Warum gibt es keine Demokratiekritik?
Das ist etwas, was ich mich tatsächlich ehrlich (!) frage. Ganz ohne Hintergedanken (erstmal)...
Sonst wird doch alles und jedes in unserem Land der Kritik unterworfen. Konservative Werte, Autorität, Kommunismus, Kirche und andere nicht-staatstragende Dinge sowieso - aber gerechterweise muss man ja sagen, dass es auch an Staatstragendem, Parteien, Politiker, Rechtssystem etc. durchaus immer wieder Kritik gibt und geben darf. Vielleicht nur von kleineren Gruppen, aber immerhin gibt es die.
Warum aber zum Teufel stellt denn niemand die Demokratie in Frage? Und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit (sogar Putin und Kim Jong Il verstehen sich als demokratisch legitimierte Herrscher).
Dabei ist die "Erfolgs"geschichte der Demokratie - verglichen mit jener der Monarchie z.B. - ja noch extrem kurz - in Europa bestenfalls seit 1918, eigentlich erst seit 1945.
Wie konnte sie so schnell so unantastbar werden? Was meint Ihr, was sind die Gründe für diesen spontanen Siegeszug?
AW: Warum gibt es keine Demokratiekritik?
Ich denke das hat psychologische Gründe.
So nutzt man das Wort demokratisch ja immer sehr gerne, um dem Volk ein Mitbestimmungsrecht vorzugaukeln.
Wenn sich dieser Irrglaube erst einmal festgesetzt hat, dann ist es wesentlich leichter, das Stimmvieh zu lenken, da es der Meinung ist, dass seine Belange nicht nur vertreten werden, sondern sie maßgeblich an Entscheidungen beteiligt wurden.
AW: Warum gibt es keine Demokratiekritik?
Es gibt sehr wohl Demokratiekritik, nur eben nicht von der parlamentarischen Bürokratie selbst. Wäre ja auch sehr verwunderlich, wenn sich die volksfernen Bürokraten ihren eigenen Ast ansägen würden. Wesentlich wird Demokratiekritik von radikalen Kräften geübt, egal welcher Ausrichtung. In Erinnerung blieb mir beispiels der Text der jungen Linken: Die Demokratie und ihre Idealisten. Ich hoffe, dass das der richtige Text ist, denke ich aber; habe ihn gerade überflogen ... er scheint editiert worden zu sein. Aber soweit ich's in Erinnerung habe standen da recht gute, vernünftige Sachen drin.
AW: Warum gibt es keine Demokratiekritik?
Natürlich gibt es Demokratiekritik, erst vorgestern hat Petra Pau gesagt, das Volk müßte viel stärker in die politischen Entscheidungsprozesse einbezogen werden, da es der souverän ist und nicht die Politiker.
Deutschland ist in Fragen der Demokratie eines der rückständigsten Länder in Europa. S21 ist ein gutes Beispiel dafür was passiert wenn man den Bürger nicht einbezieht oder es ihm verwehrt gehört zu werden.
Ich dachte bis jetzt das ist der ganz normale Umgang mit Untertanen, muß ich wohl nochmal nachlesen was eine echte Demokratie ist.
PS: In Deutschland ist Demokratie eine Diktatur der Volksvertreter.
AW: Warum gibt es keine Demokratiekritik?
Zitat:
Zitat von
archangelos
Warum aber zum Teufel stellt denn niemand die Demokratie in Frage?
Wenn du unter Demokratie die Herrschaft eines Volkes verstehst, dessen mehrheitlicher Wille sich in Wahlen manifestiert, dann gibt es sehr wohl eine große Tradition der Demokratiekritik - dann gibt es die preußische Warnung vor dem beschränkten Untertanenverstande und die grüne vor einer populistischen Falle; dann gibt es die Verankerung von Würde als einer "unveräußerlichen" und die Furcht, daß Volksabstimmungen zur Gängelung von Minderheiten führten. Es gibt Georg-Büchner-Preisträger, die in der ZEIT darüber schreiben dürfen, daß Demokratie zu einer Ausartung des Sozialstaats geführt habe, und Professoren, die betonen, daß sie "kein Gott" sei - und allgemeiner eine populäre Vorstellung von Menschenrechten, nach der diese nicht nur jedem Menschen zustehen sollten, sondern ihm auch quasi naturrechtlich zustünden - ergo selbst per Mehrheitsbescheid nicht entzogen werden dürften.
In diesem Sinne ist auch jede Religion antidemokratisch, weil jede darauf pocht, daß bestimmte Glaubensinhalte und Werte nicht zur demokratischen Disposition gestellt werden dürften. Also: eine absolut reinrassige Demokratie will vermutlich niemand; und auch ich würde nicht wollen, daß neun Nazis und ein Schwarzer über die Wiedereinführung der Sklaverei abstimmen. Tatsächlich nicht sehr weit verbreitet dürfte allerdings diese eigentümliche Demokratiekritik sein, die "libertäre" und vermutlich auch deine "anarchomonarchistische", die wohl darauf hinauslaufen, daß Demokratie deshalb so böse sei, weil sich eine Mehrheit dafür entscheiden könnte, daß der Staat und vulgo die Steuerzahler für den Bau von Krankenhäusern aufkommen sollten und ergo ja der kommunistische Faschismus eingeführt wird; die blöden Idioten mit dem tollen Pelz der tollen Hautfarbe außerdem in Dekadenz verfallen, statt dem König zu huldigen und ihm weiße Kinderlei zu schenken.
