Man beachte den letzten Absatz, der sich auf die Balkan Verbrechen der Neuzeit bezieht.

Spiegel 6/2005

DER ZWEITE WELTKRIEG Seite 129

"Erschießen und aufhängen"

Hitlers Überfall auf Jugoslawien 1941 ließ die aktivste Widerstandsbewegung in Europa entstehen. Drei Jahre trotzte Partisanenführer Tito der deutschen Übermacht.

Die Militäroperation trug den Namen "Rösselsprung". Sie galt jenem Partisanenchef, der im Herrschaftsgebiet des Deutschen Reichs Hitler am meisten zu schaffen machte. Fahndungsplakate hatten "100 000 Reichsmark in Gold" demjenigen als Belohnung versprochen, der den jugoslawischen Kommunistenführer Tito tot oder lebendig übergibt. In einer Rede vor deutschen Offizieren hatte der "Reichsführer-SS", Heinrich Himmler, diese Symbolfigur des Widerstands auf dem Balkan geradezu hymnisch gepriesen - als Beispiel für die Beharrlichkeit und Entschlossenheit von Führern, "die sich niemals ergeben, selbst wenn sie vollkommen eingekreist sind". Gelänge es, diesen Partisanen zu fangen, müsse man ihn "an Ort und Stelle vernichten".

Bislang hatte sich Josíp Broz Tito, der schon mehrmals in brenzlige Situationen geraten und verwundet worden war, dem Zugriff seiner Verfolger immer wieder entziehen können. Doch nun, am 25. Mai 1944, Titos 52. Geburtstag, schien im bosnischen Bergstädtchen Drvar die Falle zuzuschnappen. Hier hatte sich der Oberste Stab der "Volksbefreiungsarmee" eingenistet sowie die Militärmissionen der Briten, Amerikaner und Sowjets. Alle wähnten sich sicher, die nächsten Truppen Hitlers standen weit weg.

Dann das deutsche Überraschungsmanöver: Am frühen Morgen greifen Bomber den Talkessel an. Bald darauf landen 654 Fallschirmjäger. Jeder der deutschen Soldaten besitzt ein Bild Titos, der nach Möglichkeit lebend gefangen werden soll. Der Luftlande-Coup scheint zu gelingen. Da die nächsten Kampfverbände - gemäß einer Gepflogenheit Titos, Operationseinheiten nie in unmittelbarer Nähe seines Hauptquartiers zu halten - zwölf Kilometer entfernt stehen, erobern die Deutschen den Talkessel relativ schnell. Aber sie stoßen zu spät auf das Partisanen-Hauptquartier in einer Felsenhöhle hoch über dem Fluss Unac.

Tito seilt sich mit den engsten Mitarbeitern sowie seiner Kriegsbraut Zdenka und dem Schäferhund "Tiger" aus der Grotte ab und entkommt in die Wälder. Alles, was die Deutschen in Drvar finden, ist eine frisch geschneiderte Marschalluniform.

Titos Kämpfer besitzen Mitte 1944 die Stärke einer regulären Armee. Das Volksbefreiungsheer kontrolliert mit seinen gut 300 000 Mann weite Teile Zentraljugoslawiens - es ist, so der Historiker Klaus Schmider, "die bei weitem aktivste Partisanenbewegung Europas". Allerdings müssen sich die kommunistischen Freischärler nicht nur gegen die Deutschen, sondern in einem besonders blutigen Bürgerkrieg auch gegen Kroaten, Bosnier und nationalserbische Widerstandskämpfer wehren.

Drei Jahre zuvor, als Hitler glaubte, in Europas Hinterhof, dem Balkan, aufräumen zu müssen, um sich für den Feldzug gegen Russland den Rücken freizuhalten, hatte außerhalb Jugoslawiens noch kaum jemand den Namen Tito gehört. Der gelernte Schlosser Josíp Broz mit dem Decknamen Tito, Spross eines kroatischen Kleinbauern und einer slowenischen Mutter, ist seit 1937 Generalsekretär der jugoslawischen Kommunisten.

