KINDERMORD IN BERLIN
"Es ist einfach so passiert"
Von Matthias Gebauer und Jens Todt
Der Mord an dem 7-jährigen Christian ist aufgeklärt, ein 16-jähriger Nachbar in Haft. Die Polizei steht vor einem Rätsel, denn der Verdächtige handelte spontan, ohne Motiv. Die Justiz gerät unter Druck, da er bereits mehrmals aufgefallen war, aber niemand reagierte.
Berlin - Brutale Mordfälle gehören für den Berliner Ermittler Klaus Ruckschnat zur täglichen Routine. Als Leiter einer der Mordkommissionen beim Landeskriminalamt (LKA) hat er jeden Tag mit Mördern, ihren Ausflüchten und am Ende oft mit sehr banalen Gründen für einen Mord zu tun. Nach genau einem solchen Motiv sucht das LKA derzeit vergeblich. Den Mord an dem siebenjährigen Christian S. aus dem Berliner Stadtteil Zehlendorf hat Ruckschnat aufgeklärt. Der Verdächtige Keith M., selber gerade erst 16 Jahre alt, hat ein Geständnis abgelegt. Nur eben der Grund für die Bluttat am vergangenen Wochenende bleibt ein Rätsel.
Stundenlang haben Ruckschnats Kollegen den Jungen aus der direkten Nachbarschaft des Opfers verhört. Zuerst stritt der Verdächtige alles ab. Nach Stunden gab er zu, sein späteres Opfer am vergangenen Samstag zumindest gesehen zu haben. Irgendwann nach langem Hin und Her, Dutzenden von Unterbrechungen und dem stetigen Insistieren der Fahnder brach Keith M. zusammen. Am "Bunker", einer Art Holzverschlag, habe er Christian getroffen. Gemeinsam gingen sie rüber zur alten Baumschule gegangen, nur wenige hundert Meter von den Häusern der beiden entfernt.
Warum Keith dort so lange auf Christian einschlug, bis der tot war, wollte M. nicht sagen. Die Fahnder gewinnen mehr und mehr das Gefühl, dass er es selbst nicht weiß. Dass er das Motiv gar nicht nennen kann. Fast hilflos sprechen sie von Autoaggressionen, von plötzlichen Gewaltschüben. Sie suchen nach Erklärungen in der Jugend. Sie stöbern in der Geschichte des Sohns eines amerikanischen Soldaten und einer Deutschen, die ihren Sohn gleich nach Geburt bei den Großeltern ablieferte und verschwand. "Es gibt viele Fingerzeige", sagt einer der Ermittler zögerlich, "doch wie erklärt das einen solchen Mord?"
Ein Mord in der Nachbarschaft
Die brutale Tat bewegt ganz Berlin. Geschockt sind die Anwohner in der sogenannten Alliierten-Siedlung darüber, dass der Vater von Christian seinen toten Sohn nur wenige hundert Meter von seinem Zuhause am Samstag entkleidet unter einer Plane fand. Fast noch erschreckender ist nun, dass der mutmaßliche Täter beinahe direkt Tür an Tür wohnte, sein späteres Opfer seit Jahren kannte. Es ist ein Mord in der Nachbarschaft, der Eltern in Angst versetzt. Die Festnahme erleichtert dabei nur oberflächlich. Auch dass es sich entgegen erster Verdachtsmomente nicht um eine Sexualstraftat handelt, kann nicht beruhigen.
Windsteiner Weg heißt die kleine Straße, in der sowohl Täter als auch Opfer wohnten. Gepflegte Rasenflächen vor den Sechs-Parteien-Mietshäusern. Kinderspielzeug vor den Eingängen. Die Nachbarn grüßen sich hier noch. Der Bezirk im Süden Berlins ist nicht als sozialer Brennpunkt bekannt. Die ruhigen Wohnviertel sind eine begehrte Wohnlage für Familien. Man kennt sich hier, kümmert sich umeinander, die Großstadt Berlin liegt weit weg. Kein Grund also, sein Kind an einem Samstag nicht draußen spielen zu lassen. Kein Grund, stets auf der Hut sein zu müssen.
Genau hier wohnte auch Keith, der mutmaßliche Mörder. Auf der Suche nach Erklärungen stößt man auf viele kleine Enttäuschungen eines Jugendlichen, der wohl nie eine wirkliche Chance hatte. Immer mehr wurde rohe Gewalt für ihn zum Ventil für Frust, Verzweiflung und Verletzungen. Am Ende gewannen die Ermittler das Gefühl, einem unkontrollierbaren Täter gegenüberzusitzen, der quasi jeden Moment ausrasten kann. "Wenn dies passierte", so einer der Kriminalisten des LKA, "reagierte er spontan, sehr aggressiv und absolut hemmungslos". Dass er bei den Taten über die Folgen nachdachte, ist so kaum vorstellbar. "Es ist einfach so passiert", sagte er den Fahndern.
