§ 2. Entstehung und Umbildung der charismatischen Autorität.Die Schöpfung einer charismatischen Herrschaft in dem geschilderten »reinen« Sinn ist stets das Kind ungewöhnlicher äußerer, speziell politischer oder ökonomischer, oder innerer seelischer, namentlich religiöser Situationen, oder beider zusammen, und entsteht aus der, einer Menschengruppe gemeinsamen, aus dem Außerordentlichen geborenen Erregung und aus der Hingabe an das Heroentum gleichviel welchen Inhalts. Daraus allein schon folgt: in ungebrochener Macht, Einheitlichkeit und Stärke wirkt sich sowohl der Glaube des Trägers selbst und seiner Jünger an sein Charisma, – sei dieses nun prophetischen oder welchen Inhalts sonst –, wie die gläubige Hingabe derjenigen, an welche er sich gesandt fühlt, an ihn und seine Sendung regelmäßig nur in statu nascendi aus. Flutet die Bewegung, welche eine charismatisch geleitete Gruppe aus dem Umlauf des Alltags heraushob, in die Bahnen des Alltags zurück, so wird zum mindesten die reine Herrschaft des Charisma regelmäßig gebrochen, ins »Institutionelle« transponiert und umgebogen, und dann entweder geradezu mechanisiert oder unvermerkt durch ganz andere Strukturprinzipien zurückgedrängt oder mit ihnen in den mannigfachsten Formen verschmolzen und verquickt, so daß sie dann eine faktisch untrennbar mit ihnen verbundene, oft bis zur Unkenntlichkeit entstellte, nur für die theoretische Betrachtung rein herauszupräparierende Komponente des empirischen historischen Gebildes darstellt.
Die »reine« charismatische Herrschaft ist also in einem ganz spezifischen Sinne labil, und
alle ihre Alterationen haben im letzten Grunde eine und dieselbe Quelle. Normalerweise der Wunsch des Herrn selbst, stets der seiner Jünger und am meisten die Sehnsucht der charismatisch beherrschten Anhänger geht überall dahin: das Charisma und die charismatische Beglückung der Beherrschten aus einer einmaligen, äußerlich vergänglichen freien Gnadengabe außerordentlicher Zeiten und Personen in ein Dauerbesitztum des Alltags zu verwandeln. Damit wandelt sich aber unerbittlich der innere Charakter der Struktur. Einerlei ob aus der charismatischen Gefolgschaft eines Kriegshelden ein Staat, aus der charismatischen Gemeinde eines Propheten, Künstlers, Philosophen, ethischen oder wissenschaftlichen Neuerers eine Kirche, Sekte, Akademie, Schule, aus einer charismatisch geleiteten, eine Kulturidee verfolgenden Gefolgschaft eine Partei oder auch nur ein Apparat von Zeitungen und Zeitschriften wird, – stets ist die Existenzform des Charisma nun den Bedingungen des Alltags und den ihn beherrschenden Mächten, vor allem: den ökonomischen Interessen, ausgeliefert. Stets ist dies der Wendepunkt,
[661] mit welchem aus charismatischen Gefolgsleuten und Jüngern zunächst – wie in der »trustis« des fränkischen Königs – durch Sonderrechte ausgezeichnete Tischgenossen des Herrn, dann Lehensträger, Priester, Staatsbeamte, Parteibeamte, Offiziere, Sekretäre, Redakteure und Herausgeber, Verleger, welche von der charismatischen Bewegung leben wollen, oder Angestellte, Lehrer oder andere berufsmäßige Interessenten, Pfründenbesitzer, Inhaber patrimonialer Aemter oder dergleichen werden. Die charismatisch Beherrschten andererseits werden regulär zinsende »Untertanen«, steuernde Kirchen-, Sekten- oder Partei-oder Vereinsmitglieder, nach Regel und Ordnung zum Dienst gepreßte, abgerichtete und disziplinierte Soldaten oder gesetzestreue »Staatsbürger«. Die charismatische Verkündigung wird, auch wenn der Apostel mahnt: »den Geist nicht zu dämpfen«, unvermeidlich – je nachdem – Dogma, Lehre, Theorie oder Reglement oder Rechtssatzung oder Inhalt einer sich versteinernden Tradition. Zumal das Ineinanderfließen der beiden, in der Wurzel einander fremden und feindlichen Mächte: Charisma und Tradition, ist dabei regelmäßige Erscheinung. Begreiflicherweise: beider Macht ruht nicht auf plan- und zweckvoll geschaffenen Regeln und deren Kenntnis, sondern auf dem Glauben an die spezifische absolute oder relative, für den Beherrschten – Kind, Klient, Jünger, Gefolgs-oder Lehensmann – schlechthin gültige Heiligkeit der Autorität konkreter Personen und auf der Hingabe an Pietätsbeziehungen und -pflichten ihnen gegenüber, die bei beiden stets eine irgendwie religiöse Weihe an sich tragen. Auch die äußeren Formen der beiden Herrschaftsstrukturen gleichen einander oft bis zur Identität. Ob die Tischgemeinschaft eines Kriegsfürsten mit seinem Gefolge »patrimonialen« oder »charismatischen« Charakter hat, kann man ihr äußerlich nicht ansehen, – es hängt von dem »Geist« ab, der die Gemeinschaft beseelt, und das heißt: von dem Grunde, auf den sich die Stellung des Herrn stützt: durch Tradition geheiligte Autorität oder persönlicher Heldenglaube. Und der Weg vom ersteren zum letzteren ist eben flüssig. Sobald die charismatische Herrschaft den sie vor der Traditionsgebundenheit des Alltags auszeichnenden akut emotionalen Glaubenscharakter und die rein persönliche Unterlage einbüßt, ist das Bündnis mit der Tradition zwar nicht das einzige Mögliche, wohl aber, zumal in Perioden mit unentwickelter Rationalisierung der Lebenstechnik, das unbedingt Nächstliegende, meist unvermeidlich. Damit scheint nun das Wesen des Charisma endgültig preisgegeben und verloren, und das ist, soweit sein eminent revolutionärer Charakter in Betracht kommt, auch in der Tat der Fall. Denn es bemächtigen sich seiner nunmehr – und dies ist der Grundzug dieser typisch sich wiederholenden Entwicklung – die Interessen aller in ökonomischen oder sozialen Machtstellungen Befindlichen an der
Legitimierung ihres Besitzes durch Ableitung von einer charismatischen, also heiligen, Autorität und Quelle. Statt also, seinem genuinen Sinn gemäß, allem Traditionellen oder auf »legitimem« Rechtserwerb Ruhenden gegenüber revolutionär zu wirken, wie in statu nascendi, wirkt es nun seinerseits gerade umgekehrt als Rechtsgrund »erworbener Rechte«. Und, in eben dieser ihm innerlich wesensfremden Funktion wird es nun Bestandteil des Alltags. Denn das Bedürfnis, dem es damit entgegen kommt, ist ein ganz universelles. Vor allem aus einem allgemeinen Grunde.