Die sind wie gelähmt, als im April 1941 Hitler-Deutschland, Italien und Ungarn ohne vorherige Kriegserklärung Jugoslawien angreifen: Am 6. und 7. April 1941 attackieren unter dem Kommando von General Alexander Löhr 611 Flugzeuge Belgrad, das nicht einmal Flugabwehrgeschütze besitzt. Der Abwurf von Brand- und Splitterbomben kostet mindestens 15 000 Menschen das Leben. Deutsche Truppen, die zuvor schon in Rumänien und Bulgarien aufmarschiert waren, erobern das Land in nicht einmal zwei Wochen. Danach wird auch Griechenland Opfer der Wehrmacht.

Nach der Zerschlagung des jugoslawischen Königreichs

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schafft die "Neuordnung" des Balkanraums ein Konglomerat aus Besatzungszonen, Vasallenstaaten, territorialen Abtretungen. Italien verleibt sich aus dem zerstückelten Vielvölkerstaat die meisten Adria-Inseln und die Küsten Dalmatiens sowie den Südwesten Sloweniens mit Ljubljana ein. Der Achsen-Verbündete Bulgarien erhält große Teile Mazedoniens. Albanien, seit 1939 italienisch, schluckt das Kosovo.

In Zagreb - der wohl unheilvollste Beschluss - wird dem faschistischen Ustascha-Führer und Mussolini-Schützling Ante Pavelic am Ostersonntag 1941 erlaubt, den "Unabhängigen Staat Kroatien" auszurufen. Dessen katholisch-mystizistische Ideologen, die sich zu "germanischen Goten" stilisieren, betreiben sehr bald die "Endlösung" der Serbenfrage. Das Schreckensregime der Ustaschi kostet Hunderttausende das Leben - Juden, Zigeuner, Muslime, vor allem aber Serben, die mitunter in ihren orthodoxen Kirchen bei lebendigem Leibe verbrannt werden.

Der Nordosten Sloweniens sowie Bosnien und Serbien nebst dem Banat werden der deutschen Militärverwaltung unterstellt. Die installiert in Belgrad ein Marionettenregime unter General Milan Nedic. Den Deutschen macht zunächst der Widerstand der nationalserbischen Freischärler ("Tschetniks") um den königstreuen Oberst Draza Mihailovic zu schaffen. Dessen Verbände bringen im Verlauf des Bürgerkriegs auf dem Balkan, der unter den Augen der Besatzer zu grauenvollen Exzessen führt, allein in Bosnien etwa 150 000 Muslime um.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion ruft die jugoslawische KP am 4. Juli, von Moskau dazu angewiesen, zum bewaffneten Kampf gegen die "Besatzer und ihre einheimischen Helfershelfer, gegen die Henker unserer Völker" auf. Jede Nation des Vielvölkerstaats müsse zur Befreiung ihrer eigenen Heimat beitragen, proklamiert Tito. Mitte September schließt der KP-Chef sich den Partisanenverbänden in den südserbischen Bergwäldern an.

Die Aufstandsbewegung entwickelt sich zu einer großflächigen Revolte, in der Tschetniks und Partisanen zunächst gemeinsame Aktionen absprechen, ehe sie sich dann als Rivalen erbittert bekämpfen.

Schon nach den ersten Zwischenfällen reagiert die deutsche Besatzungsmacht mit unvergleichlicher Härte: "In jeder von Truppen belegten Ortschaft des gefährdeten Gebiets sind sofort Geiseln (aus allen Bevölkerungsschichten!) festzunehmen, die nach einem Überfall zu erschießen und aufzuhängen sind", verfügt Generaloberst Maximilian von Weichs.

Solche Vergeltungsmaßnahmen werden auch öffentlich inszeniert und mit Fotos dokumentiert. So in Pancevo bei Belgrad: Als "Sühne" für die Ermordung mindestens eines SS-Soldaten werden 36 Einwohner Pancevos als Geiseln erschossen oder erhängt.