Abgesehen davon gibt es aber immer mehr Menschen, die der Politik entfremdet gegenüberstehen und sie wie eine externe Macht wahrnehmen, die gleich einer Naturgewalt über sie einbricht. Und folglich ist es verständlich, daß sich viele Menschen demokratische Volksentscheide und somit mehr direkte Mitbestimmung wünschen.
[Übrigens ist "kirchentreuer Freigeist" ein Widerspruch in sich, denn "Glaube heißt Gehorsam" (Papst Benedikt), ja Glaube ist "rationaler, aber bedinungsloser Gehorsam" (Robert Spaemann) - und Kirchentreue besteht darin, daß ein Teil der gedanklichen Ergebnisoffenheit wie der individuellen Suche nach Wahrheit zugunsten eben jenes Gehorsams aufgegeben wird. Zwar kann diese Treue bestimmte Widerstandskräfte zur Voraussetzung haben, doch wenn du etwa daran glaubst, daß Dogmen, auf deren Formulierung du keinen Einfluß hast, unter Beihilfe des Heiligen Geistes zustande kommen und sie "unbedingt" und "fest" geglaubt werden müssen, dann bist du per definitionem kein Frei-Geist mehr.]
AW: Warum gibt es keine Demokratiekritik?
Zitat:
Zitat von
marc
Wenn du unter Demokratie die Herrschaft eines Volkes verstehst, dessen mehrheitlicher Wille sich in Wahlen manifestiert, dann gibt es sehr wohl eine große Tradition der Demokratiekritik - dann gibt es die preußische Warnung vor dem beschränkten Untertanenverstande und die grüne vor einer populistischen Falle; dann gibt es die Verankerung von Würde als einer "unveräußerlichen" und die Furcht, daß Volksabstimmungen zur Gängelung von Minderheiten führten. Es gibt Georg-Büchner-Preisträger, die in der ZEIT darüber schreiben dürfen, daß Demokratie zu einer Ausartung des Sozialstaats geführt habe, und Professoren, die betonen, daß sie "kein Gott" sei - und allgemeiner eine populäre Vorstellung von Menschenrechten, nach der diese nicht nur jedem Menschen zustehen sollten, sondern ihm auch quasi naturrechtlich zustünden - ergo selbst per Mehrheitsbescheid nicht entzogen werden dürften.
In diesem Sinne ist auch jede Religion antidemokratisch, weil jede darauf pocht, daß bestimmte Glaubensinhalte und Werte nicht zur demokratischen Disposition gestellt werden dürften. Also: eine absolut reinrassige Demokratie will vermutlich niemand; und auch ich würde nicht wollen, daß neun Nazis und ein Schwarzer über die Wiedereinführung der Sklaverei abstimmen. Tatsächlich nicht sehr weit verbreitet dürfte allerdings diese eigentümliche Demokratiekritik sein, die "libertäre" und vermutlich auch deine "anarchomonarchistische", die wohl darauf hinauslaufen, daß Demokratie deshalb so böse sei, weil sich eine Mehrheit dafür entscheiden könnte, daß der Staat und vulgo die Steuerzahler für den Bau von Krankenhäusern aufkommen sollten und ergo ja der kommunistische Faschismus eingeführt wird; die blöden Idioten mit dem tollen Pelz der tollen Hautfarbe außerdem in Dekadenz verfallen, statt dem König zu huldigen und ihm weiße Kinderlei zu schenken.
Abgesehen davon gibt es aber immer mehr Menschen, die der Politik entfremdet gegenüberstehen und sie wie eine externe Macht wahrnehmen, die gleich einer Naturgewalt über sie einbricht. Und folglich ist es verständlich, daß sich viele Menschen demokratische Volksentscheide und somit mehr direkte Mitbestimmung wünschen.
[Übrigens ist "kirchentreuer Freigeist" ein Widerspruch in sich, denn "Glaube heißt Gehorsam" (Papst Benedikt), ja Glaube ist "rationaler, aber bedinungsloser Gehorsam" (Robert Spaemann) - und Kirchentreue besteht darin, daß ein Teil der gedanklichen Ergebnisoffenheit wie der individuellen Suche nach Wahrheit zugunsten eben jenes Gehorsams aufgegeben wird. Zwar kann diese Treue bestimmte Widerstandskräfte zur Voraussetzung haben, doch wenn du etwa daran glaubst, daß Dogmen, auf deren Formulierung du keinen Einfluß hast, unter Beihilfe des Heiligen Geistes zustande kommen und sie "unbedingt" und "fest" geglaubt werden müssen, dann bist du per definitionem kein Frei-Geist mehr.]
Bravo. Vorallem der Schluss.
