Sei gegrüßt, Anastasia!
Nun, da hast Du Dir einen dicken Brocken eingefangen, wie man sagt. Abgesehen davon, dass der scharfsinnige Geschichtsdeuter, wie mir scheint, ein wenig von persönlichen Motiven und Gefühlen affiziert worden ist, muss man einige grundsätzliche Fragen stellen:
Wie wurde Deutschland denn durch die Reichseinigung zerstört?Welches "Deutschland"? War der Vorgang in den Jahren 1864-1871 eine Zerstörung? War die Reichseinigung unausweichlich? Welche Motive lagen zugrunde? Gibt es eine schlüssige Verbindung zwischen 1871 und 1914, die eine Zerstörung durch Preußen verifiziert?
Die "Zerstörung" des Interpreten bezieht sich auf die kleindeutsche Gestalt des Reiches. Durch die Auflösung des deutschen Bundes wurde Österreich de facto aus den deutschen Angelegenheiten gedrängt und Luxemburg zugunsten der Schlange an der Themse 1867 neutral (dennoch Mitglied im Zollverein). An die Stelle des föderalen und lockeren Bundes tritt ein strafferer Staat, der sich deutsch nannte. Liegt hier eine Zerstörug vor? In ideologischer Hinsicht vllt. - die Verwirklichung eine großdeutschen Staates ist gescheitert, Österreich nicht Teil des Reiches.
Gab es aber vor 1871 ein Deutschland, das stärker war als das nach 1871? Der deutsche Bund hatte ein Bundesheer, militärische Disparitäten, keine einheitliche Ausstattung. Eintracht gab es nicht, solange als zwei Großmächte um die Vorherrschaft im Bund kämpften: Das Bundessystem war für die Zeit Metternichs konzipiert, basierte also auf der Eintracht Russlands, Österreichs und Preußens; nach dem Krimkrieg zerbrach diese Konstellation (Heilige Allianz), so dass die "Rückendeckung" Russlands einen entscheidenen Vorteil für die Großmächte Deutschlands darstellte - die innenpolitische Gestaltungsfreiheit war also stark eingeschränkt und vom Ausland stark beeinflusst! Auch bot die Zersplitterung Deutschlands in Kleinstaaten keine wirtschaftliche Entwicklung (Binnenzölle, keine Industrie im Großraum; Darniederliegen der Hafenstädte).
Angesichts dieses Zustandes erscheint die Reichsgründung doch Deutschlands Kräfte gestärkt zu haben: Vereinigung aller kleindeutschen Wehrmannschaften, Schaffung eines deutschen Generalstabes und eines schlagkräftigen Heeres; Aufbau einer deutschen Marine; Österreich verbleibt als Bundesgenosse, ist aber in seiner Entwicklung auf sich gestellt; ausländische Mächte verlieren an Einfluss in innerdeutschen Angelegenheiten; die wirtschaftliche Prosperität setzte ein, die Handelsstädte blühten auf, die Bevölkerung wuchs - ein gewaltiger Sprung, den da die "Schlange" Bismarck gesetzt hat!
Hat denn dieser Vorgang Deutschland in das Verderben gestürtzt? Leider ja! Warum? Auch Karthagos Kräfte erstarkten, so dass ihr Erstarken es alsbald in Konflikt mit den Römern brachten, die nach dem ersten Punischen Kriege mehr darauf bedacht waren, Karthago zu schwächen, nach dem zweiten, es bedingungslos auszumerzen - das westliche Mittelmeer war zu klein für zwei Könige und zwei Konsuln zugleich. Und so ist es auch mit Europa: Ein geeintes Deutschland zerschlug den Plan der "balance of power" Großbritanniens, indem das große schwarze Loch Mitteleuropas plötzlich durch Berlin gefüllt wurde. Der Neid auf den Erfolg rief alsbald neue Feinde hervor: Neben dem Erzfeind Frankreich (1875) auch das von eben diesen hochgerüstete Russland und das in seiner maritim-ökonomischen Suprematie (vgl. dt. Handelsflotte) gefährdete Großbritannien. Angesichts dieses Neides ist es eigentlich egal, ob der Kaiser einer derer von Hohenzollern, Habsburg oder ein Hitler ist - dieser hat ja die großdeutsche Lösung verwirklicht, ist aber dennoch gescheitert. "ceterum censeo Germaniam delendam esse", sprach ein Brite.
M.E. ist das eigentliche Übel für den Untergang Deutschlands das Erstarken der USA in den 1850er Jahren, die alsbald militärische Kräfte in die Wagschaale werfen konnten, die in beiden Großkriegen nie erwogen worden sind. Natürlich ist der Neid der Altmächte auch ein großes Übel, deren stärkste Nation ja Großbritannien war, die über die Güter der Welt verfügte. Diese Sache wird ja heutzutage nicht oft betrachtet.
Wir sehen: Wir Deutschen müssen aufhören, uns selbst die Schuld zuzuschreiben - egal, welcher Preuße uns regiert hat! -, sondern endlich erkennen, dass unser Scheitern und unsere Zahl an Feinden nicht das Maß unserer Grausamkeit, sondern das des gegen uns gerichteten Neides ist.