In den 1990ern und frühen 2000ern brachten die Beduinen russische Zwangsprostituierte über den Sinai nach Israel. Um 2006 suchten immer mehr afrikanische Flüchtlinge den Weg nach Europa über den Sinai...
Sie nahmen die Flüchtlinge gefangen und forderten von deren Familien Lösegeld. 10.000 Dollar. Dann 20.000, inzwischen sind es 40.000 Dollar. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, foltern sie ihre Gefangenen so, dass ihre Angehörigen es hören können....
Dass man ihm ein Telefon in die Hand gab, ihn seine Familie anrufen ließ, dann Strom an die Ketten legte. Dass er schrie, bevor er die Lösegeldforderung durchgeben musste: 35.000 Dollar....
Die Kidnapper schreckt das bislang nicht ab. Sie unterhalten eigene Camps im nordsudanesischen Niemandsland, in denen sie ihre Geiseln sammeln. Siedlungen aus kleinen Häusern, kalter Boden, eine kleine Schale Reis pro Tag und, bereits hier schon, Vergewaltigungen. So beschreibt es Kidane in seiner Zelle in El-Arisch. In Trupps von bis zu 80 Menschen werden sie dann in den Sinai geschafft und an den nächsten Familenclan weiterverkauft. Für 4.000 Dollar pro Geisel. So erzählt es Sheich Ibrahim in Al-Mahdia...
Der Friedhof von El-Arisch liegt am Rand der Stadt. Hunde scharren vor der Mauer im Sand nach Knochen. Kinder jagen sie ihnen ab und graben sie wieder ein. Sie bekommen etwas Geld dafür von dem, der dieses Massengrab angelegt hat.
Hamdi al-Azazi bestattet seit Jahren die toten Flüchtlinge, um die 500, sagt er, seien es bislang, die meisten stammten aus dem Sudan und Eritrea und seien in den Händen der Schlepper und Entführer gestorben. An Folter, an Hunger, Durst oder Krankheit. Andere, behauptet Al-Azazi, weil man ihnen Organe entnommen habe...
Al-Azazi bekommt Morddrohungen – nicht nur weil er die Beduinenclans des Menschenhandels und der Folter beschuldigt, sondern weil er ihnen auch vorwirft, mit den Organen von Flüchtlingen zu handeln.
Auf seinem Computer hat er Fotos gespeichert, die Leichen mit aufgesägten, leeren Brustkörben zeigen. Den Opfern würden in mobilen Kliniken die Organe entfernt, behauptet Al-Azazi, und dann nach Kairo oder Israel gebracht.
Im Gefängnis sind sie wenigstens sicher
Al-Azazi ist von seinen Beschuldigungen nicht abgerückt. Auch nicht, als die Beduinenclans ihre Drohungen auf seine Familie ausweiteten. Vor vier Monaten wurde sein Sohn von einem Jeep überfahren. Ein Anschlag, sagt Al-Azazi. Der Junge überlebte schwer verletzt.
Auch Angehörige der ägyptischen Sicherheitskräfte bestätigen Al-Azazis Vorwürfe, nur will sich keiner mit Namen nennen lassen. Nach ihren Angaben zählen nicht nur afrikanische Flüchtlinge zu den Opfern, sondern auch entführte Ägypter,
der Hauptumschlagplatz sei auch nicht der Sinai, sondern Kairo, wo auch der Großteil der Operationen durchgeführt werde. Bei den Empfängern handele es sich um wohlhabende Ägypter und Patienten aus den Golfstaaten.
Kidane, der Eritreer im Gefängnis von El-Arisch, erzählt,
man habe ihm angedroht, seine Nieren zu verkaufen, wenn seine Familie und das Netzwerk der Exil-Eritreer das Lösegeld von 35.000 Dollar nicht auftreiben würden. Seine Mitgefangenen berichten von ähnlichen Drohungen. Deswegen mögen sie nicht viel Schlechtes sagen über die stinkenden, überfüllten Zellen von El-Arisch. Hier sind sie wenigstens sicher. Jetzt warten sie wieder einmal, bis irgendwo anders Geld übergeben wird. Diesmal für einen Rückflug nach Eritrea, vor dessen Regime sie geflohen sind. Denn Ägypten will sie zwar abschieben, doch den Flug, sagt Kidane, müssten die Flüchtlinge selbst bezahlen.