22. März 2012 um 9:07 Uhr
Die Griechen befragen sich selbst
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Im Folgenden wird eine Debatte dokumentiert, die einen wichtigen Aspekt der griechischen Wirklichkeit widerspiegelt. Diese Debatte setzt sich aus den Auszügen von Leserbriefen zusammen, die auf einen Artikel in der Athener Zeitung „To Vima“ (Die Tribüne) vom 15. März reagieren. Der Text des Journalisten Sifis Polymilis nimmt Bezug auf zwei Ereignisse, die man kennen muss, um die Argumente und Anspielungen der Leserbriefschreiber zu verstehen. Da ist zunächst ein aktueller Skandal von Korruption bei einer Verwaltungsstelle der allgemeinen staatlichen Krankenkasse (IKA) und zum anderen eine provokative Äußerung des Pasok-Politikers Theodoros Pangalos, der behauptete „Gemeinsam haben wir das (Geld) aufgegessen“.
In den Reaktionen der Leser spiegelt sich das ganze Spektrum der innergriechischen Debatten wider, die in unseren Medien fast keinen Widerhall findet. Insgesamt bietet diese Debatte ein authentisches - und meines Erachtens ziemlich repräsentatives - Abbild einer intensiven Selbstbefragung, die für die Zukunft der griechischen Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Von Niels Kadritzke.
Das erste Ergebnis ist ein höchst aktueller Skandal, der seit letzter Woche breit und heftig diskutiert wird. Bei der Verwaltungsstelle der allgemeinen staatlichen Krankenkasse (IKA) im Athener Stadtteil Kalithea hat die neu gebildete Sondereinheit für Korruptionsbekämpfung aufgedeckt, dass eine Gruppe von Angestellten seit Jahren große Geldsummen in die eigene Tasche gelenkt hat. In 244 Fällen wurden systematisch falsche Abrechnungen produziert, die zuvor niemals kontrolliert worden waren. Die Zahlungen erfolgten beispielsweise für Entbindungen, die nie stattgefunden haben, für fiktive Operationen oder als Krankengeld für Versicherte, die völlig gesund ihrer Arbeit nachgingen. Die ergaunerten Summen belaufen sich - nach den vorläufigen Ermittlungen - auf 404 000 Euro. Als „Kranke“ oder Begünstigte fungierten Verwandte und Freunde der IKA-Angestellten, die einen kleinen Teil der Summen behalten durften, während der Löwenanteil an die betrügerische Clique zurückfloss.
Der zweite Ausgangspunkt für den Kommentar von Polymilis ist der berühmt-berüchtigte Spruch, den der Pasok-Politiker Theodoros Pangalos schon zu Beginn der griechischen Krise gemacht hat. Mit seinem „Mazi ta fagame“ - was heißt:
„Gemeinsam haben wir das (Geld) aufgegessen“ - provozierte der Vize-Ministerpräsident der Regierung Papandreou (und frühere Außenminister der Regierung Simitis) die meisten Griechen schon deshalb, weil sich Pangalos im Lauf seiner politischen Karriere eine Leibesumfang von gut und gerne zwei Metern angefuttert hat. Mit seinem Ausspruch machte er sich zum Buhmann für alle, die der politischen Klasse vorwerfen, sie wolle die „Schuld“ für die gewaltigen Staatsschulden auf die gesamte Gesellschaft abwälzen, um ihre eigene Verantwortung gleichsam zu sozialisieren. Für andere hingegen - auch für den Kommentator Polymilis - stellt das Pangalos-Verdikt eine „Halbwahrheit“ dar, die zur Hälfte eine Lüge ist, zur anderen Hälfte aber eine bittere Realität benennt, wie sie auch in dem IKA-Skandal offenbar wurde.
In den Reaktionen der Leser spiegelt sich das ganze Spektrum der innergriechischen Debatten wider, die in unseren Medien fast keinen Widerhall findet. Einige Leser geben Pangalos sogar Recht und nehmen dessen Polemik zum Anlass einer radikalen Selbstbefragung. Viele Leser wenden sich an den Kommentator selbst und fragen kritisch nach der Rolle der Presse und der Massenmedien. Alle dargestellten Positionen einschließlich der vielen differenzierenden Zwischentönen und sehr persönlicher Bekenntnisse, erscheinen mir auch deshalb interessant und bemerkenswert, weil sie von ihren persönlichen Erfahrungen gesättigt sind.