Ich danke wie folgt:
http://www.youtube.com/watch?v=6VL9T...eature=related
Bach. BWV 1004. Chaconne violin solo. Viktoria Mullova. 1
Zum Beweise des guten Geschmackes bist du verpflichtet dieses Lied 20 mal hintereinander anzuhören. Und natürlich aus Gründen der unbedingten Treue zum heiligen Geist ( ich )
AW: Warum gibt es keine Demokratiekritik?
wo gäbe es keine demokratie kritik?
sie wurde zeitgleich mit der demokratie selbst erfunden.
zitate wie:
"Demokratie ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf über die nächste Mahlzeit abstimmen",
das meist fälschlich Franklin zugesprochen wird, gibt es wie sand am meer.
es gibt natürlich auch ausgewasene texte, unter anderem von
Bachrach, Peter,
Bobbio, Norberto,
Dahl, Robert,
Hondrich, Karl Otto,
Michels, Robert,
Pelinka, Anton,
Rauch, Herbert,
und
Sartori, Giovanni.
zwischen "ich kenne nichts" und "gibt es nicht", besteht noch immer ein unterschied.
übrigens steckt in oben angeführten zitat schon ein denkfehler.
es braucht keine zwei wölfe. einer reicht schon.
AW: Warum gibt es keine Demokratiekritik?
Demokratie wird automatisch mit "gut" gleichgesetzt. Wer also gegen sie ist, muss demnach gegen das Gute sein, ist also ein böser Mensch, steht auf der falschen Seite, befindet sich außerhalb der menschlichen Zivilisation usw. Niemand will aber ein böser Mensch sein. Das ist die ganze verquere Logik, die dahinter steckt und von Medien und Politik in die Gehirne der Bevölkerung geimpft wurde.
AW: Warum gibt es keine Demokratiekritik?
Jedes Volk braucht seine Heiligtümer. Wir haben die allem überlegen Demokratie. Jeder darf mitentscheiden, ergo ist es toll. Weil jeder weiß, was er will und jeder mitentscheiden darf, kommt dabei nur Gutes raus.
Die herrschende Klasse würde es niemals wagen, ihren heiligen Gral in Frage zu stellen und auch dem Volk gefällt die Illusion von Freiheit und Mitbestimmung. Wenn man die Gitterstäbe nicht sieht, sind sie gar nicht da.
Lediglich versprengte Randgruppen von dubiosen Dauernörglern wie Linksradikalen oder scheuen konservativen Intelektuellen kritisieren die verschiedenen Auffassungen von Demokratie umfangreich - auf verschiedene Weise und verschiedenem Niveau. Aber das bekommt eh niemand mit.
Die Mainstreammedien greifen das Thema eigentlich nur dann auf, wenn man sich lästigerweise mit direkter Demokratie auseinandersetzen muss. Dann kommt nämlich die Frage auf: Warum darf der Bürger auf Bundesebene nur alle 4 Jahre 2 Kreuzchen machen und warum sind die gewählten Volksvertreter, auf deren Kompetenz das ganze System aufgebaut ist, nichteinmal im Geringsten daran gebunden, ihre Wahlversprechen auch zu halten? Eine Möglichkeit, von der sie bekanntlich gerne Gebrauch machen...
Zum Glück springt dann stets ein Intelektueller der herrschenden Klasse aus der Kiste, der in blumigen Worten davor warnt, dass Ottonormalbürger viel zu dumm, uninformiert und inkompetent sei, um sinnvolle Entscheidungen zu treffen.
Warum er dann schlau genug sein soll, um in einem komplexen Gewirr aus Parteienpolitik, Wirtschaftslobbys und ideologischen Strömungen mit nur einem Kreuzchen die richtige Partei zu wählen, erklärt man in solchen Momenten besser nicht.
AW: Warum gibt es keine Demokratiekritik?
Zitat:
Zitat von
archangelos
Das ist etwas, was ich mich tatsächlich ehrlich (!) frage. Ganz ohne Hintergedanken (erstmal)...
Sonst wird doch alles und jedes in unserem Land der Kritik unterworfen. Konservative Werte, Autorität, Kommunismus, Kirche und andere nicht-staatstragende Dinge sowieso - aber gerechterweise muss man ja sagen, dass es auch an Staatstragendem, Parteien, Politiker, Rechtssystem etc. durchaus immer wieder Kritik gibt und geben darf. Vielleicht nur von kleineren Gruppen, aber immerhin gibt es die.
Warum aber zum Teufel stellt denn niemand die Demokratie in Frage? Und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit (sogar Putin und Kim Jong Il verstehen sich als demokratisch legitimierte Herrscher).
Dabei ist die "Erfolgs"geschichte der Demokratie - verglichen mit jener der Monarchie z.B. - ja noch extrem kurz - in Europa bestenfalls seit 1918, eigentlich erst seit 1945.
Wie konnte sie so schnell so unantastbar werden? Was meint Ihr, was sind die Gründe für diesen spontanen Siegeszug?
Warum gibt es keine Demokratiekritik ?....
Warum soll man etwas kritisieren, das es bei uns gar nicht gibt ? :rolleyes: