PDA

Vollständige Version anzeigen : Die niederrheinischen Apokryphen



The_Darwinist
14.10.2007, 21:39
Ich will auch mal ein Thema erstellen.
Hier habe ich nach tiefen Recherchen in meinem Bücherkeller das x.te Evangelium ausgegraben. Das Evangelium nach Polonius (Trärä, Beweihräucher!)
Übersetzt aus dem Logischen von meinem Lieblingsautor, Gisbert Haefs.
Hoffentlich liest es irgendwer bis zum Ende. Die Geschichte ist einfach gut.


» Um das schlimme Gerücht aus der Welt zu schaffen, der Brand sei auf seinen Befehl
gelegt worden, schob Nero die Schuld auf andere und verhängte über die, die durch
ihr schändliches Gebaren verhaßt waren und im Volksmund Christianer hießen,
die ausgesuchtesten Strafen. Dieser Name leitet sich von Christus ab, der unter der
Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden
war. Der für den Augenblick unterdrückte verhängnisvolle Aberglaube griff von
neuem um sich, nicht in Judäa, wo dieses Übel entstanden war, sondern auch in
Rom, wo alle Scheußlichkeiten und Abscheulichkeiten aus der ganzen Welt zu-
sammenströmen und freudigen Anklang finden. «

TACITUS Annalen XVII


Die Schiffer aus Miletos machten den einmastigen Frachter fest; Schatten des Berges bedeckte den Poller und kroch hinaus in die Bucht. Die Besatzung begann mit dem Ausla-
den der Waren — Körbe mit Früchten und Gemüse, Amphoren mit Wein, große Krüge mit eingelegtem Fleisch, bastumwickelte Schinken —‚ wobei Kinder, einige Frauen und ein
paar Greise aus dem Dorf eher hinderlich als hilfreich waren.
Zwei alte Legionäre musterten die gestapelten und aufgereihten Güter, machten Stichproben und gaben sie dann frei. Ein dritter betrachtete ohne Interesse den Fahrgast, der mit steifen Bewegungen an Land geklettert war, einen Moment auf dem festen Boden schwankte, die Hande gen Himmel hob und dann zwei Körbe mit Tragriemen über die Bordwand zerrte. Noch ein Verbannter, der elfte oder zwölfte, den sie auf Patmos zu hüten hatten. Der Kapitän des Schiffs reichte dem alten Soldaten die Papyrosrolle, auf der Name, Tat und Urteil verzeichnet waren. Der Legionär, der nicht lesen konnte, grinste und hob die Schultern.

»Nomen tuum, exoticus ?« sagte er.
Der Verbannte schüttelte den Kopf und versuchte ein Lächeln, aber es endete weit unterhalb der dunkel glänzenden Augen. Der Mann starrte nach den flachen hellen Häusern des Orts, schien die Kinder, Frauen und Greise neben dem Schiff zu zählen, blickte dann hinauf zum Berg und den Sträuchern und Ziegen. Er war ungepflegt, mit zottigem Bart, strähniger Mähne, grauer Wollkleidung, und er stank. Der alte Legionär knurrte etwas und wiederholte die Frage
auf Griechisch. »Dein Name, Barbar?« »Jochanan«, sagte der Fremde. »Oder loannes. Das ist
gleich.« »Mir sowieso.« Der Legionär spuckte aus. »Komm.« Er winkte mit der Papyrosrolle.
Die Soldaten — zwei Dutzend — und der invalide Centurio bezogen etwa ein Drittel ihres früheren Solds, 100 Denare jährlich, der Offizier 150; sie hatten Grundstücke zwischen
Bucht und Berghang erhalten, Material für den Bau ihrer Häuser und genaue Anweisungen. Nun lebten sie dort, zum Teil mit Familien, und bewachten die zwei- oder dreihundert Fischer samt ihrem uralten Hang zu Schmuggel und Piraterie und die wechselnde Zahl dauerhaft oder vorübergehend Verbannter. Der Neue mochte vor ein paar Tagen irgendwo König gewesen sein, Prophet, hoher Beamter oder kleiner Unruhestifter; für sie war er nur neu und lästig. Kein Grund, ihm mit den beiden Tragekörben zu helfen. Der eine war mit Wachstuch bespannt und enthielt wahrscheinlich Rollen und Schreibzeug — ein verrückter exoticus.

Jochanan folgte dem Legionär über den Kai, dessen Pflasterung nach ein paar Schritten endete. Er ging unsicher unter der Last, auf dem unebenen Boden, nach der Bootsfahrt,
Wieder betrachtete er die weißen Häuser, die wenigen Schiffe - die meisten Fischer waren auf dem Meer -‚ die Gärten mit Obst- und Ölbäumen, Gemüsebeeten und Kleinvieh, die struppigen Hänge mit Ziegen und Felsen. Dann seufzte er. Wenig später seufzte auch Marcus Calpurnius. Der alte Centurio hatte die Fischer zu beachten, die Verbannten zu bewachen, den Priester des Orts zu lenken, die emeritierten Legionäre bei Laune zu halten und den Sold zu verwalten, damit die Männer nicht alles auf einmal beim Händler aus Samos ausgaben, der einmal im Monat Patmos anlief; er hatte seine kränkelnde Frau zu versorgen, wobei der allmählich wunderlich werdende Sklave Otho kaum noch half, und bei schlechtem Wetter hatte er Schmerzen im Stumpf des rechten Beins. Nach einer üblen Verletzung mit beginnendem Wundbrand hatte man es ihm unter dem Knie abgeschnitten, vor 21
Jahren. Patmos war ein allzu ruhiger Ort für einen alten Krieger; immerhin hatten er und die emeriti eine Art Aufgabe, für die sie Sold bezogen; also keine Klage. Und manche der Ver-
bannten brachten gute Geschichten mit in diese Einöde, Geschichten, die die Zeit schneller tropfen ließen und die Nächte erhellten. Aber in diesem Fall zerstörte der erste Blick bereits
alle Hoffnungen. Marcus hatte das Bein in Jerusalem verloren, bei der Befriedung unter Titus. jochanan brauchte keinWort zu sagen, der Centurio wußte sofort, wohin der Mann gehörte und daß der Grund für die Verbannung eine absonderliche Ausprägung religiösen Wahns sein mußte. Deshalb seufzte er.

