Nordwestprovinz Xinjiang Chinas stille Reserve
13.07.2012 · Das Wachstum in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt schwächt sich ab. Viele Ökonomen beunruhigt das nicht, denn der Westen des Landes bietet noch riesiges Potential. Hier lagern nicht nur Rohstoffe. Im Westen Chinas leben mehr Menschen als in den Vereinigten Staaten.
Chinas Nordwestprovinz Xinjiang ist für vieles bekannt, nicht aber für deutsche Autos. Schlagzeilen machen dort eher die Auseinandersetzungen zwischen den Han-Chinesen und der muslimischen Minderheit der Uiguren. Berühmt sind die geographischen Superlative. Die Taklamakan ist die zweitgrößte Sandwüste der Welt. Keine andere Hauptstadt liegt so weit vom Meer entfernt wie die Provinzkapitale Urumqi. Im Tianshan-Gebirge zeigt ein riesiges Thermometer Chinas heißesten Ort an. Die „Autonome Region“, wie Xinjiang offiziell heißt, ist die größte Provinz Chinas. Auf 17 Prozent der Gesamtfläche wohnen nur 1,5 Prozent der Bevölkerung. Aber das sind immer noch 21 Millionen Menschen, und deshalb hat die Autoindustrie Xinjiang als Markt entdeckt.
Als erster ausländischer Fahrzeughersteller errichtet Volkswagen in Urumqi ein eigenes Werk. Die Investitionen betragen rund 170 Millionen Euro. Der Grundstein wurde vor wenigen Wochen gelegt, in drei Jahren sollen hier 50000 Autos vom Band rollen. In der gleichen Stadt hat die Konzernmarke Audi, der Marktführer unter den Luxuskarossen, kürzlich einen großen Händlerbetrieb eröffnet.
Die deutsche Gruppe folgt in China einer eigenen „Auf-nach-Westen“-Strategie, um von dem Aufschwung in den bisher unterentwickelten Landstrichen zu profitieren. Der erste Schritt der Wolfsburger war die Eröffnung einer Fabrik in Chengdu, der Hauptstadt von Sichuan, jetzt folgt Xinjiang. „In vielen Westprovinzen Chinas wird das Wirtschaftswachstum in den kommenden Jahren über dem Durchschnitt liegen“, sagt Audi-Landeschef Dietmar Voggenreiter. „Diese Dynamik bietet weiteres Absatzpotential auch für Premiumautos.“
„Wir wollen in den Westen Chinas“
Ähnlich begeistert drängen andere Autobauer ins Hinterland. Porsche, das bisher nicht in China fertigt, hat in dieser Woche einen Händlerbetrieb in Lanzhou eröffnet, der Hauptstadt von Gansu. Ford betreibt in Chongqing, dem Stadtstaat am Jangtse, seine wichtigste Fertigung außerhalb von Michigan. Ähnlich beliebt ist Chinas Westen bei der Elektronikindustrie. Intel, Hewlett-Packard, Dell, Foxconn, Inventec siedeln in der Großregion Chengdu-Chongqing. Siemens sitzt in Xi’an. BASF steckt eine Milliarde Euro in ein Werk in Chongqing. „Wir wollen in den Westen Chinas, weil hier wesentliche Abnehmerindustrien angesiedelt sind“, sagt BASF-Vizechef Martin Brudermueller. Chongqing zähle mehr als 30 Millionen Einwohner; noch viel größer sei das Einzugsgebiet.
