Ivone Kirkpatrick, früher Sekretär der Englischen Botschaft in Berlin, war beauftragt, die Vorschläge, die Hess zu machen hatte, der englischen Regierung zu übermitteln, und Hess war noch immer, trotz Abwesenheit Hamiltons, überzeugt, daß er mit dessen Beauftragten verhandelte.
Hess trat Kirkpatrick gegenüber als Sieger auf und brachte zum Ausdruck, daß England den Krieg verloren habe. Er spielte deshalb auch den Großzügigen. Seine wichtigsten Vorschläge waren:
Räumung Frankreichs mit Ausnahme von Elsaß und Lothringen; Deutschland erhält Luxemburg. Es räumt jedoch Holland, Belgien, Norwegen und Dänemark, Jugoslawien und Griechenland. Deutschland vermittelt zwischen England und Italien. England erklärt als Gegenleistung seine Neutralität im Kampfe Deutschlands gegen Rußland.
Zur Begründung dieser Vorschläge hob Hess besonders die Wichtigkeit der Mission Hitlers hervor: »Er rettet die Menschheit vor dem Bolschewismus«. England und Frankreich aber müßten zum Arsenal des Kapitalismus gegen den »asiatischen Kommunismus« werden. Deutschland würde die volle Produktion der englischen Kriegsindustrie kaufen, bis England zur normalen Friedensproduktion zurückgekehrt sei. Zwei Tage lang erläuterte Hess seine Vorschläge. Er wies darauf hin, dass Hitler die Gegenvorschläge Englands erwarte und bereit sei, den »sinnlosen Krieg mit einer Schwester-Nation« zu beenden, um freie Hand für die Abrechnung mit dem Bolschewismus zu erhalten.
Hitlers Plan wurde dem Präsidenten Roosevelt übermittelt. Dieser stimmte mit Churchill überein, daß die Vorschläge abgelehnt werden müßten.
London und Washington machten der Sowjetregierung nun eine vertrauliche Mitteilung über Hitlers Pläne, wie sie aus den Vorschlägen von Hess ersichtlich wurden. Hess wurde von diesem Beschluß nicht benachrichtigt. Man ließ ihn immer noch in dem Glauben, über die Annahme seiner Vorschläge zu verhandeln. Als sein Fuß geheilt war, wurde er im Flugzeug nach London gebracht, wo er mit Lord Beaverbrook und Alfred Duff Cooper und anderen verhandelte. Churchill lehnte es ab, ihn zu empfangen. Nachdem Hess alles gesagt hatte, was zu sagen war, wurde ihm mitgeteilt, daß seine Vorschläge abgelehnt seien. Jetzt erfuhr er auch, daß der Geheimdienst die ganzen Verhandlungen mit ihm geführt und daß Hamilton von seinem Flug erst erfahren hatte, als er in der Presse bekannt gegeben wurde.
Hess verlangte, nach Deutschland zurückzukehren, da er als Friedensgesandter nach England gekommen sei und das Recht auf freien Rückflug habe. Die englische Regierung teilte ihm mit: Er habe die Reise als Delegierter einer Gruppe von Privatpersonen angetreten und müsse deshalb als Kriegsgefangener betrachtet werden. Hess stürzte nun in eine tiefe Depressionsstimmung, der »gute Kenner des englischen Geistes« verstand auf einmal diese englische Antwort und die Welt nicht mehr.
Das Scheitern der Mission Hess' in England wurde folgenschwer für Hitlers politische und militärische Pläne. Der Kompromiß-Frieden mit England war gescheitert, aber auch die Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion konnten von ihm bei der ganzen Lage der Dinge nicht mehr gestoppt werden. Hitler, der bald einsehen mußte, daß die Mission von Hess gescheitert war, versuchte, die Welt über deren Hintergründe zu täuschen. Er ließ Hess als Deserteur und Verräter und schließlich als Wahnsinnigen verleumden."