Zu allem anderen kam das Problem der Unterbringung Stumm betrachtete er den bärtigen, strähnigen Mann im schweißigen Wollgewand (>Wenn er sich wenigstens wüsche!< dachte er und fragte sich, warum so viele, die am Mund eines Gottes hingen, die Nasen der Menschen vergaßen); dann musterte er den Korb, der vermutlich die mehr oder weniger
heiligen Schriften enthielt. Die emeriti und ihre Angehörigen nahmen einmal täglich gemeinsam ein warmes Mahl zu sich, die Verbannten bewohnten ein großes Haus und hatten sich selbst zu versorgen. Wohin mit dem Neuen? Marcus sah bereits den Ärger — Reden, Streitgespräche, Predigten, der Neue und sein grimmiger Ein-Gott gegen die anderen und ihre vielen verträglichen Götter. Dann schob er das Kinn vor und wies auf eine Biegung des Ziegenpfads am Berghang, nördlich der Siedlung.
»Da oben, siehst du? Die Büsche wie eine Pyramide? Dahinter ist eine kleine Höhle, in der Nähe eine Quelle. Sieh zu, daß du allein zurechtkommst. Kein Streit; ich will keine Göttergespräche; nichts. Du wirst dich selbst versorgen. Vorrat kriegst du von uns. Geh.«

Abends ließ Marcus sich vom milesischen Schiffer den ersten Klatsch erzählen. Sie saßen auf der Terrasse aus gestampftem Lehm, unter dem Spalier, wo Efeu den Wein längst erwürgt hatte, tranken und sahen zu, wie die Fischer in den Hafen liefen. Der Mileter erzählte, Kaiser Domitianus, dominus et deus, habe aus Furcht vor weiteren Verschwörungen fast alle Philosophen und Schriftsteller aus Rom verbannt. »Als ob man besonders gebildet sein müßte, um diesen Kaiser loswerden zu wollen.« Der Provinzgouverneur habe einige Prediger einer neuen Sekte hinrichten lassen, weil sie durch ihre Unduldsamkeit den öffentlichen Frieden störten. Ein Buchhändler aus Miletos habe ihn gebeten, diese Rollen mitzunehmen; er habe elf Denare vorgelegt. Der Centurio gab dem Schiffer das Geld am nächsten Morgen. Als das Boot in die Bucht glitt, klemmte er sich die Rollen unter den linken Arm, nahm den Stock in die rechte Hand, verfluchte sein Holzbein und machte sich auf den steilen Weg.

Sextus Pomponius Albus war weit über achtzig Jahre alt; vor zehn Jahren hatte er der Welt freiwillig den Rücken zugewandt und sich auf dem flachen Gipfel des Bergs über der Bucht ein Haus errichten lassen. Er kannte das für Bürger gesperrte Patmos und die für Sondergenehmigungen zuständigen Leute. Von der Terrasse sah man im Osten und Westen
das Meer, im Norden und Süden die kargen Hügel. Der ehemalige Kavallerieoffizier, später hoher Beamter der Provinzverwaltung in Numidien, lebte dort mit drei Sklaven und vie-
len Buchrollen. Er kam nur noch selten herab; für den Greis war der steinige, gewundene Pfad allzu beschwerlich. Marcus hätte die Rollen einem der Sklaven geben können, wenn sie Fisch oder Früchte im Dorf kauften, aber er sprach gern mit dem alten Mann — zwei greise Krieger am Ende der Welt und der Jahre.
Pomponius begrüßte den Centurio mit einem Knurren.
Der alte Mann lag auf einem leichten lederbespannten Gestell, trank verdünnten Wein und starrte nach Westen übers Meer. Marcus Calpurnius zog einen Scherenstuhl neben das Bett
gestell, setzte sich und legte sein Holzbein auf die Bettkante Pomponius richtete sich mühevoll auf, klatschte in die Hände, stützte sich auf die Ellenbogen. Der schwarze Sklave
aus dem südlichen Mauretanien erschien. »Wein«, sagte Pomponius. »Wasser. Und Kissen.«
Als der Sklave alles gebracht hatte, half Calpurnius dem Älteren dabei, die Kissen halbwegs behaglich in den Rücken zu stopfen. Dann reichte er ihm die Rollen.