Die frühere Analyse der Alltagsgewalten der bürokratischen, patriarchalen und feudalen Herrschaft hatte nur erörtert: in welcher Weise diese Gewalten
funktionieren. Aber die Frage: nach welchen Merkmalen der in der Hierarchie höchststehende, bürokratische oder patriarchalische, Gewalthaber selbst ausgelesen wird, ist damit noch nicht erledigt. Das Haupt eines bürokratischen Mechanismus könnte ja denkbarerweise auch seinerseits ein nach irgendwelchen generellen Normen in seine Stellung einrückender höchster Beamter sein. Aber es ist nicht zufällig, daß er dies meist nicht ist, wenigstens nicht nach den gleichen Normen, wie die ihm hierarchisch unterstehenden Beamten. Gerade der reine Typus der Bürokratie: eine Hierarchie von
angestellten Beamten, erfordert irgendeine
[662] Instanz, die ihre Stellung nicht ihrerseits auch wieder auf »Anstellung« im gleichen Sinn wie die anderen gründet. Die Person des Hausgewalthabers ergibt sich in der Kleinfamilie von Eltern und Kindern von selbst und ist in den Großfamilien regelmäßig durch eindeutige Regeln der Tradition festgelegt. Nicht aber ohne weiteres die des Hauptes eines patriarchalen Staatswesens oder einer Lehenshierarchie.
Und auf der andern Seite ist offenbar das grundlegende erste Problem, vor dem die charismatische Herrschaft steht, wenn sie zu einer perennierenden Institution sich umgestalten will, ebenfalls gerade die Frage des
Nachfolgers des Propheten, Helden, Lehrers, Parteihaupts. Gerade an ihr beginnt unvermeidlich zuerst die Einmündung in die Bahn von Satzung und Tradition.
Zunächst kann, da es sich um Charisma handelt, keine Rede von einer freien »Wahl« des Nachfolgers sein, sondern wiederum nur von einem »Anerkennen«, daß das Charisma bei dem Prätendenten der Nachfolge
vorhanden sei. Entweder also muß auf die Epiphanie eines persönlich seine Qualifikation erweisenden Nachfolgers oder irdischen Stellvertreters oder Propheten geharrt werden: – die Buddhaverkörperungen und Mahdî's sind spezifische Beispiele dafür. Aber eine solche neue Inkarnation fehlt oft oder ist sogar aus dogmatischen Gründen gar nicht zu erwarten. So für Christus und ursprünglich für Buddha. Nur der genuine (südliche) Buddhismus hat tatsächlich die radikale Konsequenz dieser Auffassung gezogen: die Jüngerschaft Buddhas blieb hier nach seinem Tode Bettelmönchsgemeinschaft mit einem Minimum von irgendwelcher Organisation und Vergesellschaftung und der Wahrung des Charakters einer möglichst amorphen Gelegenheitsvergemeinschaftung. Wo die alte Ordnung der Pâli-Texte wirklich durchgeführt war – und dies war in Indien und Ceylon vielfach der Fall –, da fehlt nicht nur ein Patriarch, sondern auch eine feste Verbindung des Einzelnen mit einer konkreten Klostervergesellschaftung. Die »Diözesen« sind nur ein geographischer Rahmen für die bequemere Abgrenzung der Gebiete, innerhalb deren sich die Mönche zu den wenigen gemeinsamen Zeremonien – denen jeder »Kultus« fehlt – zusammenfinden. Die »Beamten« der Klöster sind auf Kleiderbewahrer und wenige ähnliche Funktionäre beschränkt, die Eigentumslosigkeit des Einzelnen sowohl wie der Gemeinschaft als solcher und die rein mäzenatische Bedarfsdeckung (durch Schenkungen und Bettel), so weit durchgeführt, wie dies unter den Bedingungen des Alltags überhaupt möglich ist. Einen »Vorrang« beim Sitzen und Reden gibt bei Zusammenkünften nur das Alter (als Mönch) und die Beziehung des Lehrers zum Novizen, der ihm als famulus dient. Ausscheiden ist jederzeit freigestellt und nur die Zulassung an höchst einfache Vorbedingungen (Lehrzeit, Leumunds- und Freiheitsattest des Lehrers und ein Minimum von Zeremonien) geknüpft. Eine eigentliche »Dogmatik« fehlt, ebenso wie die Ausübung eines Schul- oder Predigtberufes. Die beiden halb legendären »Konzilien« der ersten Jahrhunderte haben keine Nachfolge gehabt.