2. Teil
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„Resettlement muss man ausbauen“
Küpper: Aber warum verwendet das UNHCR unter anderem dann diese Zahl von über 80 Millionen Menschen auf der Flucht?
Knaus: Ich vermute, es geht darum – und das ist eine gute Intention –, dem Thema Aufmerksamkeit zu geben. Aber tatsächlich blicken wir doch auf die Zahlen für Europa. In den letzten vier Jahren ist es kaum noch jemandem gelungen, als Flüchtling Europa zu erreichen. Wenn in Deutschland heute Asylanträge gestellt werden, sind das in den allermeisten Fällen Menschen, die schon seit einigen Jahren in Europa sind. Im gesamten Mittelmeer kamen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres um die 35.000 irregulär nach Europa, darunter Tunesier, Marokkaner, Bangladeschis, die am Ende nicht anerkannt werden als Flüchtlinge. Ich halte das für einen Versuch, einen verzweifelten Versuch, Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, der aber tatsächlich eine falsche Botschaft transportiert.
Die echte Botschaft müsste sein, die Flüchtlingskonvention hindert ihre Unterzeichner daran, Menschen an Grenzen zurückzustoßen ohne Prüfung. Das ist in Gefahr, heute mehr denn je. Darauf muss man sich konzentrieren, Menschen in Demokratien zu überzeugen, das nicht zu tun. Und die Flüchtlingskonvention verpflichtet ihre Unterzeichner, weltweit Staaten zu helfen, die Leute, Flüchtlinge aufnehmen. Das ist die 2018 in New York verabschiedete Deklaration der Generalversammlung.
Dazu muss man aber den Erstaufnahmeländern systematisch besser helfen und man muss das Resettlement, was ja auch in den 50er-Jahren bei den Ungarn-Flüchtlingen schon groß angewandt wurde, das legale Aufnehmen von Flüchtlingen aus Erstaufnahmeländern und Verteilen, ohne dass sie sich lebensgefährlichen Wegen und Schleppern anvertrauen müssen, das müsste man ausbauen. Das wäre das wahre Geschenk für die Flüchtlingskonvention und realistisch sehen, wo wir heute stehen. Leider ein großartiges Dokument, aber kein Grund zum Feiern.
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„Hoffnung liegt auf der nächsten deutschen Bundesregierung“
Küpper: Wer müsste denn da aktiv werden?
Knaus: Eine große Hoffnung liegt auf jeden Fall auf der nächsten deutschen Bundesregierung. Deutschland hat in den letzten Jahren sehr vielen Menschen Schutz geboten. Das waren Ausnahmejahre, das war eine große Herausforderung. Wenn Deutschland jetzt sagen würde, man nimmt, sagen wir, jedes Jahr 40.000 Flüchtlinge auf in einem Resettlement-Programm, dann wäre das sehr viel weniger als in den letzten Jahren spontan kamen. Wenn Deutschland aber Frankreich und andere Europäer überzeugt und sich mit Kanada und den Vereinigten Staaten unter Präsident Biden zusammentut, dann wäre man schnell bei 250.000 bis 300.000 Flüchtlingen, die jedes Jahr, ohne ihr Leben zu riskieren, Schutz erhielten.
Das könnte man ausbauen, wenn da eine deutsche Bundesregierung vorangeht, gleichzeitig sagt, man will die lebensgefährliche irreguläre Migration reduzieren, allerdings ohne sich auf libysche Milizen zu stützen, aber durch Kooperation mit Herkunftsländern oder Transitländern, denen etwas anbieten, dafür nehmen die Leute zurück, die irregulär kommen.
Das Ziel muss sein, dass die, die Schutz brauchen, weltweit nicht vor verschlossenen Grenzen stehen und dass die Staaten, denen das ein Anliegen ist, sich hier weltweit engagieren. Ich glaube, die nächste deutsche Bundesregierung könnte hier wirklich ein Zeichen setzen, gemeinsam mit Verbündeten. Es gibt natürlich zum Glück noch andere Demokratien. Kanada ist ein Beispiel. Schweden ist ein Beispiel. Dort werden jedes Jahr 5.000 Menschen durch Resettlement aufgenommen, so viele wie in Deutschland, obwohl Deutschland achtmal größer ist.