Pomponius deutete auf die Amphore und den Krug, dann entrollte er die Bücher und hielt sie mit ausgestreckten Armen vor sich, eins nach dem anderen. Er kniff die Augen zusammen; dennoch bereitete es ihm Mühe, die Titel zu lesen. »Ein Thukydides — Ersatz für den verbrannten Text«, sagte Calpurnius. Er schielte hinüber, identifizierte die Rolle. »Xenophons Schrift über die Staatsfinanzen. Das dritte Dings könnte ganz interessant sein. Die lateinische Fassung vom Bericht eines karthagischen Händlers über die Eilande am westlichen Ozean und einige Reisen dorthin.« Pomponius lächelte, legte die Rollen beiseite. »Ich danke dir sehr, Freund. Es wird mühsames Lesen; der Britannier macht nur langsam Fortschritte, und der Inder?« Er hob die Schultern.
Calpurnius kratzte sich den Kopf. »Noch immer nichts von dem Sklavenhändler, der dir einen Schreiber besorgen soll Und ich yerstehe zu wenig davon, außerdem. . . « Pomponius winkte ab. »Ich weiß, du hast andere Sorgen. Und gute Schreiber kommen selten auf den Markt. Es wird noch dauern. Gibt‘s was Neues? Da war doch gestern ein Boot...«
Calpurnius nickte und berichtete von den Klatschgeschichten des Kapitäns. Schließlich sagte er: »Ach ja, und ein neuer exoticus. Ah, überhaupt — er hat Rollen, müßte lesen können. Könnte sich nützlich machen. Ich weiß nicht, ob er auch schreiben kann. Soll ich ihn zu dir schicken?« Pomponius stülpte die Lippen vor. »Tja. Weshalb ist er verbannt? Du weißt, ich kann mich nicht mehr wehren... « Calpurnius keckerte leise. »Brauchst du nicht.« Er berich-
tete von Jochanan, beschrieb ihn kurz und sagte schließlich: »Und er stinkt.«
Pomp onius deutete aufs Meer. »Hier ist genug frische Luft. Also Jude, wegen religiösen Wahns und Anzettelung von Aufruhr hierher verbannt?«
Calpurnius zögerte »Ijaaa — sieht aber alles seltsam aus.« »Inwiefern?«
»Für einen großen Aufruhr hätte man ihn gekreuzigt oder gesteinigt. Und für einen kleinen wird man aus der Stadt geschickt, nicht auf die Insel verbannt. Der Milesier sagt, diese
Wahnsinnigen, wie heißen sie, Nazoräer? Christianer? Egal, also die Leute, zu denen Jochanan gehört, hätten inzwischen auch Leute in den höheren Ämtern der Provinz. Er weiß
nichts Genaues; sieht aber so aus, sagt er, als ob jemand dafür gesorgt hat, daß Jochanan hierher geschickt wird.« Pomponius rieb sich die tief liegenden Augen. »Kommt mir seltsam vor. Wenn da jemand die Hand über ihn hält, dann doch wohl eher, um ihn freizukriegen, oder?« Der Centurio schwieg. Eine fette, schillernde Fliege krabbelte sein heiles Bein entlang. Als sie den Oberschenkel erreicht hatte, kurz unter dem Saum des Chitons, schlug er zu.
»Patsch. Mieses Viehzeug. Also, dieser Jude — könnte er deinetwegen hergekommen sein?«
Pomponius fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Nase. »Hm. Meinst du? Bloß weil ich damals mit diesem Sha‘ul geredet habe? Oder weshalb?«
Marcus schnaubte. »Was weiß ich! Vielleicht will er dichfragen, weil du dabeigewesen bist, aber nach Patmos kommt man nur als Verbannter.«
»Schick ihn rauf. Vielleicht hat er ja eine erträgliche Stimme und kann lesen. Weniger Langeweile für beide.« Calpurnins runzelte die Stirn. »Und du meinst nicht, dass er dich mit seinem Unfug behelligen wird?«
Pomponius lachte hohl. »Ich bin unzugänglich für allgemeine oder spezifische Formen jüdischen Aberglaubens.«
Pomponius lehnte am Geländer der Terrasse, als Jochanan erschien — mit gestutzten Haaren, gestutztem Bart und sauberer, heller Kleidung. Etwas an den Augen des Mannes mißfiel
dem Römer, aber dann war der Verbannte schon zu nah, und Pomponius sah nur noch verschwommene Züge. »Du brauchst einen Vorleser, Herr? « Jochanans Griechisch
war fast akzentfrei. »Der Centurio sagt es. Er sagt auch, dass Verbannte einem alten römischen Offizier zu gehorchen haben.«
Pomponius ging mit langsam schleifenden Schrittchen zu seiner Liege und ließ sich sinken. »Die Augen eines Greises gehen in die Ferne und in die Vergangenheit. Meine Sklaven
stammen aus Mauretanien, Britannien und Indien, und was sie laut lesen, ist meinen Ohren unzuträglich. Ja, ich wäre dankbar, wenn du gelegentlich für mich. lesen könntest. Du
bist Jude?« Jochanan setzte sich erst, als Pomponius auf den Scherenstuhl deutete. »So ist es, Herr — und dann auch wieder nicht.«»Wie kann etwas sein und auch nicht sein?«
»Ich stamme von Juden ab, habe aber nie einen Fuß nach Judäa oder Galiläa gesetzt. Und mein Glaube ist nicht mehr der meiner Ahnen.«
Pomponius schloß einen Moment die Augen. »Ich weiß. Du bist einer von diesen Fisch-Leuten, die dem gekreuzigten Aufrührer Jehoschua anhängen, nicht wahr? Deshalb hat man
dich verbannt.« Er öffnete die Augen wieder. »Nein, natürlich nicht deshalb. Rom kümmert sich nicht um deinen oder einen anderen Glauben. Du hast einen Aufruhr verursacht, deswegen.«
Jochanan schwieg, senkte nur den Kopf.
Pomponius wartete; schließlich sagte er: »Nun, wie auch immer, es ist nicht mein Geschäft... Nimm die oberste Rolle und laß mich deine Stimme hören.« Jochanan gehorchte. Er las Xenophons absurde Finanzlehre mit einer kräftigen, offenbar geschulten Stimme, die für
Pomponius weder angenehm noch unangenehm war, sondern einfach gut zu hören. Er hatte Ausdauer, bat nur irgendwann um Wasser. Da er von sich aus nichts zu seiner Person und
seinem Glauben sagte, erschien er Pomponius erträglich genug, so daß er ihm befahl, am nächsten Tag wiederzukommen. Den Sklaven sagte er, sie sollten bis auf weiteres die
Mahlzeiten für einen zusätzlichen Esser einrichten. Das Wetter blieb ruhig; Pomponius und sein Vorleser konnten tagelang auf der Terrasse sitzen, lesen, bisweilen über das Gelesene reden. Jochanan behauptete zwar, kein Latein zu verstehen, aber nach einigem Zögern und Stocken konnte er sogar den karthagischen Reisebericht lesen. Pomponius hatte nicht das Gefühl, der Vorleser verstünde, was er las, aber es war hinnehmbar.
Als sie mit der dritten Rolle fertig waren und Pomponius vorschlug, am folgenden Tag zu Homer zu greifen, bat Jochanan darum, einige Minuten etwas anderes tun zu dürfen.

»Wie du wohl weißt, Herr, denn der Centurio wird es dir gesagt haben, besitze auch ich einige Rollen. Nun wäre ich dir dankbar, wenn ich an einem deiner Tische ein wenig damit arbeiten dürfte. In meiner Höhle ist es beschwerlich.«
Pomponius stimmte zu, mit einem leicht spöttischen Lächeln. Am folgenden Tag las Jochanan ihm den ersten Gesang der Odyssee, danach aßen sie. Pomponius schleppte sich zu seiner Liege und dämmerte in den Nachmittag, während Jochanan an einem Tisch saß und Schriften entrollte, murmelte, hin und wieder ein wenig kritzelte, eine andere Rolle befragte, seufzte, wieder schrieb. Schließlich bat er darum, die Rollen im Haus lassen zu dürfen, wo sie besser und trockener aufgehoben seien als in der Höhle am Berghang. Pomponius gestattete es ihm.

