Infektionskrankheiten: MERS – Profil eines neuen Erregers (Auszug)
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Krankheitserreger könnte man als
„Gewinner der Globalisierung“ bezeichnen: Der Mensch erschließt neue Ressourcen in zuvor unberührter Natur, seine Mobilität ist höher denn je. Zugleich können sich Krankheitserreger schneller als jedes andere Lebewesen an Veränderungen anpassen und heutzutage innerhalb von ein bis zwei Tagen um die Welt reisen. In den letzten beiden Jahrzehnten sind viele neue oder zuvor nicht erkannte virale Krankheitserreger (emerging viruses) aufgetreten, einige fallen in die höchsten Risikogruppen 3 und 4: das Hendra-Virus (1994), das Nipah-Virus (1999), das SARS-Coronavirus (2003), das Bundibugyo-Virus, ein Ebola-Virus-Verwandter (2008>), oder das Lujo-Virus, ein Lassa-Virus-Verwandter (2009). Hinzu kommen neue Varianten von Vogelgrippeviren, die zum Teil für den Menschen hochpathogen sind. Seit kurzem MERS-CoV, das Middle East Respiratory Syndrome Coronavirus, phylogenetisch verwandt mit SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus), erstmals isoliert im September 2012 von einem 60-jährigen Patienten in einer Klinik der saudiarabischen Stadt Jeddah (1). Der Patient starb. Wie der Erreger von SARS gehörte der von MERS in die Risikogruppe 3, erläutert Dr. med. Udo Buchholz, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Robert Koch-Institut (RKI) Berlin. Seit der ersten bekannt gewordenen MERS-Infektion sind der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1 356 Infizierte und 484 Todesfälle gemeldet worden (Stand: 26. Juni), die Dunkelziffer Infizierter wird als erheblich eingeschätzt.
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Die größeren Ausbrüche sind bisher krankenhausassoziiert
Die meisten Erkrankungen gibt es auf der arabischen Halbinsel: Einzelfälle, immer wieder aber auch größere, krankenhausassoziierte Ausbrüche. Im Mai 2015 wurde MERS dann erstmals durch einen Reisenden von der arabischen Halbinsel nach Südkorea eingeschleppt und versursachte dort ebenfalls weitgehend nosokomiale Ausbrüche. In China, Thailand, den USA und Europa gab es importierte Fälle.
Noch ist das Wissen über das neu erkannte Virus lückenhaft: über seine Reservoire, Übertragungswege und deren Effektivität. Der Erreger von MERS ruft ebenso wie der von SARS erkältungs- und grippeähnliche Symptome hervor, bei schweren Verläufen von MERS kommt es zu atypischen Pneumonien und häufig zum Nierenversagen, teilweise zum Multiorganversagen. MERS ist nach aktuellem Kenntnisstand nicht so leicht von Mensch zu Mensch übertragbar wie SARS, sondern nur bei engem Kontakt, und es scheint anders als SARS derzeit kein pandemisches Potenzial zu haben. In der SARS-Pandemie erkrankten 2002/2003 mehr als 8 000 Menschen circa 1 000 starben.
MERS ist mit einer höheren Letalität (20 bis 40 Prozent) assoziiert als SARS.
Die WHO forderte vor kurzem international zu erhöhter Wachsamkeit auf. „Das ist ein Weckruf an alle Länder“, sagt Buchholz. „Es besteht zwar für die Allgemeinbevölkerung in Deutschland kein erhöhtes Risiko, aber angesichts von jährlich circa einer Million Menschen, die aus Saudi-Arabien kommend nach Deutschland reisen, müssen wir jederzeit mit importierten Fällen rechnen.“ Bei unerkannten Infektionen könne der Erreger auch in deutschen Kliniken zu Ausbrüchen mit Sekundär- und Tertiärinfektionen führen, sagt Buchholz, von schweren Verläufen seien bislang vor allem komorbide Patienten betroffen. In Deutschland gab es bislang drei importierte MERS-Fälle, der erste im März 2013, der dritte im Mai 2015. Erkrankt waren Männer, zwei von ihnen starben.
