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Thema: Vorbildlich: Kein Tag zum Sterben

  1. #1
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    Standard Vorbildlich: Kein Tag zum Sterben

    Kein Tag zum Sterben

    Özcan Yüksel rettet eine Ertrinkende. Doch die Frau will gar nicht gerettet werden. Derweil klaut ein Dieb Yüksels Portemonnaie und geht in ein Puff. Und trotzdem sagt der Türke: «Das Leben ist gütig.»

    Eine Leiche. Und ich, ich muss sie jetzt aus dem Wasser holen, denkt Özcan Yüksel im ersten Moment, als er den weissen Körper in der Aare treiben sieht. Dann Geräusche, «wie ein Wehklagen », sagt Yüksel. Er springt in den braunen Fluss. Hochwasserzeit.

    Der 29-jährige Türke hat an jenem Sommerabend Ende August Spätschicht in der Cafébar «Landhaus» in Solothurn. Es ist nachts um ein Uhr, nur noch wenige Leute sitzen draussen auf der Quaimauer. Sie trinken oder kiffen. Yüksel macht sauber, wischt mit dem grossen Besen die Zigarettenstummel, Bierflaschen und Dosen zusammen. Den Job als Aushilfskellner hat er erst vor kurzem bekommen. Eigentlich müsste er nur bis zur ersten Laterne flussabwärts kehren. Yüksel wischt weiter, bis zur zweiten Laterne. Er ist froh, dass er die Arbeit hat.

    Als er den Müll in den Plastiksack kippen will, schweift sein Blick übers Wasser. Yüksel – sein Nachname bedeutet übersetzt «geh höher» – taucht ab. Er schwimmt dem auf und ab gleitenden Menschen entgegen. Nach 20, 30 Metern kann er den kalten Körper packen. Mit einem Arm rudert er dem Ufer entgegen, auf ein Aluminiumboot zu. Aus einem nahen Restaurant kommen Leute. Ein Landsmann steigt ins Boot runter. Gemeinsam hieven sie den schweren Körper ins Schiff. Erst jetzt realisiert der Retter, dass er eine Frau vor sich hat, etwa 60-jährig. Sie schlägt um sich. «Lasst mich, lasst mich! Ich will sterben», bricht es aus ihr heraus. Die ersten klaren Sätze. Der Retter merkt, dass die Gerettete gar nicht gerettet werden wollte.

    Özcan Yüksel fragt nach einer Ambulanz. Eine jüngere Frau greift zum Handy. Yüksel versucht, die Lebensmüde zu beruhigen.

    «Alles wird gut. Gleich kommt der Rettungswagen », sagt er zu ihr.

    Sie sagt: «Ich will sterben.»

    Yüksel sagt: «Heute ist kein guter Tag zum Sterben.»

    Die Polizei kommt, wenig später die Ambulanz. Personalien werden aufgenommen. Die Frau wird in den Wagen gehoben. Polizei und Ambulanz fahren fort. Viel später wird Yüksel durch den Kopf gehen, dass keiner ihm auf die Schulter geklopft hat. Von der Lebensmüden hat er nichts mehr gehört, bis heute.

    Als Letzter steigt Özcan Yüksel aus dem Boot. Er will sein Portemonnaie und den Schlüsselbund holen, die er vor dem Sprung noch hastig auf die Aaremauer gelegt hat. Alles ist weg. Verschwunden. Keiner der Umherstehenden weiss etwas, keiner hat was gesehen. Erst zwischen vier und fünf Uhr kommt er nach Hause. Drei Stunden findet er Schlaf. Am Morgen geht der Bestohlene zur Bank. Angst um sein Konto dort hat er nicht, es ist eh im Minus. Aber er will seine Visa- Karte sperren lassen. Zu spät. 2000 Franken sind weg. Abgebucht in derselben Nacht um 1 Uhr 38 im Cabaret «Isabelle» am Solothurner Bahnhof. «Als ich das Wort ‹Cabaret› hörte, blieb mein Herz stehen», sagt Yüksel. «Shit, dachte ich, aus dem Schlamassel kommst du nie mehr raus.»