Tianshan-Gebirge: Chinas heißester Ort
Insgesamt leben in den zwölf von der Regierung als Westchina definierten Regionen rund 360 Millionen Menschen. Das sind mehr als in den Vereinigten Staaten. Die Bevölkerung wird immer wohlhabender und sorgt deshalb für eine gewaltige Nachfrage auch nach Logistikdienstleistungen. „Ein Schwerpunkt unseres Wachstums liegt in Westchina“, sagt Frank Appel, der Chef der Deutschen Post DHL, des größten Logistikkonzerns der Welt. Deshalb fliege sein Unternehmen als erster internationaler Logistiker Chengdu an. Schon jetzt ist China der wichtigste Markt für DHL, ein Ende des Wachstums ist nicht in Sicht. Bis 2025 würden hier 5 Millionen neue Gebäude errichtet, die Hälfte des Weltbedarfs, rechnet Appel vor. Darunter seien 50 000 Wolkenkratzer, der zehnfache Bestand von New York City. In 13 Jahren werde es in China 221 Millionenstädte geben, in Europa 35.
Ein großer Teil dieses Nachholbedarfs wird aus Westchina kommen, weshalb die Unternehmen sich dafür rüsten. Sie tun das nicht immer ganz freiwillig. Die Regierung hält sie in ihrer typischen Mischung aus Anreizen und politischem Druck recht unverblümt dazu an. Seit dem Jahr 2000 päppelt Peking die Region gezielt auf und hat dafür Milliarden in die Infrastruktur und in staatliche Betriebe gesteckt. Zuletzt flossen neben speziellen „Aufbau-West-Mitteln“ große Teile des Konjunkturpakets von 500 Milliarden Euro hierher.
„Riesige ungehobene Potentiale“
Die vernachlässigten Gebiete holen auch deshalb auf, weil die bisherigen Boomregionen im Süden, Osten und Norden ihren Zenit überschritten haben. In den Industriehochburgen des Perlfluss- und Jangtsedeltas oder der Großregion Peking/Tianjin lässt sich das exorbitante Wachstum der vergangenen Jahrzehnte nicht aufrechterhalten. Das liegt an der Sättigung des Markts, an Auflagen wie den Zulassungsbeschränkungen für Fahrzeuge in Peking, Kanton und anderswo, es liegt an den steigenden Produktionskosten, am Arbeitskräftemangel und an der oft einseitigen Exportausrichtung.
A sales assistant switches channels on a TV at a GOME Electrical appliance shop in Wuhan © REUTERS
Exportschlager: Fernseher aus dem Westen Chinas
Neue Daten zeigen, dass diese Abkühlung weitergeht. Nach Angaben des Statistikamts vom Freitag hat das chinesische Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal um 7,6 Prozent zugenommen. Für europäische Verhältnisse ist das viel, nicht aber für chinesische. Der neue Wert ist der schlechteste seit Anfang 2009 inmitten der Finanzkrise. Für das Gesamtjahr werden deutlich weniger als 9 Prozent vorhergesehen. Das gab es seit zehn Jahren nicht, und besonders gebeutelt davon ist Chinas Osten. Um gegenzusteuern, hat die Zentralbank in der vergangenen Woche zum zweiten Mal innerhalb eines Monats die Zinsen gesenkt. Da die Ausfuhr des Exportweltmeisters immer schwächer zulegt, gibt es Forderungen, den Außenhandel zu fördern, etwa durch eine weitere Unterbewertung der Währung. Weil der Binnenkonsum und die Investitionen nicht in Fahrt kommen, sind staatliche Unterstützungsprogramme im Gespräch.