Gewalt als Ventil
Keiths Freunde kennen diese Ausbrüche. Er raste halt einfach schnell aus, sagt einer von ihnen. Dann erzählt er, Keith habe sich vor der Tat heftig mit seiner Freundin gestritten. Schnell flogen in solchen Situationen die Fetzen. Ein oder zwei Wochen davor schlug Keith nach einem Streit mit der Freundin "mit voller Wucht gegen einen Zigarettenautomat und brach sich dabei das Handgelenk", berichtet ein Freund. Der Gips am Arm könnte beim Streit mit dem kleinen Christian ein Grund für die tödlichen Verletzungen gewesen sein.
Woran sich die Freunde und Nachbarn erinnern, liefert ein schemenhaftes Bild und doch noch lange keine Erklärung. "Wenn es mal nicht so lief, hat er sehr schnell zugetreten", erinnert sich der Vater eines Mannschaftskameraden bei Hertha Zehlendorf Fußball, wo Keith früher kickte. Andere Nachbarn berichten von einer brutalen Kindheit bei den Großeltern und über das problematische Verhältnis zu seinem Großvater. "Er wurde früher oft geschlagen", sagt eine Freundin, "er hatte keine schöne Kindheit." Zudem hänselten ihn die Mitschüler wegen seiner dunklen Hautfarbe. Den Hauptschulabschluss schaffte er mit viel Mühe. Die Suche nach einer Lehrstelle aber blieb bisher erfolglos.
Es dauerte nicht lange, bis sich die Ermittler am Wochenende auf Keith konzentrierten. Schon gestern redeten die ersten Polizisten mit dem Jugendlichen. Er stritt jegliche Beteiligung ab. Sogar eine freiwillige Speichelprobe gab er ab. Die wurde für ihn schon wenige Stunden später zum Verhängnis. Als sich seine Spuren eindeutig mit DNA-Spuren vom Tatort deckten, kam die Polizei noch einmal in die Siedlung von kleinen Einfamilienhäusern am Windsteinweg. Diesmal nahmen sie Keith mit auf die Wache. Auch wenn er weiter leugnete, stand er unter dringendem Tatverdacht.
Lange Liste von Straftaten
Mittlerweile wissen die Fahnder auch, dass Keith nicht zum ersten Mal brutal zuschlug. Bereits im Jahr 2004 wollte er in einem Laden Bierdosen klauen und wurde erwischt. Zuerst griff er die Verkäuferinnen an, später auch die Polizisten. Wegen des Überfalls wurde er zu sechs Monaten Jugendhaft verurteilt, die Strafe wurde für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Im Juni dieses Jahres jedoch schlug Keith M. wieder zu. An einer Tankstelle schlug er einen 20-Jährigen so brutal zusammen, dass dieser mit lebensgefährlichen Verletzungen in die Klinik kam. Einige Tage darauf erließ ein Richter Haftbefehl wegen gefährlicher Körperverletzung, setzte Keith aber unter Meldeauflagen auf freien Fuß.
Die Vorgeschichte stößt mehr und mehr auf Unverständnis. So mancher Ermittler fragt sich, warum der Verdächtige noch auf freiem Fuß sein konnte. Oder warum nicht zumindest die Bewährung für die erste Tat aufgehoben wurde. Oder zumindest eine DNA-Probe von Keith in der Intensivtäter-Datei gespeichert war. Auf einer Pressekonferenz musste sich der ermittelnde Staatsanwalt Ralph Knispel bereits mit den Fragen auseinandersetzen. Ob die Abläufe beim Umgang mit dem Serienstraftäter angemessen gewesen seien, wollten die Reporter wissen. Knispel wurde mehr als einsilbig. "Die Antwort ahnen Sie wohl", raunte er.
Einige Etagen höher im Justizapparat ließ sich die Senatorin Karin Schubert zu diesem Zeitpunkt bereits alle Akten zu dem Fall kommen und las Seite für Seite die Berichte von Ermittlern und die ergangenen Entscheidungen im Fall des 16-Jährigen. Ebenso führte sie sofort Gespräche mit den Staatsanwälten, die für die sogenannten Intensivgewalttäter zuständig sind. Nach der Lektüre gab sich die Senatorin offen für eine Diskussion. "Jeder in der Stadt ist geschockt über diese Tat", sagte die Politikerin SPIEGEL ONLINE, "und für uns wäre es das Schlimmste, wenn wir irgendeinen Fehler gemacht hätten."
Justiz prüft den Fall auf mögliche Lücken
In den kommenden Tagen will die Senatorin den Fall des getöteten Christian noch einmal Schritt für Schritt nachvollziehen. "Im Angesicht dieser Tat müssen wir uns fragen, ob wir alle möglichen Schritte ausgeschöpft haben, um die Gesellschaft vor einen Tätertyp wie diesem besser zu schützen", so Schubert am Abend. "Wenn es eine Lücke bei der notwendigen Verfolgung gegeben hat, werde ich sie schließen lassen", kündigte Schubert an. Konkret sagte sie, dass man über die Hürden für die Aussetzung von Bewährungen bei einer erneuten Straftat vielleicht auf Bundesebene diskutieren müsse. "Auch wenn es die Tat nicht rückgängig machen kann", sagte Schubert, "werde ich den Fall bis ins letzte Detail prüfen lassen".