In den großen offenen Regalen des Hauses lagen viele Tonröhren mit Papyrosrollen, aber
noch war genug Platz. Abends, lange nachdem Jochanan ihn verlassen hatte, kam der älte Centurio. »Es geht gut mit ihm«, sagte. Pomponius. Dann kicherte er »Zuerst hat er vorgelesen. Dann hat er gebeten, mit seinen eigenen Rollen arbeiten zu dürfen, an einem Tisch, statt auf den Steinen seiner Höhle. Ich bin gespannt, wie er es anstellt, mich für sie zu interessieren.« Calpurnius grinste. »Wahrscheinlich wird er, statt zu murmeln, irgendwann beim Lesen seiner Rollen lauter werden, ächzen, was auch immer. Bis du nicht mehr weghören kannst. Am nächsten Morgen kam Jochanan später als gewöhnlich. Er wirkte ein wenig verstört.
»Herr, verzeih die Verspätung. Ich hatte einen schlimmen Traum und fürchte, daß mein Gott mir entsetzliche Dinge gezeigt hat. Deshalb... « Pomponius lächelte verhalten.. »Eine gute Eröffnung«, murmelte er. Dann sagte er: »Was hat dein Gott dir gezeigt?« Jochanan sprudelte einiges an wirren, bildhaften Sätzen hervor, unterbrach sich aber bald. »Ich fürchte, ich werde darüber erst lange denken müssen.« Er seufzte. »Es ist wie feurige Räder... alles wirbelt in meinem Kopf herum. Dabei begann es so klar, mit einer Leiter, fast wie bei Jakob.«
»Was ist das für eine Geschichte?« Jochanan holte tief Luft. »Du warst doch in unserem Land, Herr - du wirst sicher von Moses gehört haben.« Pomponjus blinzelte. »Einer eurer Propheten, ja und?« »Er schrieb die Erlebnisse der großen Männer meines Volkes im Umgang mit dem Gott auf. Darunter war einer namens Jakob; diesem zeigte der Herr im Traum ein Gesicht .eine Offenbarung. Eine Leiter reichte vom Himmel bis zur Erde, und die Engel des Herrn stiegen daran herab. . « Pomponius klackte mit der Zunge. »Engel? Boten? Haben
die nicht in euren Märchen Flügel?« Jochanan nickte heftig. »Natürlich. Es gibt solche mit vier Flügeln, solche mit sechs Flügeln... « Pomponius unterbrach ihn. »Wozu brauchen sie dann eine Leiter?« Jochanan öffnete den Mund, schloß ihn wieder, sagte schließlich schwach: »Hah.«
Pomponius lächelte. »Es ist mir immer so vorgekommen, als ob die Religionen und Philosophien der Völker viel phantastischere Dichtwerke seien als alle Epen und Tragödien zusammen.« Jochanan widersprach, zunächst heftig, dann gleich wieder beherrscht, mit einem seltsam lauernden Unterton. Es sei unstatthaft, heilige Offenbarungen des Herrn als menschliche Phantasien abzutun. Er zitierte eine Vielzahl von Schriftstellen; Pomponius betrachtete das Meer und hörte nicht hin.
In den folgenden Tagen befaßten sie sich wieder mit Homer, dazwischen mit den heiligen Schriften, die Jochanan so wichtig fand. Pomponius ließ ihn gewähren, weniger aus Interesse als aus Gleichgültigkeit. Jochanan begann, zunächst nach fast unterwürfigen Fragen, später immer emphatische aus Schriften zu lesen, in denen sich verschiedene Männer in unterschiedlich schäbigem Griechisch — mit Ausnahme dessen, den Jochanan Loukas nannte — über das Leben und Lehre und das Leiden eines lesos Christos äußerten. »Das ist alles Unsinn«, sagte Pomponius schließlich verärgert. »Sie haben keine Ahnung, sind nicht dabeigewesen, und was sie an wichtigen Sätzen öder Worten dieses Mannes zitieren, ist fast ausnahmslos falsch übersetzt.« Jochanans Stimme klang ein wenig belegt. »Hast — bist du
denn dort gewesen, Herr?« Es war nicht eine Belegtheit von Heiserkeit oder Ermüdung, sondern von Gier.
Pomponius hob die Schultern. »Ach, was soll es denn? Ja ich war in Jerusalem, in Kana, an vielen anderen Orten. Ich habe Jehoschua gesehen und mit ihm geredet, und später, in Rom, habe ich Sha‘ul gesprochen, ehe er hingerichtet wurde. Er richtete sich auf. »Wie ich viele andere Männer und Frauen - in anderen Teilen des Reichs gesehen habe. Und glaub mir
Jochanan, es waren sehr viele dabei, die weitaus interessanter waren als diese Aufrührer aus Gaiiläa.« Jochanan schwieg lange; sein Atem war deutlich zu hören

Pomponius sah das Gesicht nur verschwommen und konnte nicht feststellen, ob der Mann Pein oder Zorn litt. Schließlich sagte er mit sehr flacher Stimme: »Herr, wenn ich dich nun bäte, mir zu sagen, was du weißt Sieh, es haben drei Männer über ihn geschrieben, die ihn nicht gesehen haben. Es sind Berichte, zusammengestellt aus Geschichten, die andere erzählt haben. Dann gibt es Sha‘ul, der ihn auch nicht sah, aber viele Briefe zur Auslegung der Lehre ge schrieben hat. Wenn du nun . . .« Er brach ab, hustete mehrmals.

