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Vollständige Version anzeigen : Der Krieg, der viele Väter hatte.



Gerd
27.05.2004, 16:28
Nur einer schuld?

http://www.nationeuropa.de/img/i334394.jpg Über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs gibt es viele Bücher. Die meisten sind aus Siegerperspektive geschrieben und weisen Deutschland die Alleinschuld zu. Angesichts dieser geballten Einseitigkeit nimmt es nicht wunder, daß am Rande auch trotzige Gegenstimmen provoziert werden: Es gebe deutscherseits überhaupt keine Schuld. Die eine Position ist so extrem wie die andere - und damit dem kritischen Leser suspekt. Man hätte es gern etwas ausgewogener und differenzierter, auch um Platz für eigene Gedanken und Abwägungen zu erhalten.

Dabei hilft jetzt ein Buch, dessen Schlußfolgerung schon im Titel steht: "Der Krieg, der viele Väter hatte". Nicht nur der Inhalt ist beachtlich, auch der Autor läßt aufmerken. Gerd Schultze-Rhonhof war 37 Jahre lang Soldat der Bundeswehr, zuletzt als Generalmajor und Territorialer Befehlshaber für Niedersachsen und Bremen. 1996 zog er das Interesse der Medien auf sich, als er das Bundesverfassungsgericht wegen seines "Soldaten-sind-Mörder"-Urteils öffentlich kritisierte. Ein Offizier mit Zivilcourage - das ist selten geworden.

Nun erweist sich Schultze-Rhonhof auch noch als brillanter Historiker. Schon an der klaren Gliederung seines Buches erkennt man die methodische Sorgfalt: Schritt für Schritt wird die Vorgeschichte des Krieges durchmessen und dabei die Haltung aller Akteure unter die Lupe genommen. Ein umfangreiches Quellenverzeichnis belegt, daß sich der Autor eingehend mit der Materie beschäftigt hat, und zwar unter Heranziehung unterschiedlichster Stimmen. Dennoch verzettelt sich der Text nicht. Von der Einleitung bis zur Bilanz bleibt die mehr als 500seitige Darstellung stringent und logisch, so daß auch der Leser trotz des außergewöhnlichen Faktenreichtums den Überblick behält. Damit wird so mancher Berufshistoriker beschämt.

Natürlich: Wer deutsche Alleinschuld verneint, gerät sofort in den Verdacht, Hitler entlasten zu wollen. Doch diese Absicht hat Schultze-Rhonhof keineswegs. Er zeigt vielmehr die Zusammenhänge und Interdependenzen auf, in denen der deutsche Kanzler agierte und reagierte. Nicht nur Hitler verfolgte Interessen. Auch seine Gegenspieler suchten ihren Vorteil, wollten vor allem verhindern, daß sich Deutschland aus den Fesseln des Versailler Siegerdiktats befreit. "Mitschuldig", so Schultze-Rhonhof, "sind die Regierungen und Staaten, die in Versailles und Saint-Germain die Gründe für den nächsten Krieg geschaffen und später bei Gefahr bewußt verhindert haben, daß die Gründe beseitigt werden konnten."

Auch Polen sei nicht die verfolgte Unschuld gewesen, als die es heute gerne dargestellt wird. Warschau habe sich auf eine englische Garantieerklärung verlassen und die deutsche Verhandlungsbereitschaft im August 1939 mutwillig mißachtet. Hitler, von dieser Haltung provoziert, sei es zunächst nicht um die Zerstörung Polens gegangen, sondern um Danzig, freie Landverbindungen nach Ostpreußen und den Schutz der deutschen Minderheit in Westpreußen, Posen und Ost-Oberschlesien. Dazu hätte sich bei gutem Willen aller Beteiligten eine Lösung finden lassen. Statt dessen steuerte man sehenden Auges in den Krieg.

Im Hintergrund bohrte damals übrigens schon, wie Schultze-Rhonhof mit pikanten Zitaten belegt, die amerikanische Regierung. Deren Methoden entzogen sich jahrzehntelang dem kritischen Blick deutscher Historiker und Politiker, weil man die übermächtige Bündnis- und "Schutzmacht" nur in bestem Licht erscheinen lassen wollte. Seitdem man aber weiß, mit welchen Manipulationen und offenkundigen Lügen der Irak-Krieg begründet wurde, dürfte nun auch die Bereitschaft wachsen, die Ambitionen früherer US-Präsidenten nicht nur im rosigen Licht der Siegergeschichtsschreibung zu sehen.

Was Franklin Delano Roosevelt betrifft, liefert Schultze-Rhonhof die notwendigen Fakten. Aber auch aufgrund seiner sonstigen Enthüllungskraft müßte das Buch in Deutschland eigentlich Pflichtlektüre werden - an Schulen, Universitäten und zuvörderst für Politiker, denen bislang ein unausgewogenes Geschichtsbild die Wahrnehmung nationaler Interessen so ungemein erschwert. Nicht zuletzt bei alten und jungen Soldaten dürfte das Wort eines Bundeswehr-Generals von besonderem Gewicht sein.

Gerd Schultze-Rhonhof: Der Krieg, der viele Väter hatte. Der lange Anlauf zum Zweiten Weltkrieg. 566 Seiten, gebunden, mit Abbildungen und Karten, € 34,00

wbuecher
11.11.2004, 01:24
Ich denke mal, das ist wie bei ner Scheidung: da ist auch nicht immer nur der eine oder die eine schuld :-)