Der Spiegel: 30.04.1952
KUR: Das Ei und ich
Ich habe die Wunderkräfte, die man heute dem 9 Tage lang bebrüteten Hühnerei zuschreibt, zunächst für Unsinn gehalten und deshalb nicht mitgemacht", geschäftsphilosophiert Albert Geishard, ein Geflügelzüchter in der Sperlingsgasse 16 der Wilhelm-Raabe-Stadt Braunschweig.
Aber dann seien Kunden gekommen und hätten ihm Erstaunliches über die Wunderwirkung der Bruteier berichtet. Da sei auch er in das Geschäft eingestiegen. Was ihm die Kunden (vor allem Frauen in den Wechseljahren) an subjektiven Erfahrungen mitteilten, läßt sich auf die einfache Formel bringen: Behebung von Kreislaufstörungen und körperliche, nicht zuletzt sexuelle Verjüngung.
Mit seinem zerfledderten DKW fährt nun Geflügelzüchter Geishard mehrmals täglich brutwarme Eier mit dem zuckenden Embryo-Herzen zu den "Kur"-Teilnehmern, die sich so vor frühzeitigem Altern, vor Haarausfall, kalten Füßen und "nervöser Schwäche" retten wollen.
Dieser Brut-Eier-Boom hat den von deutschen Eierhändlern seit Monaten geplanten nachösterlichen Werbefeldzug (Motto: "Wer Eier ißt, bleibt gut im Schuß") zu einer unnötigen Mühe gemacht. Nach der schlagartig einsetzenden Reklame für die neuen Neun-Tage-Eier ("Das Geheimnis der ewigen Jugend gelöst!") wird die Bundesrepublik in diesem Jahr kaum noch wie in den letzten Jahren mit 120 verzehrten Eiern pro Kopf an viertletzter Stelle der Welt bleiben.
In den Ländern Nordrhein-Westfalen und Hessen schlürfen nach amtlichen Schätzungen hunderttausend Menschen seit Wochen täglich ihr angebrütetes Ei. Und im hühnerarmen Hamburg befürchten Fachleute sogar eine Verknappung und Verteuerung der Eier.
Die Gesundheitsämter stehen diesem Verjüngungsrummel unschlüssig gegenüber. Paragraph 4, Abs. 2 des Nahrungsmittelgesetzes bestimmt nämlich:
* "Es ist verboten, verdorbene, nachgemachte oder verfälschte Nahrungsmittel ohne ausreichende Kenntlichmachung anzubieten."
In Bremen müssen bebrütete Eier deshalb den Stempel tragen: "Verdorben im Sinne des Nahrungsmittelgesetzes." In anderen Ländern versuchen die Brut-Anstalten durch den appetitanregenderen Aufdruck "Kur-Eier" ihr Produkt auf den Arzneimittelsektor zu schieben. Aber durch die Form ihrer Reklame in vielen Zeitungen ("Du kannst 120 Jahre alt werden") kommen sie mit der "Polizeiverordnung über die Werbung auf dem Gebiet des Heilwesens von 1941" in Konflikt. Darin heißt es im Paragraph 3:
* "Unzulässig ist jede irreführende Werbung. Eine Irreführung liegt vor allem dann vor ... wenn den Mitteln ... über ihren wahren Wert hinausgehende Wirkung beigelegt (wird) oder fälschlich der Eindruck erweckt wird, daß ein Erfolg regelmäßig mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann."
Das biblische Lebensalter, das Brut-Eier-Lieferanten den "Patienten" in Aussicht stellen, läßt sich bis jetzt noch nicht nachweisen: In China, dem einzigen Land, in dem (neben den berüchtigten "verfaulten" Eiern) auch angebrütete Eier regelmäßig gegessen werden, sind nach offizieller Statistik der UNO nur 5 Prozent der Bevölkerung älter als 60 Jahre, in Japan aber 8 Prozent und in Mitteleuropa sogar 14 Prozent.
In Deutschland soll der Brut-Eier-Rummel, wie Verjüngungs-Enthusiasten erklären, durch verschiedene wissenschaftliche Erkenntnisse und Veröffentlichungen ausgelöst worden sein, nämlich durch:
* die Entdeckung des Nobelpreisträgers Alexis Carrel vom Rockefeller-Institut, daß aus einem Hühnerherzen herausgelöstes Gewebe am Leben bleibt, wenn es mit dem Embryonalsaft angebrüteter Eier ernährt wird. Carrel nannte die noch unbekannten Wirkstoffe im Embryo "Trephone" (Ernährungsstoffe);
* ein Selbstexperiment des einstigen Medizinstudenten und späteren Hühnerzüchters Roger des Allées in Auxannes (Frankreich), der nach der ersten Eierkur der heute propagierten Art seinen Rheumatismus und die Folgen einer Kriegsverletzung los wurde. Roger des Allées ist hoch in den Fünfzigern, sieht mit Spitzbart und Skeptikermund älter aus, will aber als Eieresser Nr. 1 rund 120 Jahre alt werden;
* ein Kapitel aus dem 1951 erschienenen Buch "Sieg über den Tod" von Dr. Ricardo Olives "Hühner-Embryonen - Konzentriertes Wunder"*).
Aber die Wissenschaftler wollen erst einmal klären, ob der renommierte Forscher Carrel wirklich der Vater der Eierkur ist. Sagt Professor Joachim Kühnau, der physiologische Chemiker der Hamburger Universität: "Es muß erst nachgeprüft werden, ob Carrels Name nicht mißbräuchlich mit der Eierkur in Verbindung gebracht wird. Wissenschaftliche Beweise für echte Verjüngungserfolge am Menschen durch Eieressen sind noch nicht bekannt. Der hohe Wirkstoffgehalt besagt
noch gar nichts über eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit auf längere Sicht."
Bekannte deutsche Professoren haben aber schon Eier in Thermostaten stehen, um die Wirkung selbst auszuprobieren. Den ersten subjektiven Eindrücken nach erzielt die Eierkur eine Besserung des Allgemeinbefindens. Nachhaltige Wirkungen konnten aber noch nicht festgestellt werden.
Außerdem lassen Roger des Allées'' strenge Kurvorschriften viel Spielraum, um Mißerfolge zu erklären. Die Eier müssen genau 9 Tage bebrütet worden sein. Wenn der Verjüngungs-Patient dann das Ei öffnet, sieht er eine rotbraune, pulsierende, gallertartige Verdichtung von der Größe einer Fingerkuppe: das Herz des Embryos. (Stinken tut es nicht.) Eine Klausel der Firma Ernst Reinhardt in Villingen: "Es ist nicht immer gesagt, daß in irgendeinem Brutapparat ein Keim nach 9 Tagen wirklich das Wachstum eines 9 Tage alten Embryos hat." Der Laie kann aber nicht nachprüfen, ob sich der Embryo im richtigen Entwicklungsstadium befindet.
Nach der Kur-Vorschrift müssen die Eier warm, wie sie aus dem Brut-Schrank kommen, aufgeschlagen und roh geschluckt werden. Erfahrungsgemäß sollen jedoch Erschütterungen bei Auto- und Bahntransport unter Umständen die Tragbänder des Keimes im Ei zerreißen. Der Embryo sei dann eine halbe Stunde später tot, der Kur-Teilnehmer schlucke sein Ei vergeblich. Produzenten von Brutapparaten und die Inhaber der Brütereien beschuldigen sich mitunter gegenseitig, nicht die nötige Sorgfalt walten zu lassen.
Trephon-Eier kann im Augenblick jeder herstellen und verkaufen, der Brutschrank und Gewerbeschein besitzt. Die Preise für ein bebrütetes Ei schwanken zwischen 0,70 DM und 1,80 DM. Und schon bietet eine süddeutsche Firma "Haushaltsbrutschränke" für 94 DM an.
In die Brut-Ei-Hoffnungen gab gegen Ende der vergangenen Woche der Leiter des Städtischen Gesundheitsamtes Hannover, Medizinalrat Dr. Wilsch, eine kalte Dusche: "Die in einem Trephon-Ei angeblich vorhandenen embryonalen Säfte haben zwar bei dem Nobel-Preisträger Carrel im Reagenzglase große Erfolge gezeitigt, aber die gleichen Säfte werden, wenn sie in den Magen kommen, von der Magensäure zerstört ... Das Ganze ist eine Psychose, die man mit einer Intelligenzsteuer belegen sollte."
*) Dr. Ricardo Olives: "Sieg über den Tod. Auch Du wirst 120 Jahre alt! Garantierte Wege zum Altwerden", Lebensweiser-Verlag, Büdingen-Gettenbach. Angabe eines Uebersetzers fehlt.
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