Mit weiträumigen Operationen gehen die deutschen Besatzer gegen die Partisanen vor, plündern und brandschatzen Dörfer, ermorden im Herbst 1941 zwischen 20 000 und 30 000 serbische Zivilisten, darunter fast alle jüdischen Männer. Es gilt der Befehl, wonach 100 Geiseln für jeden getöteten deutschen Soldaten zu erschießen sind, 50 für jeden verwundeten.

Zwei der Vergeltungsmaßnahmen, in den Städten Kragujevac und Kraljevo, übertreffen in ihren Dimensionen selbst die Kriegsverbrechen von Lidice und Oradour: Mitte Oktober werden Soldaten des Infanterie-Regiments 749 unweit des mittelserbischen Kragujevac in ein Gefecht mit Partisanen verwickelt. Zehn deutsche Landser werden getötet, 26 verwundet. In den nächsten Tagen werden "Geiseln" wahllos zusammengetrieben. Am Morgen des 21. Oktober beginnen die Gruppenerschießungen von 100 bis 600 Mann nach der festgelegten Geisel-Quote. 2300 Einheimische werden ermordet. Wenig später erleiden allein in einer Woche in und um Kraljevo 4000 bis 5000 Zivilisten das gleiche Schicksal. Insgesamt dürfte die Wehrmacht im zerschlagenen Jugoslawien etwa 80 000 Geiseln umgebracht haben.

Deutschen Kampfdivisionen gelingt es Ende 1941, den Aufstand zu ersticken und das Hauptkontingent der Partisanen aus Südserbien zu vertreiben. Titos Oberster Stab setzt sich nach Bosnien ab und errichtet im gebirgigen Zentrum und Süden des großkroatischen Ustascha-Staats "befreite Zonen". Sie werden erkämpft in einem interethnischen Kampf aller gegen alle. Es ist ein Bürgerkrieg von kannibalischer Grausamkeit. Die von den Ustaschi verübten Gemetzel entsetzen auch deutsche Militärstellen, zumal sie die Landbevölkerung den kommunistischen Partisanen zutreiben. Sogar die SS interveniert: "Diese Ermordungen werden, weil die in Kroatien liegende (Wehrmachts-)Truppe diese Gräueltaten nicht verhinderte, letztlich den Deutschen zur Last gelegt."

Doch auch die Partisanen gehen mit ihren Widersachern nicht zimperlich um. Milovan Djilas, Titos härtester Mitstreiter und späterer Widersacher, beschreibt in seinen Memoiren eine Blutherrschaft mit grausigen Massenerschießungen, "dem Töten eigener Verwandter, deren Körper man einfach in Bergschluchten warf".

In mehreren Offensiven versuchen die Deutschen, unterstützt von verschiedenen Vasallen, das Partisanenheer einzukesseln und zu vernichten - vergebens. Im Sommer 1944 werden schließlich sieben Kampfdivisionen von anderen Frontabschnitten abgezogen, um die Partisanen aus Istrien und Dalmatien zu vertreiben. Auch das hilft der deutschen Militärmaschinerie nicht, die überall auf dem Rückzug ist.

Titos Gegenoffensive mit über 100 000 Mann haben die Deutschen beim Rückzug nichts mehr entgegenzusetzen. Am 20. Oktober erobern die Freischärler Belgrad - gemeinsam mit den Panzertruppen der aus Rumänien herangerückten Roten Armee.

Jugoslawien verliert in diesem Krieg, den es nicht gewollt und nicht verschuldet hat, nach Schätzungen 1,7 seiner 16 Millionen Einwohner. Die meisten davon aber sterben durch die Hand anderer Jugoslawen - und die Erinnerung an diese Gräuel führt zwei Generationen später beim Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates unter Titos Erben zu einem neuerlichen Totentanz nationalistischer Dämonen.