Pomponius verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin es müde, die Segel auf dem Meer zu zählen«, sagte er leise »Warum nicht etwas Neues tun?«
»Wie konntest du an diese Männer herankommen?« sagte Jochanan. Alle Unterwürfigkeit war verschwunden; er wollt nur noch wissen. »Du bist doch Römer — Feind, Besatzer. Wieso haben sie... « »Sie haben nicht.« Pomponius entblößte die wenigen Zähne, die ihm verblieben waren. »Sie wußten nicht, daß ich Römer bin. Ein Fehler, den fast alle Gegner des Reichs ma
chen, ist die Unterschätzung. Rom ist weit stärker, sicherer und klüger, als deine Leute angenommen haben. Ein Aufstand in einer Provinz soll das Reich erschüttern? Ah, Jochanan,
wie verträumt kann man sein. Das Reich wird erst dann er schüttert sein, wenn es Aufstände in der ersten Provinz nicht mehr niederschlägt und zuläßt, daß auch die zweite und die
dritte Provinz sich erheben.«
Jochanan fuchtelte mit den Händen in der Luft »Aber die Kaiser, die Morde, die Wirren in Rom! « Pomponius lachte. »Ein paar Familien, ein paar Köpfe. Vielleicht sogar ein kleiner Bürgerkrieg zur Ermittlung des neuen Kaisers. Und? Die Legionen bleiben — selbst wenn sie
vorübergehend abgezogen werden müssen, sie kehren zurück. Und das Rückgrat des Imperiums, die Verwaltung, die Beamten, sie tun ihre Arbeit in den Provinzen, ganz gleich,
wer gerade wen in Rom ermordet. Ich war einer dieser Beamten, und ich war auch einer der Legionäre. Damals aber war ich ein Ägypter. Halb Jude, der durch das Land wandert und die Ohren aufsperrt. Eine gute Verkleidung. — Aber genug von mir. Lies, was deine Gewährsmänner geschriebenhaben.«
Jochanan knurrte etwas, dann sagte er mit glatter Stimme: »Lieber bäte ich dich, mir alles zu berichten, was du weißt.« Pompomus richtete sich halb auf »Tu was ich sage, exoticus, oder geh.«
Jochanan kniete vor der Liege nieder. »Verzeih, Aber...«
Pomponius ließ sich zurücksinken. »Ich bin ein alter Mann«, sagte er sanfter »Viele Dinge sind verschüttet in meinem Geist Es mag sein, daß sie durch die Berichte Anderer wieder freigeschaufelt werden. Und — alles, was ich weiß? Das wäre zuviel.« Er kicherte. »Weißt du denn, warum diese Leute den Fisch zum Zeichen genommen haben?«
Jochanan nickte eifrig. »Natürlich. Weil der Meister den Fisch wunderbar vermehrt hat. Weil er Fischer zu sich holte. Weil Jesos Christos Gottessohn Erlöser, wenn man die Anfangszeichen nimmt, auf Griechisch ichthys ergibt — Fisch.«
Pomponius lachte laut auf. »Ich sagte es doch — nichts ist phantastischer als die Erfindungsgabe der jenseitig Verzückten. Kennst du die Sternzeichen, die das Jahr regieren?«
Jochanan holte tief Luft. »Natürlich, aber... « »Mit dem Zeichen des Widders beginnt das Jahr — es ist die Zeit der Aussaat und des Aufbrechens. Vor dem Widder die Fische, die das alte Jahr beenden; nach dem Widder der Stier. Er schloß die Augen, summte leise. »Aber nicht nur Erde, Sonne und Mond bewegen sich, auch die Sterne. Oder er scheint es uns nur so, weil die Erde Bewegungen macht, die wir noch nicht kennen? Wie auch immer — die große Bewe
gung des Himmels dauert etwas mehr als fünfundzwanzigtausend Jahre, und dies ist ein Großes Jahr, aus zwölf Großen Monaten, die unter den gleichen Zeichen stehen wie unser
gewöhnlichen kleinen Monate. Aber der Kreis der Großen Monate läuft anders herum — das Große Jahr, die neue Zeit beginnt mit den Fischen und endet mit dem Widder.« Er kicherte leise. »Kluge Männer haben das Fischzeichen gewählt, Jochanan — Männer, die sich mit den Sternen auskennen. Denn der Große Widdermond, mit dem das alte Große Jahr, die alte
Zeit endete, war die Zeit der Widdergötter Zeus und Ammon. Alexander von Makedonien trug das Gehörn des Widders weil er es wußte. Mit dem Beginn des Großen Fischmonds
begann vor hundertJahren das neue Große Jahr des Himmels, die neue Zeit. Deshalb, Jochanan, haben die Männer, die deinem Jehoschua nachfolgen, den Fisch gewählt. Und deshalb opfern sie, jedenfalls in Worten, diesem neuen Gott den Alten, ein Lamm - einen kleinen Widder.«
Jochanan schwieg einige Zeit. Aus dem Haus drang dumpfes Gezeter, der Britannier und der Inder stritten um irgendetwas.
»Lies«, sagte Pomponius mit der Stimme, die vor Jahrzehnten die schwere Reiterei der Legionen kommandiert hatte.
Jochanan las. Er las, wie Pomponius es verlangte, in der Folge des Entstehens: zuerst die Briefe des Sha‘ul, dann die mehr oder weniger ähnlichen, in einigen Punkten jedoch stark
abweichenden Biographien von Markos und Matthias, zuletzt die ganz andersartige des Mannes Loukas. Zwei Tage brachten sie damit zu. Am dritten Tag faßte Pomponius alles
zusammen.
»Ihr meint nun also, dieser Jehoschua, den ihr Iesos nennt, wurde geboren unter seltsamen Umständen, reifte heran, zog herum, predigte, tat Wunder und wurde schließlich ans Kreuz
geschlagen. — Was ist daran so bemerkenswert? Unter Pilatus, der eine miese Sau war, sind mindestens zehntausend Juden gekreuzigt worden. Prediger hat es in allen Ländern und zu
jeder Zeit mehr als genug gegeben, und angeblich haben alle Wunder gewirkt. Also wozu soviel Aufhebens um diesen?«
Jochanan raufte sich die Haare. »Aber, Herr, du hast es doch gehört — er war der Messias Und der Sohn Gottes. Gott selbst hat ihn durch den Geist gezeugt, damit sein Hauch Fleisch werde und durch den schändlichen Tod die Sünden der Welt auf sich nehme, die Welt erlöse!«
Pomponius hob beide Hände, als wolle er ein erregtes Tier zurückstoßen. »Langsam, Jochanan. Du vergißt, ich war Spion unter Juden, ich habe die jüdischen Schriften gelesen, ich bemerke, wenn etwas zurechtgebogen wird, damit es zu einer möglichen Prophezeiung paßt. Messias, sagst du? Und nun trennt ihr euch, oder habt euch längst getrennt, von den Juden und macht einen eigenen Verein daraus?« Er kicherte.
»Warum lachst du? Herr?«
»Wegen des Unsinns, du jüdischer Nichtjude. Der Messias, den die Schriften prophezeien, soll kein göttliches Wesen sein, das wäre Blasphemie, da es ja für die Juden nur ganz streng
einen Gott gibt, keine zusätzlichen Emanationen oder Untergottheiten. Und dieser Messias soll die Herrschaft der Heiden beenden und die Juden mit ihrem Gott aussöhnen. Jehoschua hat aber weder die Herrschaft der Römer beendet, noch geht es euch um Aussöhnung der Juden mit ihrem Gott — ihr verflucht die Juden und predigt einen neuen Gott.«
»Aber« — Jochanans Stimme war rauh — »er wurde doch, wie die Prophezeiung es gesagt hat, in Beth Lechem geboren, aus dem Geschlecht Davids! Wie es für den Messias vorgesehen war.«
Pomponius lächelte. »Entscheide dich.«
Jochanan blinzelte schnell und lange. »Entscheiden?« »Du willst Dinge, die nicht zusammen sein können. Entweder stammt er aus Nazareth, wo immer das ist — ich kenne keinen solchen Ort, und soweit ich weiß, war seine Familie aus Kapharnaum; oder er stammt aus Beth Lechem. Entweder stammt er vorschriftsmäßig, damit sich die Schrift erfüllt, von David ab, dann ist Joseph sein Vater, dieser Zimmermann. Oder er wurde vom Geist gezeugt und von einer Jungfrau geboren, dann kann er aber nicht durch Joseph von David herkommen. Entweder soll er die ganze Welt von den Fesseln eines irrenden Judentums befreien, oder er ist der Messias des Volks Israel! Was, bitte?«
Jochanan kratzte sich den Kopf, rümpfte die Nase, hüstelte. Er stand auf, ging zum Geländer der Terrasse, starrte hinaus aufs Meer, kam wieder zurück und blickte, neben der Liege stehend, auf Pomponius hinab.
»Nun?«
Jochanan schwieg noch immer.
Pomponius gluckste leise. »Ich glaube, wenn es dem Händler in Miletos endlich gelingt, einen des Schreibens kundigen Sklaven für mich zu finden, werde ich die ganze Geschichte so aufschreiben lassen, wie sie sich wirklich zugetragen hat.«