„In der Türkei droht die Stimmung zu kippen“
Küpper: Schauen wir noch auf die aktuelle Situation, auf die aktuellen Herausforderungen. Ich habe es bereits angesprochen, das EU-Türkei-Abkommen aus dem Jahre 2016, Geld, auch Hilfe gegen Kontrolle von Flüchtlingen. So lautet ja in etwa der Deal. Das ganze basierte damals auf den Flüchtlingsbewegungen vor allem aus Syrien. Jetzt droht auch in Afghanistan eine ähnliche Lage. Wie belastbar ist das Ganze, oder wie wird sich das Ihrer Prognose nach entwickeln?
Knaus: Die erste Frage – und Sie haben es ja auch angedeutet –, es ging tatsächlich darum, Hilfe für das Erstaufnahmeland Türkei zu mobilisieren. Denn von den zehn Millionen zusätzlichen Flüchtlingen in den letzten zehn Jahren weltweit, die aufgenommen wurden, wurde ein Drittel in der Türkei aufgenommen. Dieses eine Land hat ein Drittel allen Flüchtlingsschutzes geboten, weltweit in den letzten zehn Jahren.
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Dass die Türkei dafür natürlich berechtigterweise sagt, die Kosten sinken ja nicht, die Zahl der Flüchtlinge wächst weiter, allein durch Geburten, wir brauchen Hilfe, dass da die Europäische Union 2016 reagiert hat, indem sie drei Dinge zugesagt hat – erstens, dass sie an ihren Grenzen mit der Türkei Menschen nicht zurückstoßen wird ohne Verfahren; das steht in der Erklärung, daran hält sich die EU aber leider heute nicht mehr; die Türkei nimmt Leute zurück, aber nur nach einer Prüfung in der EU, zweitens, dass die Europäische Union der Türkei für vier Jahre sechs Milliarden Euro zugesagt hat; dieses Geld ist verplant, jetzt ist die Frage, …
Küpper: Ist es denn auch geflossen?
Knaus: Das Geld ist zum Großteil geflossen und fließt derzeit noch. Aber es werden kaum noch neue Projekte geplant. In der Türkei droht die Stimmung zu kippen – das Land mit den meisten Flüchtlingen der Welt. Es ist extrem wichtig, dass die Aufnahmegemeinden dort sehen, dass sie nicht allein gelassen werden. Hier müsste die Europäische Union auf jeden Fall ein weiteres Angebot machen – nicht um Geld dem türkischen Staat zu geben, sondern so wie in den letzten Jahren für Gesundheit, Bildung und Sozialhilfe für Flüchtlinge für Flüchtlinge investieren.
Das dritte ist aber auch das Versprechen gewesen, aus der Türkei Flüchtlinge durch Resettlement aufzunehmen, besonders Schutzbedürftige. Deutschland hat das gemacht, viele Staaten nicht, aber man müsste sich gerade vor der Perspektive, dass in der Türkei der Druck auch der Opposition auf die Regierung wächst – man hört seit Tagen immer wieder, wie der Oppositionschef darüber redet, man müsse die Syrer alle zurückschicken, was nicht passieren wird nach Syrien – hier weiterzuhelfen. Was die Afghanen betrifft, ist vollkommen klar: Noch gibt es diese große Flüchtlingswelle oder diese schreckliche hydraulische Metapher Flüchtlingsströme nicht.
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Küpper: Aber die Lage ist kritisch und es könnte sich sehr bald ändern.
Knaus: Aber es könnte sehr bald dazu kommen, dass sehr viele Menschen Afghanistan verlassen müssen, und darauf sollte man sich vorbereiten – ohne falsche Panik, ohne von Massen zu reden, die in Bewegung sind, die es noch nicht gibt, aber in der Erwartung, dass es dazu kommen könnte. Da haben wir ein Vorbild. Das Vorbild war: Nach dem Ende des Vietnam-Krieges hat man zunächst vernachlässigt, dass es viele Menschen in Vietnam gab, die fliehen mussten. Dann kam es zu den hunderttausenden Bootsflüchtlingen in die Nachbarländer Vietnams. Die haben dann gesagt, wir lassen niemanden mehr herein, wir verwenden das Militär, um die Boote zurückzustoßen. Das war 1979. Dann gab es eine UN-Konferenz und eine Koalition von Staaten, angeführt von den USA, aber Deutschland hat sich beteiligt, die den Nachbarländern gesagt haben, nehmt die Leute auf und wir machen dann Resettlement – eine Strategie, die wir jetzt vielleicht bei Afghanistan leider auch bald brauchen werden.
https://www.deutschlandfunk.de/70-ja...icle_id=500910