    Der gelernte Karosseriespengler macht derzeit eine Ausbildung zum Sozialpädagogen. Vor kurzem erst hat er seine Stelle in einem Heim gekündet – ins Blaue hinaus. Er steckte in einer Krise. Eine Frau verliess ihn, das Geld wurde knapp, offene Rechnungen häuften sich. Özcan Yüksel, dessen Eltern aus Ostanatolien in die Schweiz emigrierten, bekam es mit der Angst zu tun. Ökonomischer Angst. Dann, kurz vor dem Sprung ins Wasser, der lang ersehnte Anruf: Er hatte die neue Stelle in einem Kinderheim in Basel bekommen.

    Die Geldsorgen blieben. Und dann das. Mit dem Dieb hadert er nur kurz. «Schnell einmal ging mir durch den Kopf: Ich, die Lebensmüde und der Dieb, der mein Geld mit Frauen verhurt – und ich musste lachen», sagt Yüksel. Und: «Vielleicht habe ich ihn ja in einem früheren Leben mal beklaut. Ich muss also nicht den Moralapostel spielen.»

    Özcan Yüksel ist nichtpraktizierender Muslim. Als der Dalai-Lama in Zürich war, hörte er dem buddhistischen Gottkönig tagelang zu. Demut, Vertrauen haben, sich fallen lassen. «Ruhig werden, alles wird so geschehen, wies richtig ist», sagt er. «Aber vielleicht nicht so, wie wir es uns vorstellen. » Auch bei ihm kommts anders. So wie es sich der Demütige nicht geträumt hatte.

    In einem Restaurant trifft Yüksel einen albanischen Kollegen. Erzählt ihm seine Geschichte.

    «Du bist immer zu lieb. Das Leben ist hart. Du musst härter werden. Sonst wirst du gefickt», sagt der Kumpel.

    «Jedes Tun hat Konsequenzen. Positives Tun erzeugt etwas Positives», sagt Yüksel.

    «Ich zahl dir was. Ich lade dich ein», sagt der Albaner.

    Dann die Überraschung. In der Cafébar, wo Yüksel jobbt, hat man für ihn gesammelt. Innert eines Tages kommen 1500 Franken zusammen. Yüksel sagt: «Das Leben ist gütig.» Die Lokalpresse berichtet über ihn. Yüksel, der in Solothurn geboren wurde, seine türkische Heimat noch nie sah, weil sich die Eltern immer fürchteten, in die anatolische Bürgerkriegsregion zurückzukehren, wird zum Stadtgespräch. Wildfremde Menschen stecken ihm Geld zu. Jemand schreibt ihm einen Brief. «Ich wünsche Ihnen auch einen solchen Retter, wenn Sie in Not sind.» Wieder liegt Geld bei. Yüksel ist peinlich berührt. Sagt den Spendern, dass sich die Kartenfirma Visa angesichts der Umstände wohl kulant zeigen werde. Sagt, dass er das Geld nicht will. Alle beharren darauf.

    «Hätte ich keine Krise gehabt und meine alte Arbeitsstelle behalten, hätte ich nicht ein Leben retten können. Der Dieb hätte sich nicht vergnügt, und ich hätte nicht so viel Freundschaft und Solidarität erlebt», sagt Yüksel.

    Gerne würde er die Frau aus dem Wasser treffen. «Sie war es, die mich beschenkt hat.» FACTS 38/2005, 22.9.05 , [Links nur für registrierte Nutzer]
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    Es gibt auch Ausländer, die sich vorbildlich verhalten. Von ihm können wir uns eine Scheibe abschneiden....
    Die Beleidigungen sind die Argumente jener, die über keine Argumente verfügen.
    Jean-Jacques Rousseau, Schweizer Philosoph, 1712-1778

  2. #2
    This Day, is a Good Day Benutzerbild von Baxter
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    Standard AW: Vorbildlich: Kein Tag zum Sterben

    Das Thema?

    Die Beleidigungen sind die Argumente jener, die über keine Argumente verfügen.
    Jean-Jacques Rousseau, Schweizer Philosoph, 1712-1778

    Ja jeder tag ist ; kein tag zum sterben.
    Denken, ist doch noch erlaubt ?
    Animal Farm - Aufstand der Tiere

    Wenn das Volk kein Brot zum essen hat dann soll es doch Kuchen essen.

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