Jochanan stieß einen halb erwürgten Laut aus. »Ist dies deine Absicht, Herr?« sagte er dann, mit flacher Stimme.
Pomponius nickte. »Es gibt schon zu viele Lügen, die als Wahrheit ausgegeben werden. Wenn du all dies allerdings als phantastisches Dichtwerk anlegen willst .. Du bist auf dem
richtigen Weg zu einer wunderbaren Lügengeschichte. Nur solltest du mit gewissen Übersetzungen aus der Sprache, die Jehoschua gesprochen hat, vorsichtiger sein. Man könnte
sonst sagen, du hättest genauso gelogen wie die anderen. Und um gut zu sein, muß eine Lügengeschichte glaubhaft wirken.« »Welche Übersetzungen welcher Wörter, Herr?« Jocha-
nans Stimme klang fast wieder wie gewöhnlich. Pomponius zupfte an seiner Nase. »Ah, eine ganze Menge.
All dies Gerede um Jungfrauen, zum Beispiel. Frauen überhaupt. Wer eine Frau begehrlich ansieht, hat im Geiste schon die Ehe mit ihr gebrochen, oder wie heißt es?« Jochanan zögerte. »So heißt es, Herr - aber was ist daran falsch?«
Pomponius hob die Schultern. »Die Ehe brechen kann ein Verheirateter - oder eine Verheiratete. Und in Jehoschuas Sprache macht man einen Unterschied zwischen Frau und
Ehefrau. Es müßte auf Griechisch heißen, wer eine Verheiratete begehrlich ansieht. Wer nämlich eine Unverheiratete nicht begehrlich ansieht, sofern sie begehrenswert ist, der
gehört geprügelt.«
Jochanan machte malmende Geräusche; vielleicht knirschte er mit den Zähnen.
Pompomus seufzte. »Und diese Jungfrau... Wenn eine Frau eben erst geheiratet hat, wird sie Alma genannt, das ist >junge Frau<. Jungfrau wäre betulla, und das hat niemals einer über Maria, Jehoschuas Mutter, gesagt. Für wirre Geschichten ist die Jungfrau natürlich viel besser geeignet. Eine göttliche Jungfrau vielleicht... Fang doch am besten mit Gott an, eurem Gott, irgendeinem Gott. Immerhin soll ja auch Alex ander von Makedonien nicht der Sohn Philipps, sondern eines Gottes gewesen sein; da gibt es Vorläufer. Allerdings war Olympias keine Jungfrau. Aber gab es da« — er legte den Finger an die Nase — »nicht auch in Ägypten... Ah, nein, das waren Isis und Osiris, aber — willst du sie nicht in deine Geschichte einbauen? Mach doch Maria zur Göttin. Er hat sie zwar reichlich schlecht behandelt, aber . . . «
»Schlecht behandelt? Wer wen?«
Pomponius hob die Brauen. »Du hast es mir doch selbst vorgelesen. >Weib, was willst du von mir?< und >Weib, sieh da, dein Sohn< und derlei. Meinst du nicht, ein liebevoller Sohn redet seine Mutter anders an? >Wer mich liebt, der soll Vater und Mutter verlassen...< klingt auch nicht nach dem Söhnchen einer Göttin. Aber immerhin, man könnte es versuchen. Jochanan ließ sich auf den Scherenstuhl sinken. »Beth Lechem«, sagte er halblaut.
Pomponius winkte ab. »Ach so, diese Volkszählung. Wozu macht man Volkszählungen? Als Grundlage für Steuerschätzungen. Ich weiß nicht, ob und wann da etwas Derartiges gemacht wurde, aber wenn, dann lautet die Anweisung ganz sicher nicht, daß jeder in den Ort seiner Geburt gehen soll - im Gegenteil: Jeder muß da erfaßt werden, wo er lebt, wo er arbeitet, wo er das tut, was ihn zum Steuerzahler macht. Ah, nein, denkt euch etwas anderes aus.«
»Aber die Wunder - die Lehren - die Predigten - sein Leiden - der Tod - die Auferstehung!« Jochanan rang die Hände.
PomponiuS schloß die Augen. »Ich bin müde. So müde. Auferstehung? Man hat der Kaiserin Livia gemeldet, Augustus sei leiblich in den Himmel aufgefahren. Glaubt es jemand? Nein; vor allem wozu? Hat es eine Bedeutung? Und der Tod? Jeder stirbt. Tausende wurden von Pilatus gekreuzigt. Er hat die Juden gehaßt und gefürchtet, und wegen seiner Grausamkeit wurde er dann abgesetzt und hingerichtet.
Und dieser Pilatus soll seine Hände in Unschuld gewaschen haben? Wegen eines jüdischen Predigers? Pah « »Aber die Juden haben ihn doch... « »Nichts haben sie. Was sollen sie denn getan haben? Diese ganze Erzählung wimmelt von Unsinn über Unsinn.« Er richtete sich wieder auf, blickte in das verschwommene Gesicht des Mannes, der Jude und Nichtjude sein wollte. »Wie war das, bei diesem Sha‘ul >Die haben auch den Herrn lesos getötet und gefallen Gott nicht?< Ja was denn noch? Entweder ist Jehoschua der Erlöser, der getötet wer-
den muß, dann ist, wer immer ihn getötet hat, heiliges Instrument des göttlichen Plans, verehrungswürdig und anzubeten, aber niemals zu verfluchen. Oder alles ist Unsinn. Ich
glaube, alles ist Unsinn.«
Jochanan streckte die Hände aus, zog sie zurück. »Der Prozeß«, knurrte er. »Die Hohen Priester.« Pomponius schnaubte. »Hannas, der in den Geschichten erwähnt wird, war fast zwanzig Jahre zuvor von uns, den Römern, abgesetzt worden. Kaiphas war ein kluger Mann, ein Politiker, der mit Pilatus zusammengearbeitet hat. Nicht weil er wollte, sondern weil Rom die Legionen hat. Pilatus schickte seine Truppen los, um Jehoschua zu verhaften. Er ist bekannt,
wozu soll ihn ein Jünger verraten? Für dreißig Silberlinge - eine Münzeinheit, die zweihundert Jahre zuvor abgeschafft wurde? Nur damit sich die Schrift erfüllt? Und andere Jünger sollen das Schwert gezogen haben? Und dann entkommen sein?« Er starrte Jochanan an, fast wütend. »Unter Besatzung war es Juden verboten, Schwerter zu tragen. Meinst du denn, es wäre auch nur einer lebend davongekommen, wenn sie Waffen getragen hätten? Sie wären alle auf der Stelle niedergehauen worden! Bewaffneter Widerstand gegen Rom - da folgt kein Prozeß, da wird gleich aufgeräumt!« Er atmete tief, damit das Keuchen nachließ.
»Der Prozeß!« schrie Jochanan.
»Welcher Prozeß? Bei Aufruhr gibt es ein schnelles Kriegsgerichtsverfahren — vor dem römischen Statthalter. Ich war dabei, Mann, in Jerusalem. Es waren die Tage vor Passah, zig
tausend Juden kamen in die Stadt, Pilatus mußte mit einem Aufruhr rechnen, wie immer um Passah. Jemand hat gesagt: >Da ist dieser Jehoschua, ein Galiläer, der predigt und regt die Leute auf.< Aus Galiläa sind immer wieder Dolchmänner gekommen, Meuchelmörder, Aufrührer gegen Rom. Pilatus hat seine Leute geschickt, um ihn festzunehmen — ein Exempel zu statuieren. Einen Prediger hinrichten, damit der Rest Frieden hält. Abends verhaftet, morgens abgeurteilt. Eine Sache von wenigen Augenblicken, unter Kriegsrecht, und abi in crucem. Römer haben ihn festgenommen, Pilatus hat ihn verurteilt und Soldaten haben ihn gekreuzigt. Er hat auch nicht, wie es so fein heißt, das Kreuz durch die Stadt getragen, nur den Querbalken, Mann - die Kreuzstämme stehen immer auf dem Platz, der für Hinrichtungen vorgesehen ist.
Und die Juden?
Ein paar haben gejammert, die meisten hatten nie von Jehoschua gehört. Und diese ganze Rennerei zu Kaiphas und das angebliche Verhör oder Verfahren — alles erlogen. Wie sagt
Sha‘ul? ‘Wenn aber die Wahrheit Gottes sich durch meine Lüge als noch größer erweist. Vorsätzlich gelogen, die Wahrheit verbogen, um etwas zu erreichen, was mit den Vor-
gangen und der Person nichts zu tun hat «
Jochanan lehnte sich weit im Scherenstuhl zurück Pomponius sah ihn nur verschwommen. Der Jude hatte die Hände vor sein Gesicht gelegt.
Langsamer, ruhiger fuhr er fort »Wenn du nicht in der Fremde, sondern in Jerusalem gelebt hättest, wüßtest du, dass alles nicht so gewesen sein kann. Das jüdische Recht ist sehr klar. Ein Verfahren muß am hellen Tag stattfinden —Jehoschua wurde angeblich in der Nacht Kaiphas vorgeführt. Richter müssen bei klarem Verstand sein und nüchtern, wenn sie über
jemanden verhandeln — aber euer Gesetz schreibt ihnen für den Tag, an dem es geschah, den Rüsttag, ein rituelles Abendmahl und mindestens vier Becher Wein vor! Und da soll ein
Verfahren stattgefunden haben? Nein, Mann — es war eines von mehreren tausend Schnellverfahren des Pontius Pilatus. Die Juden, von Loukas und Sha‘ul verflucht, haben nichts damit zu tun. Ich kann aber verstehen, warum die beiden das so hinbiegen wollen.«
