.
Daß mag vielen herzlos, kalt und neoliberal erscheinen.
Anders als von Hayek (deshalb oben das "gewissermaßen") lehne ich soziale Gerechtigkeit allerdings nicht aufgrund ihres begrifflichen inneren Widerspruchs völlig ab oder komme zu dem Schluß, das freie Spiel der Kräfte werden schon alles zum Besten richten. Auch bin ich nicht wie Hayek 1981 der Meinung, "der vorherrschende Glaube an soziale Gerechtigkeit ist gegenwärtig wahrscheinlich die schwerste Bedrohung der meisten anderen Werte einer freien Zivilisation", obwohl auch ich eine Bedrohung sehe. Ich bin allerdings der Meinung, die materiellen Wohltaten des liberalen Staates müssen an das Prinzip der Freiheitswahrung und der allgemeinen Rechtsgleichheit gebunden bleiben, wie Edmund Burke es formulierte.
Was mich an sozialer Gerechtigkeit abstößt, ist also zum einen der Name. Wer umverteilen will - und bis zu einem gewissen Maß mag das gerade aus dem begründeten Bedürfnis heraus geschehen, jedem eine Chance zu geben - sollte die klar sagen und nicht hinter dem Schild der Gerechtigkeit verstecken. Daß dies selbst vermutlich ein Wunschtraum ist, dessen bin ich mir bewußt.
Zum anderen darf soziale Gerechtigkeit nicht vorgeschoben werden, um Transfers von einer gesellschaftlichen Gruppe - oft Parteiklientel - zu einer anderen in beliebiger und in ideologischer Absicht festgesetzter Höhe zu erlauben.

Grüße
John

DichterDenker
07.03.2004, 19:10
>Im Begriff soziale Gerechtigkeit ist der Gerechtigkeitsbegriff, der eine
>allgemein anerkannte Bedeutung hat, enthalten. Soziale Gerechtigkeit
>definieren allerdings die meisten Menschen höchst individuell.

Ja das stimmt und deshalb wird es immer nur Gerechtigkeit für einen kleinen Teil der Bevölkerung geben.

subba
07.03.2004, 19:34
Mir sind diese Begriffe keineswegs wichtig. Ich wähle die Partei die für mich über kurz oder lang die beste ist - andere interessieren mich nicht. Momentan sind für mich alle Parteien scheiße, also wähle ich garnicht !

Luciérnaga
07.03.2004, 19:41
Super Thema, John Donne, über die Frage der tatsächlichen Bedeutungen dieser Begriffe bin ich auch schon öfters gestolpert!


Original von John Donne
Da Menschen verschieden sind - es gibt dumme und kluge, faule und fleissige, ungebildete und gebildete, ungeschickte und geschickte Menschen (wobei sich die Liste noch lange würde fortsetzen lassen) - und die mit dem jeweils zweiten Begrif der Begriffspaare ausgestatteten Menschen in aller Regel einen Vorteil, eben bessere Chancen, haben werden, ist echte Chancengleichheit ohne massivste Eingriffe in die Verschiedenartigkeit und Vielfalt von Menschen nicht zu erreichen.
Richtig. Ich denke aber, hier ist ein Ausgangspunkt zu finden, der Deiner Auffassung nicht widerspricht: es gibt naturgegebene Qualifikationen, die die Menschen voneinander unterscheiden. Doch für alle Qualifikationen, die es darüber hinaus gibt, sollte es allen Menschen gleichsam möglich sein, sie zu erwerben!
Demnach sollte der Erwerb von Qualifikationen unabhängig sein von Hautfarbe, Geschlecht, Reichtum und sonstigen Kriterien. Ich denke, das ist die Grundidee der Chancengleichheit. Und sie reicht gleichzeitig in die "soziale Gerechtigkeit" hinein.

Nun ist es aber so, dass vor Allem die finanzielle Lage den Erwerb von Qualifikationen ermöglicht, die über die vom Staat finanzierten Qualifikationen, sprich die schulische und universitäre Ausbildung, hinausgehen und dass diese den "besser Gestellten" eventuell im Nachhinein zu einer besseren Stellung verhelfen können.
Das mag nun dem ein oder anderen als "Ungerechtigkeit" erscheinen, jedoch sehe ich es als Folge eines freien Wettbewerbs in einem freiheitlichen Staat in dem sich jeder frei entwickeln darf und letztendlich nunmal auch muss. Alles andere würde, wie Du ja auch schon festgestellt hat, nur unter willkürlicher "Gleichmachung" zu erreichen sein, die in sich selbst Ungerechtigkeit vereinigt und zudem eine Gesellschaft ineffizient macht. Denn warum sollte der tatsächlich Fähigere sich mehr anstrengen, wenn sein Einsatz nicht mehr geschätzt und entlohnt wird, als der von jemandem, der viel uneffektiver arbeitet.
Der Anreiz geht dann verloren und diesen halte ich für unverzichtbar, wenn eine Gesellschaft Fortschritt erreichen will.

Andere Frage jedoch: wieviel Fortschritt brauchen wir eigentlich noch? Wird uns der "Fortschritt", das Wachstum nicht langsam selbst zum Verhängnis? Hmmm... ich glaube, das könnte glatt ein neues Thread-Thema ergeben...! :D

Aber zurück zum Thema: ich bin der Meinung, dass in Deutschland die Chancengleichheit durch die kostenlose Schulausbildung bereits sehr weit fortgeschritten ist. Es ist zwar bewiesen, dass weniger finanziell schlecht Gestellte Abitur machen, jedoch sollte auch gefragt werden: was soll man denn noch machen? Dem Staat fehlt von vorne bis hinten das Geld - wie soll er noch mehr Finanzierung übernehmen?

Was nun die soziale Gerechtigkeit betrifft, halte ich zu weit gehende Umverteilung für ungerecht und kontraproduktiv. Ich denke, der Begriff "soziale Gerechtigkeit" entstand mit den Problemen der Industrialisierung und den Auswüchsen des Manchester-Kapitalismus, der die Arbeitnehmer zum Teil schutz- und hilflos machte.
Für mich bedeutet soziale Gerechtigkeit, dass die Sicherung der Grundbedürfnisse eines jeden Menschen stets gewährleistet ist und dass der Staat Rahmenbedingungen schafft, die die Auswirkungen des freien Marktes auf den kleinen Mann in der Form regulieren, dass keine Ungerechtigkeit entsteht. Dass er abgesichert ist für den Fall, dass er arbeitslos, alt oder krank werden sollte und deshalb im freien Wettbewerb untergehen würde ohne eine Absicherung. Das ist gut und gerecht, die Gerechtigkeit hört jedoch an dem Punkt auf, an dem ein dahingehendes Verteilungssystem anfängt ausgenutzt zu werden, weil es zu gut ist und sich über die Absicherung hinaus eine Umverteilung zum Ziel nimmt, die auf dem (ungerechten) Prinzip der Gleichmachung beruht.

Daher wird der Begriff der sozialen Gerechtigkeit meiner Meinung nach auf politischer Ebene meistens missbraucht. Mir scheint, es schwingt oftmals eine Brise Neid und Missgunst mit, die in diesem Land beide recht weit verbreitet sind.

John Donne
07.03.2004, 22:31
Original von Luciérnaga
Super Thema, John Donne, über die Frage der tatsächlichen Bedeutungen dieser Begriffe bin ich auch schon öfters gestolpert!

Danke :)



Demnach sollte der Erwerb von Qualifikationen unabhängig sein von Hautfarbe, Geschlecht, Reichtum und sonstigen Kriterien. Ich denke, das ist die Grundidee der Chancengleichheit.
Das ist eine Chancengleichheit, die ich gutheiße.



Nun ist es aber so, dass vor Allem die finanzielle Lage den Erwerb von Qualifikationen ermöglicht, die über die vom Staat finanzierten Qualifikationen, sprich die schulische und universitäre Ausbildung, hinausgehen und dass diese den "besser Gestellten" eventuell im Nachhinein zu einer besseren Stellung verhelfen können.
Das mag nun dem ein oder anderen als "Ungerechtigkeit" erscheinen, jedoch sehe ich es als Folge eines freien Wettbewerbs in einem freiheitlichen Staat in dem sich jeder frei entwickeln darf und letztendlich nunmal auch muss.

