Marx21 / Geschichte / 8. April 2018
(Auszug)
VOR 70 JAHREN: DAS MASSAKER VON DEIR YASSIN
Am 9. April 1948 überfielen zionistische Milizen das palästinensische Dorf Deir Yassin mit bis dahin beispielloser Brutalität. Damit war die Vertreibung der arabischen Bevölkerung besiegelt, argumentiert Nick Clark Nach dem Massaker in Deir Yassin vor siebzig Jahren brüsteten sich die Milizen damit, wie viele Araber sie getötet hatten. Die »New York Times« berichtete später, dass in dieser palästinensischen Ortschaft 254 Araberinnen und Araber getötet worden waren. Schätzungen von Historikern gehen heute von 100-120 Toten aus. Das Massaker ist ein Symbol für all die Verbrechen, die im Jahr 1948 an den Palästinenserinnen und Palästinensern begangen wurden.
Es war nicht das einzige Massaker in jenem Jahr, noch nicht einmal das größte. Aber es war ein Vorbote für das, was die palästinensische Bevölkerung erwartete. Im Verlauf der folgenden Monate wurden Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben, um Platz für den neuen Staat Israel zu machen.
Deir Yassin »Es sah aus wie ein Pogrom«
In Deir Yassin begann der Überfall am Freitag, den 9. April, kurz vor Sonnenaufgang.
Zwei jüdische Milizen, die Irgun und die Lehi – auch Sternbande genannt–, griffen die
Ortschaft an und glaubten, ein einfaches Ziel vor sich zu haben. Stattdessen trafen sie
auf heftigen Widerstand. In Teilen der israelischen Geschichtsschreibung wird die
Tatsache, dass die Palästinenser sich zu verteidigen suchten, als Entschuldigung für die
weiteren Ereignisse vorgebracht.
Die angreifenden Milizionäre gingen von Haus zu Haus, warfen Granaten hinein und
brachten alle um, die sie dort vorfanden. Gefangen genommene Einwohnerinnen und
Einwohner Deir Yassins wurden in einer Reihe aufgestellt und starben im Kugelhagel
der Maschinengewehre, ganze Familien wurden vor ihrer Haustür umgebracht. Ein
Kämpfer der Lehi beschrieb damals in einem Brief, wie »zum ersten Mal in meinem
Leben Araber durch meine Hand fielen und vor meinen Augen starben: Ich tötete einen
bewaffneten arabischen Mann und zwei Mädchen im Alter von 16 oder 17 Jahren, die
dem Araber beim Schießen halfen. Ich stellte sie an eine Wand und feuerte zwei Salven
aus meiner Maschinenpistole auf sie ab«
(Quelle: Artikel »Testimonies From the
Censored Deir Yassin Massacre« aus der israelischen Tageszeitung Haaretz). In dem
Dokumentarfilm »Born in Deir Yassin« von 2017 rekonstruierte die israelische
Filmemacherin Neta Shoshani die Geschichte des Massakers und sprach dafür auch mit
Zeitzeugen.
Obwohl er immer leugnete, dass dieses Massaker überhaupt stattgefunden hat,
erklärte der Kommandeur der Lehi, Yehoshua Zettler, in einem Interview mit Shoshani
im Jahr 2009:
»Ich würde nicht behaupten, dass wir sie mit Samthandschuhen angefasst haben.
Sie rannten wie die Katzen davon. Wir haben in jedes einzelne Haus Sprengstoff
geworfen und sie liefen, so schnell sie konnten. Eine Sprengung und weiter, eine
Sprengung und weiter, innerhalb weniger Stunden war die halbe Ortschaft ausgelöscht«
(Quelle: Artikel »Testimonies From the Censored Deir Yassin Massacre«
aus der israelischen Tageszeitung Haaretz).
Nach dem Morden wurden die Leichen gestapelt und verbrannt. Eine Gruppe von 25
Männern und Jungen wurden triumphierend auf Lastwagen durch die Straßen von
Jerusalem gefahren und anschließend in einem Steinbruch umgebracht. Als Mordechai
Gichon, Offizier der jüdischen Armee Haganah, zu der Ortschaft kam, erinnerte ihn die
Szene an die Verfolgung der Juden im 19. Jahrhundert in Russland:
»Wenn man in einen Zivilistenort kommt und überall liegen Leichen herum, dann
sieht es aus wie ein Pogrom«, sagte er Jahrzehnte später. »
...
(Quelle: Artikel »Testimonies From the Censored Deir Yassin Massacre« aus der israelischen Tageszeitung Haaretz).
Widersprüche über das Massaker von Deir Yassin
In einer israelischen Version der Geschichte wird verzweifelt versucht, die Angreifer von
jeder Schuld reinzuwaschen. Ihre Verteidiger betonen, die Milizen hätten einen
Fluchtweg freigelassen. Oder sie hätten einige von jenen »evakuiert«, also
zwangsgeräumt, die nicht laufen konnten. Jene, die an dem Angriff beteiligt waren,
begeisterten sich dagegen in ihren Erzählungen an dem Schrecken, den sie über Deir
Yassin gebracht hatten, und übertrieben sogar noch das Ausmaß der Gewalttaten. Die
tatsächliche Zahl systematisch getöteter Palästinenserinnen und Palästinenser liegt
nach Historikern zwischen 100-120 Personen. Die ersten, höheren Schätzungen
stammten von den Angreifern selbst. Beide Lügen dienen demselben Zweck: Die
Angreifer erlaubten den Palästinenserinnen und Palästinensern zu flüchten, weil sie das
Dorf von Arabern säubern wollten. Sie töteten so viele wie möglich, damit Araberinnen
und Araber in anderen Ortschaften ebenfalls die Flucht ergriffen. Dies war Teil eines
Plans, systematisch Palästinenserinnen und Palästinenser aus ihren Dörfern und
Städten zu vertreiben.