Jochanan nahm die Hände vom Gesicht. »Warum?« Seine Stimme klang völlig glatt und beherrscht.
Pompomus lachelte mude »Jerusalem ist zerstört, der Tempel niedergerissen, in ein paar Jahren wird Israel so tot und vergessen sein wie Karthago. Rom aber beherrscht den
Erdkreis, und wenn ihr eine neue Religion betreiben wollt,..... die euch Macht und Ansehen und Einfluß bringt, müßt ihr euch mit Rom vertragen Dann« er richtete sich wieder auf
»dürft ihr keinen Religionsstifter haben, der von Rom rechtsgültig als Aufrührer hingerichtet wurde. Darum müsst ihr Pilatus reinwaschen. Wer hat die Schuld? Die Juden — sehr
bequem, sie wurden von Rom vernichtet, sind Feinde des Reichs und können sich ohnehin nicht wehren. Saubere Lösung. Nein, Sha‘ul war nicht dumm. Ein mieser kleiner Stänkerer, der jedes Wort dreimal bog und wendete, ehe er es verwendete. Ein schäbiger Freund der Knaben — aber er konnte Knabenliebe nicht mit seiner jüdischen Erziehung vereinbaren, und deshalb wollte er alle Sinnlichkeit unterdrücken. Ein unangenehmer Fanatiker; all dies, ja, aber ihr Götter, was für ein Kopf!«
Jochanan stand auf; langsam ging er zu dem kleinen Tisch, auf dem seine Rollen und das Schreibzeug lagen. »Ich glaube«, sagte er, mit einem leisen Kieksen in der Stimme, »ich werde deinen Rat befolgen und die ganze Sache als phantastische Geschichte behandeln. Aber - wenn du Jehoschua gekannt hast, weißt du doch sicher noch mehr.«
Pomponius ließ sich in die Kissen sinken und schloß die Augen. »Du müßtest da noch einiges einbauen, um die Geschichte wirklich phantastisch zu machen«, sagte er halblaut. »Mach Maria zur Göttin, wie gesagt. Und die Sache mit Gott und dem Sohn und dem Geist . . . « Er schwieg einen Moment; Jochanans Schreibried kratzte über den Papyros.
»Hm, da gibt es in der alten persischen Götterwelt den reinen Geist, das ist Gott; der schickt eine reine Emanation aus, Ahura Mazdah, um die Menschen auf den rechten Pfad zu bringen; das wäre der Sohn. Und nach dem Tod gehen die Menschen über die Brücke des Erwählers — das ist ein seltsamer Geist, der ist auch heilig. Könnte man sie nicht zusammenfassen? Mit Isis und Osiris? Mit Tammuz vielleicht noch?«
Jochanan kicherte; es klang ein wenig gequält. »Ich werde deine Vorschläge erwägen. Drei Götter in Einem! «
Pomponius sprach leiser, schläfrig und sehr erschöpft. »Ich habe seine Vermählung mit dem Tod erlebt. Und seine wirkliche. Anders als Sha‘ul war er nicht verdreht, sondern ein guter Mann, wie es sein jüdisches Gesetz vorschreibt - seid fruchtbar und mehret euch. Sonst hätte ihn ja auch niemand als Rabbi angeredet.«
»Vermählung?« Jochanans Stimme schien in unendlicher Ferne zu zaudern.
»Mit Maria von Magdala, in Kana. Wo seine Mutter ihn beschimpfte, weil nicht genug Wein für die Gäste vorhanden war. Ah, er hatte Witz, Jehoschua. Das Haus gehörte einem - wie heißen die? Essener; diese Asketen, die darauf bestehen, sich ganz unterzutauchen, wenn sie sich reinigen. Im Hof standen sechs Riesenkrüge, in denen ein Mann baden konnte. Ich habe ihm geholfen, in der Nacht vor der Heirat, also in der Nacht vom zweiten zum dritten Tag der Woche, das Wasser abzulassen und die Pötte mit Wein zu füllen « Er kicherte leise »Wir haben große Mühe gehabt, nicht dauernd laut zu lachen, weil wir uns vorgestellt haben, der Freund, der sein Haus für die Vermählung bergab, würde vielleicht noch baden wollen... Aber wieso bist du überrascht? Wem, wenn nicht dem Gastgeber, soll denn eine Mutter Vorwürfe machen, wenn der Wein ausgeht?«
Seine Stimme wurde immer schwächer, aber er sprach weiter, und Jochanan schrieb. »All dieser Unfug, der ihm angedichtet wird... Preist ihn, denn er war ein freundlicher Mann.
Als sein Vater früh starb, leitete er die Tischlerei, um die Familie zu ernähren — seine Mutter, vier jüngere Brüder und drei Schwestern. Er aß und trank gern, und er hat seine Frau geehrt und geliebt. Er war gut zu seinen Freunden. Er ist als tapferer Mann gestorben, ohne Klagen. Lauter preisenswerte Dinge, aber ihr wollt mit Gewalt einen schlechten Gott aus ihm machen. Dabei sind gute Menschen so selten.«
Jochanan schrieb. Pomponius schien auf der Liege einzudämmern, fuhr aber wieder auf, als das Schreibried lauter und hektischer kratzte.
»Was? «
»Nichts, Herr.« Jochanans Stimme war beinahe liebevoll. »Nur einige Fragen — wenn ich fragen darf.«
Pomponius hustete. »Frag, exoticus.« Jochanan entrollte einen der Texte. »Du sagst, die Juden
haben kaum Notiz von ihm genommen. Aber hier steht, sie haben ihn mit feierlichen Rufen begrüßt.« »Eine der Stellen, an denen man sieht, daß gelogen und verbogen wird — oder die Schreiber keine Ahnung haben. Jehoschua ist nicht vor Passah, sondern zuerst im Herbst nach
Jerusalem gekommen; sie fassen beides zusammen. Zum Erntefest, das heißt >Laubhüttenfest<, nimmt man Zweige und ruft hoschia na, das heißt >hilf doch< — der Gott soll helfen, daß die Ernte gut wird. Und wer als Pilger in die Stadt kommt, wird mit >gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn< begrüßt —jeder Pilger.« Seine Stimme wurde wieder schwächer schloß die Augen.
Jochanan räusperte sich halblaut. »Kannst du mir noch etwas von seiner Lehre sagen — so, wie du sie gehört hast?« Pomponius seufzte. »Ich habe nicht viel gehört; mich haben die wirklichen Menschen immer mehr interessiert als die erfundenen Götter.«
»Aber du wirst doch ein wenig . . . «
Pomponius setzte sich halb auf. »Ich glaube«, sagte er sehr ernst, mit einem fast scharfen Unterton, »wenn endlich einSchreibsklave gefunden ist, werde ich all das, was ich weiß,
aufschreiben, damit dieser Sektenunsinn ein Ende findet. Mach du die phantastische Lügengeschichte — ich werde dieWahrheit schreiben.«Jochanan grunzte. »Was ist die Wahrheit, Herr? Was ist Jehoschuas Wahrheit?«»Er hat sich weder als Messias noch sonst etwas Hehres bezeichnet. Einfach ein Rabbi, der die jüdische Lehre erneuern wollte. Und nur die jüdische Lehre. Es steht ja auch in den Texten, versteckt.« »Was?« »Die Geschichte mit der nichtjüdischen Mutter, deren Kind er nicht heilen will — erst die Menschen, dann die Hunde. Hunde waren für ihn alle Nichtjuden. Und ihr macht eine Sekte für Nichtjuden... Er wollte keine Proselyten machen, Jochanan; er wollte nicht, daß die Perlen seiner Lehre vor die
Säue geworfen werden — das sind wir, die Römer; der Eber ist das Wappen der Legion von Cäsarea. Und wir sind es auch, die auf die rechte Wange schlagen — mit dem Handrücken,
Zeichen der Verachtung der Herren gegenüber den Knechten. Oder kannst du, wenn du nicht Linkshänder bist, jemanden auf die rechte Wange schlagen — mit der Handfläche?«Die Stimme des alten Römers wurde immer schwächer kam aus Fernen des Halbtraums. »Nur für die Juden, nicht für die Säue...
Und ihr verteufelt die Juden... Sieh dich vor, daß du Wörter schreibst, die nicht beim Abschreiben entstellt werden können. Seine Lehre ... Hin und wieder wirr. Warum soll ein Reicher nicht tugendhaft sein können? Eher geht ein Ankertau durch ein Nadelöhr... Schreib doch lieber peisma statt kamilos, ein Schiffstau ist ebenso gut wie ein Ankertau, und am Ende macht einer, der so schlecht Griechisch kann wie du und die anderen Aramäisch, aus dem kamilos ein kamelos... Nur für die Juden, Jochanan, nicht für die Hunde die Säue, die Heiden... Ich werde... «
Jochanan stand auf und beugte sich über den Greis. Der Römer war eingeschlafen. Im Haus herrschte Stille; von den Sklaven war nichts zu hören. Jochanan nahm ein Kissen und drückte es auf das Gesicht des Sextus Pomponius Albus. Als die Zuckungen endeten, legte er das Kissen beiseite, ging zur Haus und rief mit schmerzvoller Stimme nach den Sklaven.

