Istanbul - Erdogan gab sich am Montag betont optimistisch: "Es gibt keinen Zweifel, dass die Verhandlungen am 3. Oktober beginnen werden." Um die EU-Ambitionen zu unterstreichen, verkündete Erdogan, der bisherige Wirtschaftsminister Ali Babacan werde als türkischer Verhandlungsführer nach Brüssel geschickt.
Schaut man in die Zeitungen in Istanbul, findet man allerdings eine veröffentlichte Meinung, die voller Zweifel ist. "Erdbeben in Deutschland. Die Türkei verliert bald ihren wichtigsten Verbündeten", sorgt sich das tonangebende Massenblatt "Hürriyet" und auch das pro-europäische Blatt "Radikal" zeigt einen Schröder mit Sorgenfalten und berichtet über große Sorgen in Ankara.
Die liberale "Milliyet" berichtet über des Kanzlers "Glücksspiel", wie die Zeitung die von Schröder angekündigten vorgezogenen Wahlen nennt. Bislang war man doch davon ausgegangen, dass Gerhard Schröder, als wichtigster Fürsprecher des türkischen EU-Beitritts, mindestens noch bis zum Herbst 2006 im Amt ist. In der Türkei glaubt niemand daran, dass die rot-grüne Regierung ihr Wahlabenteuer in vier Monaten siegreich überstehen kann. Da auch ein "No" bei dem Verfassungsreferendum in Frankreich am kommenden Sonntag immer wahrscheinlicher wird, verdüstert sich die EU-Perspektive für die Türkei nun schlagartig.
"Das Klima in Europa verändert sich massiv", beschreibt "Radikal"-Chefredakteur Ismet Berkan seinen Lesern die Lage: Es komme eine Generation von Politikern, die die Türkei nicht in der EU haben will. "The window of opportunity", das Zeitfenster für einen Einstieg der Türkei in die EU, könnte sich schließen, bevor die Türkei es geschafft hat, den EU-Integrationsprozess unumkehrbar zu machen.
Als die Bombe in Berlin am Sonntagabend platzte, erreichten die Schockwellen die Türkei zunächst nicht. Zeitgleich mit Schröders Ankündigung von Neuwahlen, machte der Istanbuler Traditionsclub Fenerbahce die Meisterschaft für sich klar, weshalb der einzige Deutsche, der am Sonntagabend in der Türkei interessierte, Fenerbahces Trainer Christoph Daum war. Erst am Montag sickerte dann allmählich in das türkische Bewusstsein, welche Katastrophe sich in Berlin abgespielt hatte. Der einzige Trost war die Erinnerung, dass auch Angela Merkel bei ihrem Besuch in der Türkei im Frühjahr des letzten Jahres versprochen hatte, die CDU würde sich nach einem Wahlsieg an bereits getroffene EU-Vereinbarungen halten.
Während erste Stimmen aus der CDU bereits jetzt fordern, die amtierende Regierung Schröder dürfe bis September keine Zustimmung für den Verhandlungsbeginn am 3. Oktober mehr geben, erklärte der Fraktionsführer der Konservativen im Europaparlament, CDU-Mann Pöttering, die Verhandlungen mit der Türkei werden wohl schon wie vorgesehen beginnen, allerdings werde die CDU die Offenheit des Prozesses stärker betonen und die Privilegierte Partnerschaft als Ziel von Verhandlungen in den Mittelpunkt rücken.
Diese Privilegierte Partnerschaft war angesichts der anti-türkischen Stimmung in Frankreich schon in der letzten Woche in die Schlagzeilen der türkischen Presse geraten. Unter Berufung auf einen Berater des französischen Präsidenten Jacques Chirac, kursierte ein Plan unter diesem Stichwort durch die Zeitungen, den Chirac angeblich für den Fall einer Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich aus der Schublade holen will.
Darin wird vorgeschlagen, statt über eine Vollmitgliedschaft über eine Partnerschaft zu verhandeln, die die Türkei sofort in Wirtschafts- und Verteidigungsstrukturen der EU stärker einbindet. Finanzielle Hilfen für die Modernisierung des Landes stünden in demselben Umfang zur Verfügung wie bei einem förmlichen Beitrittsprozess, eine Vollmitgliedschaft würde aber erst einmal nicht angestrebt. Dann bräuchte man sich auch um ein Veto der griechischen Zyprioten nicht zu sorgen, wird die Türkei geködert.
Ein Hindernis, um einen solchen Weg zu diskutieren, ist das mangelnde Vertrauen der türkischen Regierung in die Absichten der deutschen CDU. Seit dem Amtsantritt von Tayyip Erdogan und Abdullah Gül hat die Regierung versucht, auf Parteiebene Kontakte zur CDU zu entwickeln.
Mit Hilfe des früheren Chefs der Adenauer Stiftung in Ankara, Wulf Schönbohm, gab es mehrere Treffen von Parteidelegationen sowohl in Ankara wie auch in Berlin. Doch obwohl es dabei angeblich immer wieder konstruktive Gespräche gab, fühlte die AKP sich von den öffentlichen Äußerungen und Aktionen der CDU/CSU immer wieder brüskiert. Die deutsche CDU verhinderte, dass die AKP Mitglied der EVP, der Vereinigung konservativer europäischer Parteien, werden konnte. Und wichtige Vertreter der Union, allen voran der bayrische Ministerpräsident Stoiber, kritisierten fast wöchentlich einen türkischen EU-Beitritt.
"Warum sollten wir uns da jetzt auf eine Debatte über eine Privilegierte Partnerschaft einlassen", fragt der bekannte Kolumnist Murat Yetkin, "am Ende steht die Türkei nur mit leeren Händen da."
Die Hoffnungen in Ankara richten sich jetzt vor allem auf Tony Blair. Großbritannien wird am 1. Juli, wenn Schröder sich in Berlin per Vertrauensfrage selbst aus dem Kanzleramt katapultiert, die Ratspräsidentschaft in der EU übernehmen. Großbritannien gehört uneingeschränkt zu den Unterstützern der Türkei und gerade im Herbst könnte Blair angesichts eines in Europa geschwächten Frankreich und einer gerade erst durchgeführten Wahl in Deutschland, der eigentlich starke Mann in Brüssel sein.
Da Großbritannien auch in der Zypern-Frage, dem offiziell letzten Stolperstein für Ankara, der türkischen Position viel Verständnis entgegen bringt, ist der EU-Rotationskalender das einzig Positive, das Ankara bleibt. "Tony Blair ist unsere letzte Hoffnung", lamentiert Erdal Safak in "Sabah", "sonst droht der Türkei ein Rückfall in die neunziger Jahre."