*nickt*
Allerdings sind die Chancen m.E. auch in den staatlich finanzierten Bildungseinrichtungen Schule nicht gleich. In den Schulen wird es dadurch deutlich, daß es eine starke Korrelation zwischen elterlichem Bildungsniveau und schulischem Erfolg der Kinder gibt. Ich meine, hier wird zu Recht ein Kausalzusammenhang vermutet. Anders ausgedrückt: Die Misere im Schulsystem ist unübersehbar. Trotzdem(!) bringt ein Teil der Schüler noch gute und sehr gute Leistungen. Einen nicht unerheblichen Teil ihres Wissens haben diese allerdings wohl aus dem Elternhaus, sei es aus direkten Gesprächen oder auch Materialen (Büchern, Lexika), die anderen nicht zu Verfügung stehen. Ich bin wie man dem Eingangsposting entnehmen kann nicht gerade ein SPD-Linker, aber ich finde, das jetzige Schulsystem - übrigens oft von Sozialdemokraten geleitet (ich komme aus NRW) - ist schlicht unsozial. Abgesehen davon bin ich der Meinung, daß gerade in Zeiten knapper Kassen (also immer!) an der Bildung zuletzt gespart werden sollte, da in einem solchen Fall unangenehmen Folgekosten für die Solidargemeinschaft Staat quasi vorprogrammiert sind. So kurzsichtig zu sein ist fast schon kriminell.



Andere Frage jedoch: wieviel Fortschritt brauchen wir eigentlich noch? Wird uns der "Fortschritt", das Wachstum nicht langsam selbst zum Verhängnis? Hmmm... ich glaube, das könnte glatt ein neues Thread-Thema ergeben...! :D

Völlig richtig, diese Frage zu stellen. Aber wohl zu komplex, um sie hier nebenbei mit zu behandeln. Zumal noch zu klären wäre, was Fortschritt überhaupt ist. Daß Moore's law weiterhin gültig bleibt?



Aber zurück zum Thema: ich bin der Meinung, dass in Deutschland die Chancengleichheit durch die kostenlose Schulausbildung bereits sehr weit fortgeschritten ist. Es ist zwar bewiesen, dass weniger finanziell schlecht Gestellte Abitur machen, jedoch sollte auch gefragt werden: was soll man denn noch machen? Dem Staat fehlt von vorne bis hinten das Geld - wie soll er noch mehr Finanzierung übernehmen?

Abgesehen von solchen Quoten sollte generell die Schulausbildung verbessert werden. In allen drei Schulformen für weiterführenden Schulen, in Grundschulen und Hochschulen. Das wird Geld kosten, richtig. Aber das muß irgendwie gehen. So eng der Grütel schon geschnallt ist, das sind m.E. wirkliche Investitionskosten. Das ist irgendwo auch eine Frage der Priorität. Und die sollte hier sehr hoch sein.


Dass er abgesichert ist für den Fall, dass er arbeitslos, alt oder krank werden sollte und deshalb im freien Wettbewerb untergehen würde ohne eine Absicherung. Das ist gut und gerecht, die Gerechtigkeit hört jedoch an dem Punkt auf, an dem ein dahingehendes Verteilungssystem anfängt ausgenutzt zu werden, weil es zu gut ist und sich über die Absicherung hinaus eine Umverteilung zum Ziel nimmt, die auf dem (ungerechten) Prinzip der Gleichmachung beruht. Daher wird der Begriff der sozialen Gerechtigkeit meiner Meinung nach auf politischer Ebene meistens missbraucht. Mir scheint, es schwingt oftmals eine Brise Neid und Missgunst mit, die in diesem Land beide recht weit verbreitet sind.
Volle Zustimmung. Ich möchte noch erwähnen, daß gerade das Gesundheitssystem und sein Kosten sehr komplex und auf jeden Fall optimierbar ist. Ich werde darüber in einem gesonderten Beitrag meine Sichtweise ausführlich darstellen. Ich bin der Meinung, daß auch hier ärgerlicherweise sehr viel verschwiegen wird.

Grüße
John

Luciérnaga
08.03.2004, 18:47
Original von John Donne
Anders ausgedrückt: Die Misere im Schulsystem ist unübersehbar. Trotzdem(!) bringt ein Teil der Schüler noch gute und sehr gute Leistungen. Einen nicht unerheblichen Teil ihres Wissens haben diese allerdings wohl aus dem Elternhaus, sei es aus direkten Gesprächen oder auch Materialen (Büchern, Lexika), die anderen nicht zu Verfügung stehen. Ich bin wie man dem Eingangsposting entnehmen kann nicht gerade ein SPD-Linker, aber ich finde, das jetzige Schulsystem - übrigens oft von Sozialdemokraten geleitet (ich komme aus NRW) - ist schlicht unsozial. Abgesehen davon bin ich der Meinung, daß gerade in Zeiten knapper Kassen (also immer!) an der Bildung zuletzt gespart werden sollte, da in einem solchen Fall unangenehmen Folgekosten für die Solidargemeinschaft Staat quasi vorprogrammiert sind. So kurzsichtig zu sein ist fast schon kriminell.
[...]
Abgesehen von solchen Quoten sollte generell die Schulausbildung verbessert werden. In allen drei Schulformen für weiterführenden Schulen, in Grundschulen und Hochschulen. Das wird Geld kosten, richtig. Aber das muß irgendwie gehen. So eng der Grütel schon geschnallt ist, das sind m.E. wirkliche Investitionskosten. Das ist irgendwo auch eine Frage der Priorität. Und die sollte hier sehr hoch sein.

Das stimmt zweifelsohne! Es wird zwar immer halbherzig heruntergebetet, dass die Zukunft in der Ausbildung der jungen Menschen läge, aber wenn man es sich recht überlegt, wird tatsächlich nicht genug getan und die Priorität oftmals erkannt, aber letztendlich doch ignoriert.


Völlig richtig, diese Frage zu stellen. Aber wohl zu komplex, um sie hier nebenbei mit zu behandeln. Zumal noch zu klären wäre, was Fortschritt überhaupt ist. Daß Moore's law weiterhin gültig bleibt?
Yep, das beschäftigt mich nämlich auch schon länger - ich eröffne gleich parallel einen Thread dazu!

Ist ein wenig tödlich für die Diskussion, wenn die Positionen so übereinstimmen, aber was will man machen! :D
Interessant wäre es, einen "SPD-Linken" hier zu hören, nur bei der Besetzung des Forums bezweifle ich, dass sich hier überhaupt viele befinden... Schade!

opus111
09.03.2004, 01:04
Hallo John,

Dein Beitrag verdient eine längere Erwiderung, als ich sie aufgrund von Zeitmangel zu geben imstande wäre. Da Dein Beitrag bis auf ein paar wenige Punkte sehr differenziert ist, fällt es mir sehr schwer, exakt auszubalancieren, in welchen Punkten ich Dir zustimmen möchte oder nicht.

Daher konzentriere ich mich auf einen einzigen Punkt: den Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“.

Zunächst weise ich einfach einmal darauf hin, dass Hayek bei allen seinen vorgeblichen oder tatsächlichen Verdiensten gewiss nicht in philosophisch-ethischen Fragen berufen ist – auch wenn seine Einwände gegen den Begriff der sozialen Gerechtigkeit einiges an Wahrheit enthalten (jedoch m.E. bei weitem zu kurz gegriffen sind). Da wir eine mehrtausendjährige Ideengeschichte des Gerechtigkeitsbegriffs haben, käme mir zuallerletzt in den Sinn, ausgerechnet bei Hayek Auskunft zu erbitten.