kotzfisch
16.10.2007, 10:25
?????????????

wtf
16.10.2007, 10:29
Leider fehlt mir die Zeit, das Opus durchzulesen. Du würdest vermutlich mehr Foristi erreichen, wenn der Inhalt schneller erfaßbar wäre.

Drache
16.10.2007, 12:51
Romane lese ich auf dem Klo!

The_Darwinist
16.10.2007, 19:37
Geht leider nicht kürzer. Da abgeschlossenes Werk und das darf man nicht verändern.

Skaramanga
16.10.2007, 22:42
Hier die Kurzversion: Johannes wurde nach wiederholtem nächtlichen Randalieren nach Patmos deportiert, fand dort guten schweren griechischen Wein vor, besoff sich regelmäßig, und schrieb seine weinseligen Visionen - später "Apokalypse" genannt - nieder.

Noch Fragen?

The_Darwinist
16.10.2007, 23:02
Hier die Kurzversion: Johannes wurde nach wiederholtem nächtlichen Randalieren nach Patmos deportiert, fand dort guten schweren griechischen Wein vor, besoff sich regelmäßig, und schrieb seine weinseligen Visionen - später "Apokalypse" genannt - nieder.

Noch Fragen?

klingt gut, aber du hast den Römer vergessen, der sich einmischt

Skaramanga
18.10.2007, 08:14
klingt gut, aber du hast den Römer vergessen, der sich einmischt

Ach ja, der Römer... dieser war dem Johannes dummerweise auf die Schliche gekommen und blickte durch, was dieser eigentlich mit seinen Schriften vor hatte und bezweckte, und zeigte sich außerdem mehr bewandert in den Lehren des Jesus, den er persönlich gekannt hatte, und seiner Lebensumstände als Johannes selbst, der dabei war, diese zu einer neuen Religion umzustricken. Als echter Zyniker gab der Römer dem Johannes dazu sogar noch einige Tips, wie man das am besten macht. Gleichzeitig aber deutete er an, dass er sein Wissen über die Vorgänge in Palästina und seine Erkenntnisse über die Lehren des Jesus möglicher Weise schriftlich niederlegen und veröffentlichen wollte. Deshalb musste Johannes diesen unbequemen und zu gut informierten Zeitzeugen leider umbringen.

The_Darwinist
19.10.2007, 23:06
Ach ja, der Römer... dieser war dem Johannes dummerweise auf die Schliche gekommen und blickte durch, was dieser eigentlich mit seinen Schriften vor hatte und bezweckte, und zeigte sich außerdem mehr bewandert in den Lehren des Jesus, den er persönlich gekannt hatte, und seiner Lebensumstände als Johannes selbst, der dabei war, diese zu einer neuen Religion umzustricken. Als echter Zyniker gab der Römer dem Johannes dazu sogar noch einige Tips, wie man das am besten macht. Gleichzeitig aber deutete er an, dass er sein Wissen über die Vorgänge in Palästina und seine Erkenntnisse über die Lehren des Jesus möglicher Weise schriftlich niederlegen und veröffentlichen wollte. Deshalb musste Johannes diesen unbequemen und zu gut informierten Zeitzeugen leider umbringen.

Gute Zusammenfassung, aber nicht reissend genug!
Ich kann so was nicht!
Ich bin kein Autor!
Der Text ist von Gisbert Haefs und einer der besten, die ich je über Religion gelesen habe!
Mach etwas draus! kürze es knapp und brilliant! So dass die Kids drauf fliegen!