Die dokumentierten Reaktionen der Leser bilden nur einen zufälligen Ausschnitt des öffentlichen Meinungsstreits ab. Inwieweit die Redaktion die Briefe „ausgewählt“ und intern gekürzt hat, kann ich nicht beurteilen. Ich jedenfalls habe bei der Übersetzung lediglich gestrafft und Stellen ausgelassen, die nur bei ausführlicher Kommentierung verständlich gewesen wären. Dabei habe ich mich bemüht, die Vielfalt der Äußerungen - mitsamt dem breiten emotionalen Spektrum zwischen Verbitterung und hoher Ironie - ebenso zu bewahren wie die Proportionen zwischen Zustimmung, Ablehnung und Differenzierung. Insgesamt bietet diese Debatte ein authentisches - und meines Erachtens ziemlich repräsentatives - Abbild einer intensiven Selbstbefragung, die für die Zukunft der griechischen Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Dieser Prozess läuft derzeit auf allen Ebenen - vom Disput im Kafenion (dem griechischen Stammtisch) über Kontroversen zwischen den Parteien und in den Medien bis hin zu akademischen Debatten. Ich will die einzelnen Positionen nicht kommentieren, denn jeder Leser soll seine eigenen Eindrücke gewinnen und überprüfen. Aber vielleicht ist vorweg der Hinweis nützlich, dass in jeder dieser Lesermeinungen - unabhängig vom „Wahrheitsgehalt“ einzelner Behauptungen - ein Aspekt der griechischen Realität zur Anschauung kommt. Den Lesern der NachdenkSeiten könnte diese Dokumentation die Chance bieten, ein Gespür für die existentielle Dimension dieser Debatten zu entwickeln. Und sich damit etwas tiefer in die griechische Situation „hineinzudenken“
Sifis Polymilis über die Behauptung:
„Wir haben es gemeinsam gegessen“
Der Ausspruch von Theodoros Pangalos «mazi ta faghame» („gemeinsam haben wir das ganze Geld gegessen“) war gewiss eine der Übertreibungen, zu denen dieser geschwätzige Politiker seit jeher neigt. Aber manchmal verbergen sich in übertriebenen Sprüchen - selbst wenn sie von Herrn Pangalos stammen - auch gewisse Wahrheiten. Die Anklagen gegen das politische System sind nur zu berechtigt, aber diese Schuldzuweisung sollte uns nicht vor einer weiteren Einsicht schützen: Zum Komplizen der ganzen Korruption, die wir heute beklagen, ist auch ein Teil der Gesellschaft geworden.
Die Einzelheiten, die dieser Tage um den Skandal bei der Krankenkassenverwaltung von Kalithea ans Licht kommen, sind absolut bezeichnend für die ungeheure Verschleuderung öffentlicher Gelder, die hierzulande vorkommt und offensichtlich weiter vorkommen wird. Hier zeigt sich nämlich, dass Kontrollmechanismen entweder gar nicht vorhanden, oder eben völlig durchlöchert sind. Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass es solche Seilschaften von Betrügern auch in anderen Zweigstellen der Krankenkasse und in anderen Behörden gibt. Die Damen von Kalithea waren nicht die einzigen, die in diesem System all die Löcher entdeckt haben, durch die das Geld in ihre eigenen Taschen fließen konnte.
Erst vorgestern wurden zwei Angestellte des Wirtschaftsministeriums ertappt, als sie Schmiergelder für ihre Zustimmung zu einer Investition verlangten. Wenige Stunden zuvor hatte man einen öffentlichen Bediensteten verhaftet, der Geld dafür kassieren wollte, dass er die Kontrolle einer bestimmten Firma verhindert.
Die Korruption im öffentlichen Sektor ist derart verbreitet, dass man unter jedem Stein, den man umdreht, etwas finden wird. Erinnern wir uns an die Hunderte von Blinden auf der Insel Zakinthos, die offensichtlich mit Hilfe - und entsprechender Belohnung - von öffentlichen Bediensteten jahrelang finanzielle Zuschüsse und Renten bezogen. Oder an die Schwerbehinderten der Insel Kalymnos, die sich mit ähnlichen Methoden ihren Lebensunterhalt auf Kosten betrogener Steuerzahler finanzierten. Und wer weiß, wieviel weitere Gratiszahlungen dank ähnlicher Methoden vergeben wurden.
Es stimmt natürlich: Ein gewaltiger Teil der Verantwortung liegt beim politischen System, weil es bei der Gewährung von Zuwendungen keine fairen Verfahren etabliert und es unterlassen hat, die öffentliche Verwaltung so zu modernisieren, dass nicht jeder bestechliche und gewissenlose Angestellte seine Position dazu nutzen kann, sich auf Kosten der Gesamtgesellschaft an öffentlichen Geldern zu bereichern.