Zweitens: Begriffe wie Glück oder Gerechtigkeit oder Freiheit sind hinsichtlich ihrer semantischen Elemente nicht „in concreto“ abbildbar. Folglich hat Hayek recht, dass sie kein allgemeines Gesetz verstatten, aus dem sich ALLE Einzelfälle ableiten ließen. (Dabei habe ich den Begriff „sozial“ noch gar nicht verwendet, der die Sache zweifellos erheblich komplizierter macht. Zu behaupten, die semantischen Elemente von Gerechtigkeit seien allgemein anerkannt, jedoch die der „sozialen Gerechtigkeit“ nicht, ist m.E. unzutreffend. Das von Hayek beschriebene Problem der Ableitung von Inhalten aus ethischen Diskursbegriffen setzt früher an). Dennoch sind solche Begriffe keineswegs sinnleer. Auf sie grundsätzlich zu verzichten, würde politische und ethische Kommunikation völlig unmöglich machen. Es handelt sich um ethische Diskursbegriffe: Ihr Sinn liegt darin, eine Kommunikation über konkrete gesellschaftliche Lebenswirklichkeit – und zwar zum Zweck einer Übereinkunft über Konkretionen – zu stiften. Darüber hinaus können solche Begriffe durchaus in der philosophischen Ethik einer bestimmten systematischen Form genügen (im übrigen nicht nur in der deutschen, sondern auch in der angelsächsischen Philosophie, welche Dir – so weit ich weiß – mehr entgegenkommt!).

Drittens: Nach der Gesellschaftsvertragsidee der europäischen Aufklärung ist der Begriff der Gerechtigkeit mit dem Begriff der „Gleichheit“ sehr eng verwoben. Dabei ist von vornherein klar, dass der Gleichheitsbegriff keineswegs genetische oder materielle Gleichheit impliziert, sondern lediglich „Gleichheit vor dem Gesetz“. Dies bedeutet schlicht, dass der Bundespräsident genauso wenig stehlen darf wie der Straßenbahnfahrer der Linie A9 – nicht mehr und nicht weniger! Keineswegs jedoch schließt dieser Begriff ein, dass beide absolut gleiche Befugnisse haben dürfen oder müssen. Gerechtigkeit verweist folglich lediglich auf ein System der Rechtsgleichheit, nicht jedoch auf faktische Gleichheit der Pflichten, Befugnisse, des sozialen Standes oder der materiellen Güter. Sozialemanzipatorisch ist dieser aus der Aufklärung stammende Begriff daher noch nicht.

Viertens: Allerdings hat „rechtliche Gleichheit“ materielle Voraussetzungen. Um sein Recht „einzuklagen“ oder im gesellschaftlichen Kommunikationsprozess zur Geltung zu bringen, bedarf es materieller Grundbedingungen, über deren jeweiliges Erfülltsein heftig gestritten werden kann. Ohne sozialemanzipatorische Elemente einer modernen Verfassung oder zumindest Staatswirklichkeit würden einige Mitglieder oder Gruppen der Gesellschaft in eine Situation gebracht, welche eine Artikulation von Interessen nicht mehr erlaubt. Eine solche Artikulation ist jedoch unabdingbar, wenn die im Gesellschaftsvertrag verankerte „ursprüngliche Gleichheit und – wechselseitig begrenzte - Freiheit“ nicht zugunsten beherrschender Gruppen, Schichten oder „Klassen“ (ich setze den Begriff bewusst schamhaft in Anführungszeichen, halte ihn aber noch nicht für völlig überholt) ausgehöhlt werden soll. Der Gedanke der Sozialemanzipation holt also letztendlich doch den Gerechtigkeitsbegriff der Aufklärung ein (ideengeschichtlich im 19. Jahrhundert). – Ich erinnere mich vage an Hayeks zynische Antwort, es genüge, die allereinfachsten Lebensbedingungen zu gewährleisten, um dem natürlichen Recht auf Leben zu genügen. Da sich jedoch ein System der Gerechtigkeit nicht nur pro forma, sondern in einer konkreten Lebenswirklichkeit abspielt, halte ich Hayeks Ansicht für absolut nicht förderlich. Gewiss lässt sich keineswegs konkret a priori sagen, was der einzelne bedarf, um an einem System gesellschaftlicher Gerechtigkeit partizipieren zu können. Es lässt sich jedoch durchaus anerkennen, dass in einer Gesellschaft hoher materieller Produktivität (folglich materiellen Reichtums) das absolute Überlebensminimum keineswegs genügt, um rechtliche Gleichheit herzustellen. Um mit einem Beispiel zu reden: Es mag ja durchaus zutreffen, dass das einzelne Gesellschaftsmitglied seinen Mund aufmachen und aussprechen darf, was immer es möchte. Wenn jedoch materiell beherrschende Gruppen ein faktisches Publizitätsmonopol innehätten, dann wäre der Erfolg genau der Gleiche, wie wenn Individuen mit abweichenden Standpunkten der Mund zugeklebt würde oder solche Personen mit Sanktionen bedroht würden. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wäre zwar immer noch verfassungsrechtlich „verankert“, der Form nach gültig, jedoch materialiter – dem Inhalt nach – korrumpiert. Daher hat der Begriff des Sozialen und der Sozialemanzipation unabhängig von jedweder Primitivideologie – sei sie neoliberal oder radikal-kommunistisch – auch mit Bezug auf den Gesellschaftsvertrag seine Berechtigung. Hayeks grandioser Fehler, den ich bereits vor 20 Jahren analysierte, liegt darin, dass er diesen wesentlichen Zusammenhang von materiellen Bedingungen und Freiheitsrechten weitgehend ignorierte.

Fünftens: Wie aber steht es mit dem Begriff der Freiheit des Wirtschaftens, auf den ein Hayek so großen Wert legt und den er für den eigentlich liberalen Begriff (im Unterschied zu einem emanzipatorischen Liberalitätsbegriff, den Hayek bereits in den 30er Jahren verwarf) hält? Weshalb sollte der Gesellschaftsvertrag überhaupt ein Freiheitsrecht auf Bereicherung verstatten? Was ist der Grund, weshalb wir Wirtschaftsliberalität und Privateigentum so hoch halten? Unter dem Blickwinkel des ursprünglichen Gesellschaftsvertrages bedeutet materielle Ausdifferenzierung in einer Gesellschaft weder etwas Gebotenes noch etwas Verbotenes: Weder kann das Individuum nach dem Gesellschaftsvertrag ein Recht reklamieren, genauso begütert zu sein wie jemand anderer, noch kann ein Individuum das Recht für sich beanspruchen, begüteter zu werden oder zu sein als jemand anderer. Hayeks Standort ist einseitig: Der Begriff der wirtschaftlichen Freiheit ist zunächst keineswegs zwingender als jener der „sozialen“ Gerechtigkeit und mindestens so „widersprüchlich“. – Zwar besteht Sinn und Zweck des Gesellschaftsvertrages, Gleichheit und Freiheit zu ermöglichen. Freiheit bedeutet aber naturgemäß nach Gesetzen wechselseitig begrenzte Freiheit: um allen Individuen einen sicheren Freiheitsraum zu ermöglichen. Wo die Grenzen des jeweiligen Freiheitsraumes liegen, ob sie beispielsweise auch die Freiheit einschließen, unter den Brücken von Paris im Suff umzukommen oder „auf Kosten anderer“ unermesslich reich zu werden, ist damit keineswegs a priori ausgemacht. Wenn und insofern wirtschaftliche Freiheit der einen die Handlungsspielräume anderer erheblich einschränkt, stellt sich doch die Grundsatzfrage: Kann dies gerecht sein und entspricht dies dem Ideal eines ausbalancierten Systems der Freiheitsrechte aller Individuen einer Gesellschaft? Der einzige Grund, der dennoch für „wirtschaftliche Freiheit“ spricht, ist lediglich ein Zweckkalkül, das anthropologisch begründet ist: das Wissen, dass Reichtum und Wohlstand der einen den Reichtum und Wohlstand der Gesellschaft – folglich aller Glieder – vermehrt. Nur insofern letzteres der Fall ist, hat die sogenannte „freie Marktwirtschaft“ überhaupt eine ethische Berechtigung.