MERS-CoV ist wie die meisten „emerging infectious diseases“ eine Zoonose. „Die zellbiologischen und ökologischen Voraussetzungen für den Wirtswechel und die Epidemiologie sind noch unzureichend bekannt“, erläutert Prof. Dr. med. Christian Drosten, Leiter des Instituts für Virologie der Universität Bonn. Drosten hatte 2003 als erster Forscher das SARS-CoV sequenziert und die Daten direkt im Internet allgemein zugänglich gemacht. Er ist auch für MERS ein international renommierter Experte.
„Bei SARS sind Fledertiere ein Reservoir, bei MERS wurden sie ebenfalls als Reservoir vermutet, sind aber als solches nicht nachgewiesen“, sagt Drosten. Dromedare gelten als Reservoir. Vermutlich kann sich der Mensch bei ihnen infizieren, es wurden genetisch identische MERS-CoV aus Kamelen und Patienten isoliert (2, 3).
Unklar sind die Tier-Mensch-Übertragungswege und -materialien: Werden Menschen direkt durch Nasalsekrete des Kamels oder auch über andere Ausscheidungen infiziert? Kann Inhalation eine Rolle spielen? Haben Kamelprodukte wie Fleisch oder Milch Relevanz? Wie wahrscheinlich ist eine Erhöhung der Pathogentiät durch Mutationen (4)?
Serologischen Untersuchungen von Drosten und seinem Team zufolge haben in Saudiarabien 0,15 Prozent der gesunden Bevölkerung Antikörper gegen MERS, unter den Kamelhirten sind es 2,3 Prozent und unter den an Kamelschlachtungen beteiligten Arbeitern 3,6 Prozent. Allein in Saudi-Arabien seien circa 40 000 Menschen positiv für MERS-Antikörper (5). Vor allem junge Kamele – sie werden meist im Frühjahr geboren – sind offenbar empfänglich für MERS-Infektionen, wenn sie den Schutz durch mütterliche Antikörper verlieren. „Bei der weiten Verbreitung der Kamele als Nutztiere ist es wahrscheinlich, dass MERS immer wieder vom Tier auf den Menschen übertragen wird“, sagt Drosten. Derzeit rät die WHO nicht ab von Reisen in arabische Länder, Reisende sollten sich aber von Kamelen und Kamelmärkten fernhalten.
Auch Mensch-zu-Mensch-Übertragungen (6), in Südkorea Infektionsketten mit vier Generationen, und subklinische Infektionen bei Kontaktpersonen in gemeinsamen Haushalten wurden nachgewiesen (7). Bei 20 bis 40 Prozent der Infizierten lässt sich kein Kontakt zu infizierten Menschen oder Tieren nachweisen. „Da gibt es noch viele Fragen“, sagt Buchholz.
MERS ist das sechste bekannte Virus aus der Familie der Coronaviren, das den Menschen infizieren kann. Es ist ein einzelsträngiges RNA-Virus und gehört wie SARS in die Gattung der Betacoronaviren. Über Proteine auf der Oberfläche, den Spikes, binden sich Viruspartikel an Wirtszellrezeptoren. Bei SARS ist der Rezeptor das Angiotensin-Konversions-Enzym (ACE) 2, bei MERS die Dipeptidylpeptidase (DPP) 4, an die MERS bei verschiedenen Spezies bindet. DPP 4 ist ein Inkretinspaltendes Enzym, es ist pharmakologische Zielstruktur von Antidiabetika (Gliptine). DPP 4 wird unter anderem in Epi- und Endothelien der oberen und vor allem unteren Atemwege exprimiert, außerdem von alveolären Makrophagen und in der Niere, dort wo auch MERS-Virusantigen in menschlichem Gewebe nachgewiesen wurde(8). Mit dem Expressionsmuster von DPP 4 ließe sich der Tropismus des Erregers erklären. Gewebezerstörungen in Lunge und Nieren könnten direkt durch das Virus oder indirekt durch Hypoxie entstehen.
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