Verantwortung trägt aber auch ein Teil der Gesellschaft, die entweder solche Praktiken mitgemacht oder aber toliert hat - sei es, um behördliche Abläufe zu beschleunigen, sei es um dem bürokratischen Räderwerk überhaupt zu entgehen. Wie mehreren Studen zeigen, sehen 90 Prozent unserer Bürger die Korruption als ungeheures Problem, und 50 bis 70 Prozent geben zu, in irgendeiner Weise schon mal einen öffentlichen Bediensteten geschmiert zu haben… Das heißt: Ohne unsere Kooperation, ohne unsere Duldung, hätten diese Phänomene nicht die Verbreitung gefunden, die wir alle wahrnehmen.
Ja natürlich, wir haben nicht alle dieselbe Verantwortung, und nicht alle haben in den staatlichen Geldtopf gegriffen. Aber wir lebten und leben in diesem Land und können nicht behaupten, dass wir nichts wussten. Zumindest haben wir diese Erscheinungen toleriert…. Und wenn wir jetzt, da wir in unserem Elend versunken sind und die Rechnung so vieler Jahre abzahlen müssen, wenn wir also jetzt der Korruption kein Ende setzen, dann haben wir unser Schicksal verdient.“
Aus den Leserbriefen:
„Bei all dem, was täglich im Lande geschieht, frage ich mich eines:
All diese „Blinden“, all diese falschen „Behinderten“, die illegale Beihilfen und Renten kassieren, all diese Leute mitsamt den Ärzten und andere, die sie begutachtet haben, wird man die wirklich bestrafen? Oder wird man sie wieder amnestieren - angesichts der Wahlen - oder sogar beglückwünschen?“
„Ich sehe mit großem Bedauern,… das die meisten Leute sich selbst die Mitverantwortung für das zuschreiben, was seit so langer Zeit in Griechenland abläuft. Dann aber verstehe ich nicht, warum wir uns empören und gegen die auferlegten (Spar-) Maßnahmen wehren. Denn wenn wir alle gleich schuldig sind, sollen auch alle bezahlen…. Aber mir soll erst mal einer sagen, was ich hätte tun können und nicht getan habe! Ich jedenfalls bin in keiner Weise schuldig und ich werde niemals den Zustand hinnehmen, den man mir jetzt aufgezwungen hat. Ich betrachte mich nicht als Schuldigen, und wenn ich der letzte auf dieser Erde bin, der das glaubt.“
„Wenn du mit diesem Spruch „Aber wir haben doch gemeinsam gegessen“ dich selber meinst oder allgemeiner die Politiker, die Arbeitgeber, die Großunternehmer und die Massenmedien - dann bin ich VÖLLIG EINVERSTANDEN.“
„Schuld an allem ist Siemens. Das müssen wir nimmermüde wiederholen, im Sekundentakt, vor allem wenn wir Schmiergeld fordern. Also: Nicht ich bin schuld, der von dir Geld verlangt, nein Siemens ist schuld.“
„Wenn du das alles behauptest, dann weiß du wohl noch besser Bescheid! Es ist doch klar, dass die Politiker die Schmiergelder nehmen, dass die vom Staat abhängigen Unternehmen sich „Aufträge“ verschaffen, und danach zeigt man auf den bösen „kleinen Mann“, der die Drecksarbeit macht… Also bitte: Rede nicht über die Leute, die Hunger leiden, die in der Arbeitslosigkeit versinken, die keine Hoffnung haben. Schämen solltet ihr euch!“
„Wir? Wir haben doch nicht mit gegessen. Es waren die Zinswucherer, die illegalen Migranten, die Deutschen, die Amerikaner, die Juden, die Gelben, die Grünen, die Blauen, die Engländer, und wer nicht noch alles. Die haben gefressen. Wir niemals … wir Bedauernswerten!“
„Das illegale Ferienhaus am Strand, das hat nicht Giorgakis gebaut (gemeint ist Ex-Ministerpräsident Papandreou), sondern normale Leute. Den Wald hat nicht Kostakis (Karamanlis) angezündet, sondern der Viehbesitzer, um Weideland zu gewinnen. Den Müll schmeißt nicht Antonakis (Samaras) neben den Container, sondern deine Nachbarin. Das fakelaki (Umschlag mit Bestechungsgeld) steckt nicht Vangelakis (Venizelos) ein, sondern der Arzt im örtlichen Krankenhaus. Das denkmalgeschützte Gebäude wird nicht von der Aleka (KKE-Chefin Papariga) abgerissen, sondern von dem Supergriechen, der ein Mietshaus bauen will. Es sind diese tollen Griechen - arme wie reiche - die Griechenland zerstört und die Politiker zu ihren Dienern gemacht haben, damit die ihnen mit Gefälligkeiten aufwarten…. Welche Zukunft haben wir mit einem solchen Volk? Was für ein Jammer! Dass das schönste Land der Welt mit der größten Vergangenheit von derart (selbst)zerstörerischen Menschen bewohnt wird. Die Wahrheit schmerzt.“