Sechstens: So schwierig auch der Begriff der „sozialen“ Gerechtigkeit sein mag, es ist einfach falsch zu unterstellen, dass er notwendig das semantische Element der „Umverteilung“ einschließt. Dennoch: Selbstredend ist eine „gerechte“ Umverteilung undenkbar, andererseits gilt aber auch, dass erworbener Besitz aus Sicht unterprivilegierter Gesellschaftsmitglieder keineswegs deshalb bereits als legitim erscheinen muss, weil „Umverteilung“ ungerecht sei. Daher wird jede vernünftige Gesellschaft in irgendeiner Weise an Interessenausgleichen interessiert sein. Wenn es zutreffen würde, dass neoliberales Wirtschaften Arbeit für die meisten Arbeit und Wohlstand schafft, wäre ich ein Anhänger davon und würde ungeachtet der materiellen Ausdifferenzierung von „sozialer Gerechtigkeit“ sprechen. Allerdings zweifele ich an den Prämissen.

John Donne
09.03.2004, 11:31
Hallo opus111,


Original von opus111
Zunächst weise ich einfach einmal darauf hin, dass Hayek bei allen seinen vorgeblichen oder tatsächlichen Verdiensten gewiss nicht in philosophisch-ethischen Fragen berufen ist – auch wenn seine Einwände gegen den Begriff der sozialen Gerechtigkeit einiges an Wahrheit enthalten (jedoch m.E. bei weitem zu kurz gegriffen sind). Da wir eine mehrtausendjährige Ideengeschichte des Gerechtigkeitsbegriffs haben, käme mir zuallerletzt in den Sinn, ausgerechnet bei Hayek Auskunft zu erbitten.
Zweitens: Begriffe wie Glück oder Gerechtigkeit oder Freiheit sind hinsichtlich ihrer semantischen Elemente nicht „in concreto“ abbildbar. Folglich hat Hayek recht, dass sie kein allgemeines Gesetz verstatten, aus dem sich ALLE Einzelfälle ableiten ließen. (Dabei habe ich den Begriff „sozial“ noch gar nicht verwendet, der die Sache zweifellos erheblich komplizierter macht. Zu behaupten, die semantischen Elemente von Gerechtigkeit seien allgemein anerkannt, jedoch die der „sozialen Gerechtigkeit“ nicht, ist m.E. unzutreffend.

Hier macht es sich Hayek zugegebenermaßen zu einfach. Daß der Gerechtigkeitsbegriff, gerade aufgrund der von Dir erwähnten Ideengeschichte und rechtsphilosophischen Behandlung allerdings schärfer umrissen und klarer ist als der der sozialen Gerechtigkeit, davon bin ich überzeugt.



Das von Hayek beschriebene Problem der Ableitung von Inhalten aus ethischen Diskursbegriffen setzt früher an). Dennoch sind solche Begriffe keineswegs sinnleer. Auf sie grundsätzlich zu verzichten, würde politische und ethische Kommunikation völlig unmöglich machen. Es handelt sich um ethische Diskursbegriffe: Ihr Sinn liegt darin, eine Kommunikation über konkrete gesellschaftliche Lebenswirklichkeit – und zwar zum Zweck einer Übereinkunft über Konkretionen – zu stiften.

Dem stimme ich grundsätzlich zu. Der Teil über soziale Gerechtigkeit meines Eingangsbeitrags stellt lediglich die Behauptung auf, der Begriff der sozialen Gerechtigkeit ist ursprünglich ein Widerspruch in sich. Ich bin mir völlig darüber im Klaren, daß beispielsweise nach Gebrauchstheorien, Wörter eben durch auf Konvention basierenden und Konvention schaffenden Gebrauch mit Bedeutung gefüllt werden können. In dieser Weise interpretiere ich die Vokabel Diskursbegriff. Ich kritisiere allerdings, daß die durch die Form nahegelegte Bedeutung, mit der eine besonders ethische Form von Gerechtigkeit suggeriert wird, mit der teilweise rein politisch-programmatischen Bedeutung nicht übereinstimmt und den zu vermutenden hochgesteckten ethischen Maßstäben m.E. nicht gerecht wird.



Darüber hinaus können solche Begriffe durchaus in der philosophischen Ethik einer bestimmten systematischen Form genügen (im übrigen nicht nur in der deutschen, sondern auch in der angelsächsischen Philosophie, welche Dir – so weit ich weiß – mehr entgegenkommt!).

Völlig richtig.
Die angelsächsische Philosophie kommt mir gerade was den Freiheitsbegriff angeht, durchaus entgegen. Ich schätze vor allem Karl Popper sehr. In den meisten Bereichen bin ich allerdings eher klassisch-europäisch orientiert.



Drittens: Nach der Gesellschaftsvertragsidee der europäischen Aufklärung ist der Begriff der Gerechtigkeit mit dem Begriff der „Gleichheit“ sehr eng verwoben. Dabei ist von vornherein klar, dass der Gleichheitsbegriff keineswegs genetische oder materielle Gleichheit impliziert, sondern lediglich „Gleichheit vor dem Gesetz“. Dies bedeutet schlicht, dass der Bundespräsident genauso wenig stehlen darf wie der Straßenbahnfahrer der Linie A9 – nicht mehr und nicht weniger! Keineswegs jedoch schließt dieser Begriff ein, dass beide absolut gleiche Befugnisse haben dürfen oder müssen. Gerechtigkeit verweist folglich lediglich auf ein System der Rechtsgleichheit, nicht jedoch auf faktische Gleichheit der Pflichten, Befugnisse, des sozialen Standes oder der materiellen Güter. Sozialemanzipatorisch ist dieser aus der Aufklärung stammende Begriff daher noch nicht.

Auch hier stimme ich Dir völlig zu. Ich habe allerdings in einigen Diskussionen sowohl mit selbsternannten Idealisten als auch - vielleicht noch erschreckender - mit Technokraten festgestellt, daß dieser Konsens nicht von vornherein besteht. Daß ein solcher Konsens der Geschichtlichkeit des Gleichheitsbegriffes zugrunde liegt, steht auch meiner Meinung nach außer Zweifel.



Viertens: Allerdings hat „rechtliche Gleichheit“ materielle Voraussetzungen. Um sein Recht „einzuklagen“ oder im gesellschaftlichen Kommunikationsprozess zur Geltung zu bringen, bedarf es materieller Grundbedingungen, über deren jeweiliges Erfülltsein heftig gestritten werden kann. Ohne sozialemanzipatorische Elemente einer modernen Verfassung oder zumindest Staatswirklichkeit würden einige Mitglieder oder Gruppen der Gesellschaft in eine Situation gebracht, welche eine Artikulation von Interessen nicht mehr erlaubt. Eine solche Artikulation ist jedoch unabdingbar, wenn die im Gesellschaftsvertrag verankerte „ursprüngliche Gleichheit und – wechselseitig begrenzte - Freiheit“ nicht zugunsten beherrschender Gruppen, Schichten oder „Klassen“ (ich setze den Begriff bewusst schamhaft in Anführungszeichen, halte ihn aber noch nicht für völlig überholt) ausgehöhlt werden soll. Der Gedanke der Sozialemanzipation holt also letztendlich doch den Gerechtigkeitsbegriff der Aufklärung ein (ideengeschichtlich im 19. Jahrhundert). – Ich erinnere mich vage an Hayeks zynische Antwort, es genüge, die allereinfachsten Lebensbedingungen zu gewährleisten, um dem natürlichen Recht auf Leben zu genügen. Da sich jedoch ein System der Gerechtigkeit nicht nur pro forma, sondern in einer konkreten Lebenswirklichkeit abspielt, halte ich Hayeks Ansicht für absolut nicht förderlich.

Auch hier möchte ich Dir nahezu vollständig zustimmen. Der Kernpunkt ist m.E. gerade der, daß darüber, wann die materiellen Grundbedingungen erfüllt sind, vehement gestritten werden kann. Wie in meinem Eingangsbeitrag dargestellt, unterscheide ich mir hier auch von Hayek - und empfinde das von ihm festgelegte Niveau, ab wann von erfüllten Grundbedingungen gesprochen werden kann - als zynisch. Einer meiner Hauptkritikpunkte an Diskussionen um soziale Gerechtigkeit ist gerade, daß ich in vielen relevanten gesellschaftlichen Diskussionen das Bemühen um einen Konsens in dieser Frage vermisse.




[..] Daher hat der Begriff des Sozialen und der Sozialemanzipation unabhängig von jedweder Primitivideologie – sei sie neoliberal oder radikal-kommunistisch – auch mit Bezug auf den Gesellschaftsvertrag seine Berechtigung. Hayeks grandioser Fehler, den ich bereits vor 20 Jahren analysierte, liegt darin, dass er diesen wesentlichen Zusammenhang von materiellen Bedingungen und Freiheitsrechten weitgehend ignorierte.

Ich halte auch eine auf Relativität basierende Definition von Armut für treffender.
Ich würde das Verhindern von Monopolen, die wie dargestellt durchaus soziale Relevanz haben können, allerdings nicht zur sozialen Gerechtigkeit zählen, sondern zur Sicherung von Freiheit, da ich in Deinem Beispiel nicht den unmittelbaren materiellen Bezug sehe:
Es ist ja nicht unsittlich, soviel Geld zu besitzen, daß man vom Wert her ein Publikationsmonopol aufbauen könnte. Unsittlich, weil dem Gedanken der freien persönlichen Entfaltung und der gesellschaftlichen Teilhabe widersprechend, ist es natürlich, dies zu tun. Das Mittel der Wahl wäre deshalb m.E. ein schlichtes Monopolisierungsverbot, keine materielle Umverteiung: Solange das Kapital nicht derart freiheitsbedrohend angelegt wird, muß es nicht umverteilt werden.
Richtig ist, daß jedem Bürger im Sinne sozialer Teilhabe zur würdigen Existenzsicherung mehr Geld zur Verfügung stehen sollte, als Hayek ihm zugesteht. Hier habe ich mich jedoch auch schon in meinem Eingangsbeitrag nicht auf Hayeks Seite gestellt.



Fünftens: Wie aber steht es mit dem Begriff der Freiheit des Wirtschaftens, auf den ein Hayek so großen Wert legt und den er für den eigentlich liberalen Begriff (im Unterschied zu einem emanzipatorischen Liberalitätsbegriff, den Hayek bereits in den 30er Jahren verwarf) hält? Weshalb sollte der Gesellschaftsvertrag überhaupt ein Freiheitsrecht auf Bereicherung verstatten? Was ist der Grund, weshalb wir Wirtschaftsliberalität und Privateigentum so hoch halten? Unter dem Blickwinkel des ursprünglichen Gesellschaftsvertrages bedeutet materielle Ausdifferenzierung in einer Gesellschaft weder etwas Gebotenes noch etwas Verbotenes: Weder kann das Individuum nach dem Gesellschaftsvertrag ein Recht reklamieren, genauso begütert zu sein wie jemand anderer, noch kann ein Individuum das Recht für sich beanspruchen, begüteter zu werden oder zu sein als jemand anderer.

Begüterter zu werden als andere, stellt in keinem Fall einen Anspruch da, schon gar kein einklagbares Recht. Allerdings behaupte ich, daß der Wunsch, begütert und sogar überdurchschnittlich begütert zu sein, in der Natur des Menschen liegt. Konsumiert wird ja nicht nur zur Bedürfnisbefriedigung sondern seit alters her auch zur Schaffung einer und zum Einfügen in eine Sozialstruktur, die hierarchisiert ist. Es geht also nicht darum, einen Anspruch auf materielle Ausdifferenzierung festzuschreiben, sondern darum, auf welcher Grundlage die Gesellschaft wirtschaftliche Freiheit verbieten oder, indem sie das Individuum der Früchte seiner wirtschaftlichen Tätigkeit beraubt, diese einschränken darf. Durch den Gesellschaftsvertrag gibt das Individuum ja nicht alle seine Handlungsmöglichkeit an die Gesellschaft ab. Im Gegenteil, jedes Individuum ist bestrebt, nur soviel Macht abzugeben, wie die Gesellschaft benötigt, um die ihr zukommenden Aufgaben sinnvoll erfüllen zu können. Sie hat kein Recht, sich mehr Macht als nötig anzueignen; dies widerspräche der Idee der Freiheit, die zu sichern der Gesellschaftsvertrag ja gerade begründet würde. Insofern muß die Gesellschaft begründen, warum sie wirtschaftliche Freiheiten einzuschränken gedenkt.



Hayeks Standort ist einseitig: Der Begriff der wirtschaftlichen Freiheit ist zunächst keineswegs zwingender als jener der „sozialen“ Gerechtigkeit und mindestens so „widersprüchlich“. – Zwar besteht Sinn und Zweck des Gesellschaftsvertrages, Gleichheit und Freiheit zu ermöglichen. Freiheit bedeutet aber naturgemäß nach Gesetzen wechselseitig begrenzte Freiheit: um allen Individuen einen sicheren Freiheitsraum zu ermöglichen. Wo die Grenzen des jeweiligen Freiheitsraumes liegen, ob sie beispielsweise auch die Freiheit einschließen, unter den Brücken von Paris im Suff umzukommen oder „auf Kosten anderer“ unermesslich reich zu werden, ist damit keineswegs a priori ausgemacht.

Auch dem stimme ich teilweise zu. Allerdings liegt dem obigen Absatz die unsausgesprochene Annahme zugrunde, daß wirtschafliche Betätigung stets zum Wohle des einen und Wehe des anderen erfolgt. Diese Auffassung teile ich nicht. Im Gegenteil: In den meisten Fällen erfolgt wirtschaftliche Betätigung zum Wohle beider Handelspartner. Sie stellt nicht zwingend ein Nullsummenspiel dar, es findet ja durch Produktion und Handel eine Wertschöpfung statt, die nicht vollständig verkonsumiert wird. Daß dennoch bei wirtschaftlichen Verhandlungen der zu erwartende Gewinn für beide Seiten höchst unterschiedlich ausfallen kann und daß unter gewissen Vorraussetzungen der Handel unter Zwang und tatsächlich auf Kosten der einen Partei stattfindet, rechtfertigt m.E. keine Eingriffe der Gesellschaft in freies wirtschaftliches Handeln, die über die Vermeidung dieser Ausnahmeszenarien hinausgehen.



Der einzige Grund, der dennoch für „wirtschaftliche Freiheit“ spricht, ist lediglich ein Zweckkalkül, das anthropologisch begründet ist: das Wissen, dass Reichtum und Wohlstand der einen den Reichtum und Wohlstand der Gesellschaft – folglich aller Glieder – vermehrt. Nur insofern letzteres der Fall ist, hat die sogenannte „freie Marktwirtschaft“ überhaupt eine ethische Berechtigung.

Es ist zwar teilweise richtig und wird vielfach gerade aus witschaftsliberalen Kreisen zur Begründung angeführt, daß von dem Reichtum der wirtschaftlich Erfolgreicheren letzlich das Gesamtsystem profitiert. Für schlagkräftiger halte ich allerdings eine Begründung, die nach der Methode des Ausschlusses vorgeht: Auf welche andere Art und Weise ließe sich gesellschaftlicher Wohlstand überhaupt erreichen?
Ich denke auf keine. Dieser Einschätzung liegen sehr viele unausgesprochene Annahmen zugrunden, die eigentlich alle gesondert zu begründen sind, was an dieser Stelle allerdings m.E. den Rahmen sprengen würde. Darunter sind unter anderem die Annahmen oder Behauptungen, daß
- dem Mensch eine natürliche Faulheit innewohnt: Wenn das Handeln und Tun nicht materiell honoriert wird und man andererseits (fast) denselben materiellen Status erreichen kann, warum sollte man sich dann anstregen? Es blieben nur Ideale, deren Befolgung beispielsweise mit gesellschaftlichen Ehren, also immateriellen Vorteilen, verknüpft sein kann oder der Fleiß aus reinem Idealismus.
- der Mensch von Natur aus nicht hinreichend gut ist, um allein aus idealistischen Gründen oder wegen gesellschaftlicher Ehren sich anzustrengen.
- der Mensch auch durch kulturelle Veredlung nicht so "gut" gemacht werden kann.

Obwohl man das Gegenteil nicht definitiv ausschließen kann, spricht doch m.E. die bisherige geschichtliche Erfahrung für einen hohen Wahrheitsgehalt dieser Annahmen.



Sechstens: So schwierig auch der Begriff der „sozialen“ Gerechtigkeit sein mag, es ist einfach falsch zu unterstellen, dass er notwendig das semantische Element der „Umverteilung“ einschließt.

Die Umverteilung sehe auch ich nicht als Teil der Semantik von sozialer Gerechtigkeit. Die Erfahrung zeigt allerdings, daß Umverteilung mit sozialer Gerechtigkeit einhergeht, m.E. sogar impliziert wird. Ist denn denkbar, auf eine andere Art und Weise für Unterprivilegierte Lebensbedingungen zu schaffen, nach der sie an gesellschaftlicher Gerechtigkeit teilhaben können?



Dennoch: Selbstredend ist eine „gerechte“ Umverteilung undenkbar, andererseits gilt aber auch, dass erworbener Besitz aus Sicht unterprivilegierter Gesellschaftsmitglieder keineswegs deshalb bereits als legitim erscheinen muss, weil „Umverteilung“ ungerecht sei.

Das ist zweifellos richtig. Ob erworbener Besitz gerecht ist oder nicht, entscheidet im wesentlichen, ob er auf gerechte Art und Weise erworben wurde.



Daher wird jede vernünftige Gesellschaft in irgendeiner Weise an Interessenausgleichen interessiert sein.

Die Begründung, also das "daher", steckt m.E., um das "sinvoll" zu rechtfertigen, voller impliziter Annahmen:
Insbesondere, daß die Mehrheit in einer Gesellschaft (und die Mehrheit ist nicht überdurchschnittlich erfolgreich; es fallen allerdings immer die sehr Erfolgreichen oder völlig Erfolglosen auf (Selbstverschulden spielt dabei keine Rolle)) im Sinne der Wahrung des gesellschaftlichen Friedens berechtigt ist, diesen Interessenausgleich über das, was zu Erhaltung des Gesellschaftsvertrags materiell notwendig ist, umzuverteilen, um sozusagen einer besonderen psychologischen Komponente zu genügen. Diese beinhaltet meiner Meinung nach inplizit, daß Reichtum, der ein gewisses Maß übersteigt, nicht den gesellschaftlichen Maßstäben von Gerechtigkeit entsprechend entstanden sein kann, und legt - ganz im Gegensatz zu sonstigen Grundpfeilern eines Rechtsstaates - Beweislastumkehr an: Im Zweifel gegen den Angeklagten. Daß sich dieses Vorgehen oftmals aus Neid, Mißgunst und auch politischen Motiven speist, darf zumindest vermutet, daß ein solches Vorgehen höheren ethischen Maßstäben genügt, bezweifelt werden.

Grüße
John

opus111
09.03.2004, 12:45
Hallo John,

leider bin ich in der unangenehmen Situation sowohl beruflich als auch privat bis Anfang nächster Woche unterwegs zu sein. Daher kann ich erst kommende Woche auf Details eingehen.

Vorab: Ich wünschte, dieses Forum würde sich allgemein auf dem hohen diskursiven Niveau Deines Beitrages bewegen. Dann würde es Freude machen, gleichermaßen niveauvoll zu "streiten".

Es wäre mir jetzt am liebsten, ich könnte auf jeden einzelnen Punkt detailliert eingehen. Ich muss mir dies bis kommende Woche ersparen.

Liebe Grüße

Opus111

John Donne
09.03.2004, 16:23
Hallo opus111,

eine gute Diskussion hat Zeit :)
Dein Kompliment macht mich ganz verlegen, aber auch mir macht diese Diskussion Spaß und ich gebe es gern zurück.

Liebe Grüße und bis bald
John

AxelFoley
11.03.2004, 12:52
Wer das nötige Schmiergeld hat, lernt die Vorzüge unseres Rechtsstaates erst richtig kennen.

opus111
19.03.2004, 00:33
Hallo John,

da wir in vielem übereinstimmen, möchte ich hier herausarbeiten, in welchen Punkten wir wahrscheinlich nicht übereinstimmen. Es gibt dabei zwei Möglichkeiten: ich gehe auf jeden einzelnen von Dir beantworteten Punkt noch einmal ausführlicher ein, oder aber ich entwickele ein neues Argumentationsszenario. Nach einigen Überlegungen habe ich mich zu letzterem entschieden.

1. Der Zweck des Gesellschaftsvertrages besteht darin, die Freiheitsrechte eines jeden Individuums zu gewährleisten. Machen wir uns dabei zunächst klar, dass vor dem fiktiven Gesellschaftsvertrag (der ja keineswegs historisch-tatsächlich, sondern nur modellhaft zu verstehen ist) die Freiheit eines Individuums von dem Maße seiner an kein Gesetz gebundenen Durchsetzungsfähigkeit abhängig ist. Folglich verfügen einige Individuen allein aufgrund ihrer physischen Durchsetzungsfähigkeit über ein Höchstmaß an Freiheit, andere hingegen (z.B. Sklaven) nur über ein sehr geringes Maß. Der Gesellschaftsvertrag bezweckt eine Beseitigung dieses Ungleichgewichts: Dies ist nur möglich, indem die Freiheit des Mächtigen/Durchsetzungsstärkeren zugunsten der Freiheit des Schwächeren begrenzt wird. Ohne eine solche Begrenzung befänden wir uns hingegen noch im Naturzustand, in welchem lediglich das "Recht des Stärkeren" gilt. Der "Gesellschaftsvertrag" ist folglich sowohl freiheitsbegrenzend als auch freiheitsermöglichend: Da unbeschränkte Willkürfreiheit demnach prinzipiell ungesetzlich und vorgesellschaftlich ist, wird sie nach den Normen des Gesellschaftsvertrages als "unvernünftige", ungesetzliche Freiheit (im Unterschied zur "vernünftigen", gesetzlichen) desavouiert.

Ebenso klar ist aber auch, dass die Freiheit von Individuen nicht über Gebühr begrenzt werden darf. Eine Limitierung von Willkürfreiheiten ist nur insoweit gestattet, als die Freiheit anderer Individuen betroffen ist. D.h. ein Individuum verfügt über Freiheit in dem Maße, in welchem die Ausübung seiner Willkür zu keiner Beschränkung der Freiheit anderer führt. Zu den Freiheitsrechten des Individuums gehören demnach auch größtmögliche Nutzenmaximierung und Inbesitznahme - und zwar genau in jenem Umfange, der zu keiner Einschränkung der Freiheitsrechte anderer Individuen führt.

2. Die Freiheitsphilosophie der europäischen Aufklärung findet in der kantischen Rechtslehre ihren epochalen Höhepunkt und Ausklang. Prägnant ist die Formulierung des allgemeinen Rechtsprinzips: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“.

Diese Theorie einer rechtsbasierten Freiheit beinhaltet auch bei Kant – als Endpunkt einer Entwicklung – noch keine wesentlichen sozialemanzipatorischen Elemente. Dennoch gibt es bereits hier eine bemerkenswerte Ausnahme in der Feststellung eines dritten Prinzipes neben den Grundsätzen rechtlicher Freiheit und Gleichheit: Ich spreche hier von Kants Forderung nach „bürgerlicher Selbständigkeit“ (Sibisufficientia), d.h. der materiellen Unabhängigkeit vom Willen anderer in demokratischen Entscheidungs- und Abstimmungsprozessen, die für die Konstitution eines legitimierten staatlichen Rechts nach dem Modell des fiktiven Gesellschaftsvertrags (und zwar als Garant legitimer Freiheit und Rechtsgleichheit) unabdingbar sind. Diesen wichtigen Gedanken hat Kant genialerweise angedeutet, jedoch wohlweislich nicht zuende gedacht. Es hätte wohl auch den Rahmen der frühbürgerlichen Gesellschafts- und Staatstheorie gesprengt.

3. Um so schwieriger gestaltet sich die frühe Theorie materieller Besitzansprüche und Nutzenmaximierung. In der Tat sieht man sich auf der Basis eines fiktiven vorgesellschaftlichen Zustandes nur schwerlich imstande zu erklären, worin die Ursprünge materieller Ungleichheit liegen und wodurch diese Ungleichheit legitimiert werden könnte.

Der Organisation zivilisatorisch und technisch fortgeschrittener Produktionsmittel geht zunächst der gemeinsame Besitz des Bodens voraus. Die materiellen Unterschiede werden nach der frühen Gesellschaftstheorie als legitime Aneignungen erklärt. Hier liegt folgender Gedanke zugrunde, der am ehesten in einem Bild beschreibbar ist: Drei Freunde staunen über die Größe der Erde und machen sich auf den Weg, sie zu erobern. Klaus marschiert nach Osten und steckt sich ein fruchtbares Terrain ab, welches mehr deckt als seine bloßen Lebensbedürfnisse. Otto rodet im Westen den Urwald. Das Gebiet, welches er in Besitz nimmt, reicht für seine persönlichen Lebensbedürfnisse: mehr braucht er nicht. Friedrich hingegen nimmt das ganze Gebiet im Süden für sich in Anspruch, soweit das Auge reicht, und darüber hinaus. Was er damit anfangen will, weiß er noch gar nicht. – Diese ursprünglichen Aneignungen gelten als legitim, weil sie die Willkürfreiheit der anderen nicht berühren. Dies ist bereits hinreichend.

4. Das skizzierte Modell als solches jedoch ist im Fortgang der gesellschaftlichen Entwicklung keineswegs hinreichend. Eine Einschränkung der Rechte anderer ergibt sich aus dem Modell nur deshalb nicht, weil zwischen den Aneignungen der Individuen keine Wechselwirkungen existieren. In einer komplexer strukturierten zivilisatorischen und gesellschaftlichen Realität stellen sich daher gänzlich andere Probleme für die Konstitution von Freiheit und Gleichheit. Da in dem Modell eine Theorie des Warenaustausches (die wiederum Spezialisierung im Sinne von Arbeitsteiligkeit voraussetzt) fehlt, wird nicht deutlich, in welchen faktischen Spannungsverhältnissen die Konstitution von Freiheit und Gleichheit in einer materiell fortgeschrittenen Gesellschaft steht.

5. Diese Spannungsfelder sind offensichtlich, sie stehen in der täglichen politischen Debatte, und sie sind auch keineswegs neu. Dabei steht außer Frage, dass freies Unternehmertum für das gemeine Ganze förderlich ist: nicht jedoch ein Raubritterkapitalismus, der zu einer Art Meinungsmonopolismus im Sinne Berlusconis und zur de-facto (keineswegs de-iure-)Entrechtung von großen Teilen der meist lohnabhängigen Bevölkerung führt. – Ich halte diese Fakten für evident. Nicht für evident halte ich jedoch eine Philosophie des Liberalismus, der ein unvernünftiges Recht auf grenzenlose Bereicherungsfreiheit einklagt. Unvernünftig genau in dem aufklärerischen Sinne, dass rechtliche Freiheit und Gleichheit großer Teile der Gesellschaft gefährdet sind. Wobei der entscheidende Prüfstein für dieses Gleichgewicht lediglich darin besteht, in welchem Umfang Individuen an der allgemeinen Konstitution von Rechtsinstituten überhaupt mitzuwirken erlaubt ist (über das alle 4 Jahre wiederkehrende Abstimmritual hinaus). Genau dies ist ja die Grundforderung des ursprünglichen Gesellschaftsvertrages: dass eine allgemeine Mitwirkung an dem Institut der Freiheit (was idealerweise Recht sein soll) möglich sein müsse, weil nur auf diese Weise eine wechselseitige gesetzliche Freiheit ihre Bestimmung finden kann.
6. Ich habe den Verdacht, dass der Wirtschaftsliberalismus amerikanischer Prägung auf dem bereits oben beschriebenen Modell des primitiven Absteckens von Claims basiert. Es handelt sich um die Philosophie von Eroberern, die sich nicht wechselseitig behindern: jeder bedient sich, so gut er kann. Dass dabei das Territorium der Indianer berührt wurde, ist offensichtlich unbeachtlich geblieben, handelt es sich doch bei letzteren nur um Wilde und nicht um Teilhaber am Gesellschaftsvertrag zivilisierter Individuen. (Die Mitbestimmung von Angestellten ist ja auch unnötig, da im „Gesellschaftsvertrag“ etwa von Investmentbankern untereinander nicht vorgesehen. Ist es doch Ziel der Investbanker, das eigene Institut zu zerschlagen und zu verkaufen, um größtmöglichen Privatprofit zu erlangen. So als ob es sich um Privatbesitz dieser Herren oder besitzlose Wild-West-Claims handeln würde, die man sich frei im Sinne „ursprünglicher Erwerbung“ aneignen könne. Ich spreche hier von einem bestimmten Finanzinstitut nationaler Bedeutung – siehe Artikel im letzten Focus). – Folglich handelt es sich hier um eine Art Primitivphilosophie, die etwas hinter den fortgeschrittenen Ideen der europäischen (und auch angelsächsischen!) Aufklärung zurückbleibt.

7. Ich glaube, hinreichend dargelegt zu haben, inwiefern das sogenannte „Soziale“ zum Zweck der Ermöglichung bürgerlicher Subsistenz und Eigenständigkeit auch nach dem Gesellschaftsvertrag der Aufklärung für den Begriff gesetzlicher Freiheit unverzichtbar ist. Allerdings wäre es naiv, etwa im Sinne Hayeks zu fordern, dass dieser Begriff a priori mit bestimmten quantitativen Merkmalen ausgestattet werden müsse, damit ernsthaft über ihn diskutiert werden könne. Qualitative Größen sind nur in gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen und Übereinkommen bestimm- und indirekt quantifizierbar. Ein solcher Gedanke liegt möglicherweise dem spezialisierten Sachverstand des Ökonomen fern (wenn er nicht Keynes heißt, der mehr darüber wusste als die meisten anderen Ökonomen). Mein Fazit: Der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ ist nur insofern zu beanstanden, als der Begriff einer „unsozialen Gerechtigkeit“ undenkbar ist. Gerechtigkeit ist im Sinne eines analytischen Urteils a priori immer „sozial“. Der Begriff ist also überpointiert und deutet auf politisch-Programmatisches. - Absurd wäre der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ in Wahrheit nur dann, wenn „sozial“ mit der Forderung nach absoluter faktischer Gleichheit einherginge. Diese Gleichheit mag zwar eingefordert werden, aber sie ist prinzipiell nicht umsetzbar. Es wäre beispielsweise lächerlich, dem Begabteren eine Art von Nutzenmaximierung auf Basis seiner höheren Begabung mit dem Hinweis zu verbieten, dass andere weniger begabt seien („Du habest genauso wenig zu können wie diese anderen“). Sofern sich Hayek auf ein solches albernes Paradigma bezieht, welches nur die äußerste Fraktion des utopischen Kommunismus vertritt (nicht einmal Karl Marx!), hat er zweifelsohne recht. Dies bedeutet jedoch einen grotesken Kampf gegen Windmühlen. Wir leben eben nicht in einer Zeit des Sozialutopismus, sondern im Zeitalter einer Ideologie des Radikalkapitalismus, die im Extremfall einem freien unternehmerischen Handeln im Rahmen ursprünglicher Vernunftgesetzgebung sogar eines Tages ein Ende bereiten könnte.

P.S.: Natürlich stimme ich mit Dir überein, dass Umverteilung nicht das Losungswort ist. Dennoch halte ich unter sehr begrenzten Bedingungen "Umverteilung" für eine legitime Maßnahme (wenn eben ein Verbot de iure, auf der ideellen Ebene, nicht hinreicht, um den Eingriff materieller Macht in die Rechte anderer zu verhindern). Allerdings ist doch diese Debatte anachronistisch, denn Umverteilung bedeutet heutzutage die nach Vernunftgesetzen rechtswidrige Bereicherung der bereits Reichen auf Kosten der breiten Mittelschicht - also das pure Gegenteil von dem, was Du hier zurecht in Frage stellst und was noch vor 20 Jahren diskutiert wurde.

John Donne
26.03.2004, 13:11
Hallo opus,

da das Beantworten Deines Beitrags es gleichermaßen erfordert wie verdient, daß ich mir dafür etwas mehr Zeit nehme als für die meisten anderen Beiträge, antworte ich erst jetzt.

