Hartz-IV-Empfänger verlesen auf der Bühne intime Details zu Superreichen - und die Kritik stürzt sich auf diesen vermeintlichen Skandal. Zu Unrecht - denn das Hamburger Verarmungs-Oratorium "Marat, was ist aus unserer Revolution geworden" ist das erste relevante Theaterereignis der neuen Zeit.
Das Theater an diesem Abend ist ausnahmsweise mal nicht der Ort fabrizierter Surrogat-Skandale und kleinbürgerlicher Provokationen, sondern ein theatralisches Labor, eine kommunikative Utopie vollendeter Gleichheit, in der alle Fragen bewegt und begutachtet und beredet werden können.
Man spricht auch über die Kunst an diesem Abend im Schauspielhaus, wo Regisseur Volker Lösch das Stück "Marat, was ist aus unserer Revolution geworden" inszeniert hat, nach der Vorlage von Peter Weiss' Revolutionsdrama "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade".
Das große Versagen der Theaterkritik im Umgang mit dem Stück von Lösch bestand ja darin, dass kaum etwas über den Inhalt berichtet wurde – immer nur über den Skandal. Dass dort, von der Bühne herab, eine Liste superreicher Hamburger verlesen wurde, samt Wohnanschrift und Vermögenshöhe.
Die parteilose Hamburger Kultursenatorin Karin von Welck hatte das als "populistisch" und "billig" gescholten, hatte bekannt, die ganze Inszenierung sei ihr "zuwider" - und sich deswegen mit Schauspielhaus-Intendant Friedrich Schirmer angelegt.
Die eine spricht von ihrer Magersucht, der andere von seinem Alkoholismus, der dritte davon, wie die Erbsensuppe von Penny im vergleich mit der von Lidl abschneidet, und dass sie 15 Cent teurer wurde und wie anstrengend und karg ein Leben ist, das ständig mit Rechenarbeiten zugestellt ist.
Achim Buch spielt den Marat in der Badewanne als pathetisches Revolutionsmonster, er ist aber auch Lenin als statuarischer Agitator, er ist der bettnässende Fidel Castro, er ist der Revolutionsrudi mit seinen selbstgestrickten Pullovern und Barrikaden-Animationen. Mit anderen Worten: Buch spielt alle Facetten einer revolutionären Biografie, einer revolutionären Leidensgeschichte, ja, einer revolutionären Klamotte durch.