Ein jüdischer Staat
Wenige Monate zuvor, im November 1947, hatten die Vereinten Nationen (UN) eine
Resolution zur Teilung Palästinas verabschiedet.
...
Deir Yassin, die Vertreibungen und der »Plan Dalet«
Der Zionistenführer David Ben-Gurion, der Israels erster Ministerpräsident wurde,
äußerte sich besorgt in einer Rede Ende 1947: »Es gibt vierzig Prozent Nichtjuden in
den Gebieten, die für den jüdischen Staat vorgesehen sind. Solch ein demografisches
Verhältnis stellt unsere Fähigkeit infrage, jüdische Souveränität aufrechtzuerhalten. Nur
ein Staat mit mindestens achtzig Prozent Juden ist ein lebensfähiger und stabiler Staat«
(Zitiert nach: »Die ethnische Säuberung Palästinas« von Ilan Pappe / Englische Version
Seite 48). Ben-Gurion entwarf zusammen mit anderen zionistischen Führern einen Plan:
Nachrichtenoffiziere der paramilitärischen zionistischen Organisation Haganah
sammelten genaueste Informationen über alle arabischen Dörfer und Städte.
Palästinensische Gebiete wurden in Zonen aufgeteilt, die bestimmten
Haganahbataillonen unterstellt wurden. Aus jedem palästinensischen Ort, der in diesen
Zonen zwischen isolierten jüdischen Siedlungen lag, musste die arabische Bevölkerung
verschwinden. Wo arabische Ortschaften einen Friedenspakt mit benachbarten
jüdischen Siedlungen geschlossen hatten – so wie Deir Yassin –, wurde den Milizen der
Irgun und Lehi unter der Hand erlaubt, das Gebiet zu übernehmen. Mit dem
Fortschreiten der Vertreibung wurde die zionistische Führung entschlossener und ihre
Begeisterung wuchs: »Wenn ich nach Jerusalem komme, spüre ich, dass ich in einer
jüdischen Stadt bin«, sagte Ben-Gurion im Februar 1948.
»In vielen arabischen Stadtvierteln im Westen ist kein einziger Araber mehr zu sehen.
Ich denke nicht, dass sich das ändern wird. Und was in Jerusalem und Haifa möglich war,
das kann auch in großen Teilen des Landes geschehen. Wenn wir nicht nachlassen, ist es
durchaus möglich, dass es in den kommenden sechs oder acht Monaten erhebliche
Veränderungen im Land geben wird, sehr erhebliche, und dies zu unserem Vorteil«
(Zitiert nach: »Die ethnische Säuberung Palästinas« von Ilan Pappe / Englische Version
Seite 68).
Im März wurde ein solider Plan entworfen – Plan Dalet –, in dem kein Zweifel gelassen
wurde über das Schicksal der arabischen Ortschaften: »Diese Operationen müssen auf
folgende Weise ausgeführt werden: Zerstörung der Ortschaften gesetzt, gesprengt und Minen in den Schutt gelegt werden)«, hieß es da.
»Im Fall des Widerstands müssen die bewaffneten Kräfte ausgelöscht werden und die Bevölkerung muss über die Grenzen des Staats vertrieben werden.«
Der israelische Historiker Ilan Pappe sprach aus, was dieser Plan bedeutete: Er war
eine Blaupause für ethnische Säuberungen. Deir Yassin gehörte zu den ersten Orten,
die entsprechend dem Plan Dalet gesäubert wurden. Zu diesem Zeitpunkt waren schon
75.000 Palästinenser zu Geflüchteten geworden – einige Monate bevor Großbritannien
das Land verlassen hatte.
Die britischen Streitkräfte in Palästina waren doppelt so stark wie die Haganah und hätten die Massaker leicht verhindern können. Stattdessen fanden die ethnischen Säuberungen unter den Augen der Besatzungsmacht statt. Erst Tage später schickten die Briten einen Polizeioffizier nach Deir Yassin, unweit der Hauptstadt Jerusalem, um die Angelegenheit zu untersuchen. Er wurde von der Haganah daran gehindert.
Erst Vertreibung, dann Vertuschung
Nach den anfänglichen Prahlereien versuchten die zionistischen Kräfte nun zu
vertuschen, was sie getan hatten. Selbst heute noch sorgt der israelische Staat dafür,
dass Fotografien von dem Massaker fest unter Verschluss in den Archiven bleiben. Der
Haganahoffizier Shraga Peled, der die Fotos gemacht hatte, erinnert sich jedoch noch
sehr deutlich: »Als wir nach Deir Yassin kamen, sahen wir als Erstes einen großen
Baum, an den ein junger Araber gebunden war«, erzählt er in Shoshanis Film. »Dieser
Baum wurde angezündet. Sie hatten ihn dort angebunden und verbrannt. Ich habe das
fotografiert.«
Während damals das Massaker gefeiert wurde, versucht das israelische Establishment
es heute zu vertuschen – aus gutem Grund. Die Milizen, die das Massaker begangen
hatten, gründeten schließlich die Armee Israels.
Der Kommandeur der Irgun, Menachem Begin, wurde später israelischer Ministerpräsident. Die Erinnerung an Deir Yassin wird in Israel verdrängt, weil es die Schrecken zeigt, aus denen dieser Staat geboren wurde.
Zum Artikel: Der Artikel erschien am 24. 3. 2018 in der englischen Zeitung »Socialist
Worker«. Wir danken »Socialist Worker« für die Genehmigung zur Veröffentlichung und
Rosemarie Nünning für die Übersetzung.
Quelle:
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