Deinem ersten Punkt stimme ich voll zu und möchte lediglich ergänzen, daß meiner Einschätzung nach auch und besonders die durchschnittliche Freiheit eines Individuums durch den Gesellschaftsvertrag gesteigert wird. Es wird also nicht nur ein Ausgleich zwischen den von der schieren Durchsetzungfähigkeit abhängigen und unterschiedlichen Freiheiten der Individuen geleistet, wobei dies völlig unbestritten einer der Hauptaspekte ist. Ich bin der Meinung, daß das Gesamtniveau der Entfaltungsmöglichkeiten insgesamt steigt, das Ganze also kein Nullsummenspiel ist.
Betrachtet man spieltheoretische Szenarien, so glaube ich, daß die Fälle von Kooperation, die ja grundsätzlich für alle beteiligten Parteien von Gewinn sind, sich hier wesentlich häufiger ergeben. Und das ist gut so.

Das Prinzip der "bürgerlichen Selbständigkeit" bei Kant ist mir neu, höchstwahrscheinlich kenne ich Kant nicht gut genug, werde das aber gerne nachlesen :) Für mich klingt es prinzipiell völlig einleuchtend. Ich denke auch, daß es den damaligen Rahmen der sich gerade erst entwickelnden Gesellschaftstheorie gesprengt hätte. Zu klären ist m.E. allerdings, wann eine
"materiellen Unabhängigkeit vom Willen anderer in demokratischen Entscheidungs- und Abstimmungsprozessen" gegeben ist. Ich möchte keineswegs antreten und diese Grenze so niedrig wie möglich ansetzen. Vielmehr möchte ich meinen Eindruck darlegen, daß diese im weiteren Sinne möglicherweise niemals für alle völlig erreicht wird. Gerade in unserer Gesellschaft, die trotz momentaner wirtschaftlicher Schwierigkeiten immer noch wohlhabend ist und fast allen weit mehr bietet als die bloße Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse haben Wahlversprechen, eine "Brot und Spiele"-Mentalität und das gezielte Schaffen neuer Bedürfnisse und Abhängigkeiten Hochkonjunktur. Im engeren Sinne mag ein besonders klares Beispiel für eine derartige Abhängigkeit vielleicht die des Clienten von seinem Patron zu Spätzeiten der römischen Republik sein. Offensichtlich müssen die Grundbedürfnisse jedes Individuums gedeckt sein, damit es überhaupt möglicherweise an demokratischen Prozessen partizipieren und sich entfalten kann. Inwieweit sie allerdings darüberhinausgehen müssen, ist relativ und damit nicht klar faßbar: Armut wird überwiegend und sinnvoll relativ definiert. Gerade, weil sie auch eine soziale Komponente hat. Andererseits bedeutet dies, daß sich an der Armutsstatistik nicht ändern würde, verdoppelte man schlicht das Einkommen aller Individuen der Gesellschaft.

Dein dritter und vierter Punkt sind sehr schön dargestellt. Ich meine jedoch nicht, daß es so schwer ist, zu erklären, worin die Ursprünge materieller Ungleichheit liegen. Ich bin der Meinung, in frühen Phasen werden das vor allem zwei Komponeten gewesen sein: Zufall und klimatische Unterschiede. Pech oder Glück bei der Jagd, beim Wetter und damit der Ernte, bei Geburten, Krankheiten und dergleichen.
Man merkts übrigens stets dann, wenn auf einem neuen wirtschaftlichen Gebiet noch "Claims abgesteckt" werden können - eigenes wirtschaftliches Wachstum also noch gar nicht auf Kosten der momentanen Chancen anderer gehen kann, daß die Wechselwirkung das entscheidende Kriterium ist.

Den Fall Berlusconi, der ja mehr als ein Fall ist, zumindest italienische Verhältnisse durchaus breit darstallt und in der Tat als Beispiel für die tägliche Gefahr gesehen werden sollte, in deren Spannungsfeld moderne Gesellschaften sich befinden, beurteile ich ebenso. Die Evidenz der de-facto Entrechtung großer Teile der lohnabhängigen Bevölkerung kann ich ohne weiteres allerdings nicht nachvollziehen: Völlig zurecht ist das Arbeitsrecht das Gebiet, in dem zumindest in Deutschland am massivsten in die Vertragsfreiheit eingegriffen wird - gerade weil hier regelmäßig von einem ganz erheblichen Ungleichgewicht in der Durchsetzungsfähigkeit der Interessen der Vertragspartner ausgegangen werden kann und sich zudem eine Benachteiligung der Schwächeren Partei ganz erheblich auf deren Entfaltungsmöglichkeiten auswirkt. Daß hier in Deutschland große Teile der lohnabhängigen Bevölkerung de-facto entrechtet wären, sehe ich nicht so. In anderen Ländern, in denen der Marktwirtschaft jede soziale Komponente fehlt, ist dies durchaus der Fall, ja.
Den Prüfstein für ein anzustrebendes ungefähres Gleichgewicht finde ich wiederum sehr einleuchtend. Deinem sechstem Punkt kann ich nur zustimmen.
Dem Kern Deines siebten Punktes, daß eine völlig "unsoziale Gerechtigkeit" undenkbar ist, kann und möchte ich durchaus zustimmen. Ebenso dem, daß die qualitativen Merkmale der sozialen Komponente der Gerechtigkeit von vornherein und ein für alle mal klar sein müssen. Deine Einschätzung der Überpointierung teile ich ebenfalls. Daß wir allerdings in einer Zeit leben, in der der Raubtierkapitalismus die einzige Bedrohung für das erhaltenswerte Modell der sozialen Marktwirtschaft ist, meine ich nicht. Die größte Bedrohung geht von ihm aus, dem stimme ich zu. Ich habe jedoch oft den Eindruck, daß ein großer Teil der Kritiker des Raubtierkapitalismus - und Kritik an ihm ist durchaus berechtigt - über das Ziel hinausschießt und sich leider doch noch an überkommene Sozialutopien klammert, die sicher den extremsten Gegenpol zum grenzenlosen Wirtschaftsliberalismus darstellen. In meinem Augen bedeutet dies, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Wenn mein Ausgangstext also die Fundamente der extremsten Sozialutopien kritisiert, bitte ich das nicht als Apologie des in der Tat fortschreitenden Raubtierkapitalismus zu verstehen. Ich halte das eben nicht für eine Frage, bei der es nur zwei Möglichkeiten, entweder - oder gibt. Meiner Einschätzung nach sind beide Volkswirtschaften (sofern man in Zeiten zunehmender Globalisierung noch von solchen reden kann), die deutsche und die amerikanische, grundverschieden. Ich meine, der amerikanischen täte eine wesentlichen stärkere soziale Komponente sehr gut, während ich mir in Deutschland häufiger eine etwas stärkere Betonung der Eigenverantwortung wünsche. Damit sind keinesfalls amerikanische Verhältnisse gemeint.
Auch ich sehe es so, daß der Großteil der Umverteilung auf diesem Planenten die Reichen reicher und die Armen ärmer macht. Deine Einschätzung speziell der Mittelschicht gilt verstärkt auch für Deutschland: Ich habe den Eindruck, daß es immer schwieriger wird, zu dieser sozialen Gruppe zu gehören. Was mir in diesem Land jedoch nicht gefällt ist, daß schon der Mittelschicht ein Neid entgegengebracht wird, der zum einen recht typisch deutsch und zum anderen gesellschaftlich bedenklich ist. Meines Erachtens ist das unter anderem ein Zeichen einer gewissen Übersättigung der Gesellschaft. Ich halte es für geboten, dem vor allem durch bessere kostenlose allgemeine Bildung zu begegnen, damit die Kluft zwischen Konsumanspruch und produktiver Wirklichkeit bei immer größeren Teilen der Gesellschaft geschlossen werden kann. Ganz abgesehen davon, daß es ein bedenkliches Zeichen ist, gesellschaftliche Schichtungen allein durch Konsummöglichkeiten zu bestimmen.

Grüße
John

AxelFoley
29.03.2004, 17:47
Tja, irgendwo stösst der Sozialstaat an seine Grenzen, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht. ICh glaube viel mehr, als in Schweden, lässt sich auch nicht umsetzen, Absolute soziale Gerechtigkeit ist meiner Meinung nach im Rahmen eines souveränen Staates der das Gewaltmonpol inne habe muss, nicht möglich.