Li Daokui wischt diese Vorschläge vom Tisch. „Wir brauchen kein neues Konjunkturpaket“, sagt der ehemalige Zentralbankberater, der heute das Zentrum für Chinas Entwicklung in der Weltwirtschaft an der Eliteuniversität Tsinghua in Peking leitet. „Wir haben schließlich riesige ungehobene Potentiale in Westchina. Die werden uns noch lange ein starkes Wachstum bescheren.“ Diese Zuversicht teilen viele Ökonomen, etwa Wen Yuyuan, Professor am Institut für Regional- und Städtewirtschaft der Volksuniversität in Peking. „Das Wachstum im Westen wird sich weiter verstärken, das an den Küsten stagnieren oder sinken“, sagt er. Das Binnenland produziere vor allem Güter für den wichtiger werdenden Heimatmarkt, außerdem lagerten hier Rohstoffe und Energieträger. „Deshalb ziehen immer mehr Betriebe vom Osten landeinwärts.“
Privatwirtschaft tritt auf den Plan
Während früher die Arbeitskräfte vom Landesinnern an die Küsten wandern mussten, um Beschäftigung zu finden, streben die Unternehmen jetzt in die andere Richtung. Das dürfte den Aufschwung in den westlichen Landesteilen weiter beflügeln. Bisher hing ihre Entwicklung von der staatlichen Investitions- und Umverteilungspolitik ab. Jetzt tritt verstärkt die Privatwirtschaft auf den Plan. Schon seit Jahren wachsen die Westprovinzen schneller als der Landesdurchschnitt. Zwischen 2005 und 2010 legte ihr Bruttoinlandsprodukt jedes Jahr um durchschnittlich 13,6 Prozent zu gegenüber 11,2 Prozent in ganz China. Die Anlageninvestitionen stiegen um fast 29 Prozent, sonst waren es 26 Prozent. Das Straßen- und Schienennetz wächst in der Provinz ebenfalls schneller.
Die Daten zeigen auch, wie groß der Abstand noch immer ist und wie vielversprechend das Aufholpotential. So steigt die Zahl des medizinischen Personals im Westen deutlich schneller. Aber noch immer erreicht die Krankenversorgung nicht ein Viertel der Dichte von ganz China. Auch kommen nur 1800 Universitätsstudenten auf 100.000 Einwohner anstatt 2200 wie sonst. Und trotz zweistelliger jährlicher Steigerungsraten erreicht das verfügbare Einkommen nur 80 Prozent des Landesdurchschnitts. Die Lücke zu den reichen Zentren im Osten ist noch größer. Während Tianjin ein Bruttoinlandsprodukt von fast 13.000 Dollar je Kopf im Jahr aufweist - etwa so viel wie Russland oder Brasilien -, sind es in Yunnan nur 3000 Dollar.
Zweifel an der Erfolgsgeschichte
Und doch spreche viel dafür, dass dieser Rückstand schmaler werde, sagt Ren Xianfang. Die leitende China-Volkswirtin beim Fachinformationsdienst IHS in Peking arbeitet an einer neuen Studie zur Entwicklung in Westchina. „Das Verarbeitende Gewerbe entwickelt sich dort viel besser als im Osten, das kann entscheidend werden für Chinas künftiges Wachstum.“ In Sichuan oder Guangxi sei die Industrieproduktion in den ersten vier Monaten um 16 Prozent gestiegen, in Schanghai oder Peking kaum ein Viertel so stark. Ren spricht sogar von einem „Wirtschaftswunder“, das dem Hinterland blühen könne. Das liege nicht zuletzt an der Urbanisierung und an den verfügbaren und kostengünstigen Arbeitskräften. An der Küste lebten 65 Prozent der Bevölkerung in Städten, in Regionen wie Gansu oder Yunnan höchstens 40 Prozent. Während der Mindestlohn in Schanghai 1450 Yuan (190 Euro) im Monat betrage, seien es in Sichuan nur 850 Yuan (110 Euro).
Es gibt aber auch Zweifel an dieser Erfolgsgeschichte. „Das hört sich gut an, es sind aber schon einige Investoren auf die Nase gefallen“, sagt Ben Simpfendorfer. Er war früher Chefökonom für China bei der Royal Bank of Scotland und bei JP Morgan. Heute leitet er die Beratungsgesellschaft Silk Road in Hongkong.
Die Qualifikation der Manager und Mitarbeiter sei im Westen schlechter als in den entwickelten Ostregionen. Die Anbindung an die Weltmärkte gestalte sich schwieriger und teurer. Die Verwaltung in der Provinz arbeite oft ineffizient. Viele Städte seien heillos überschuldet, allen voran Chongqing. Die örtliche Wirtschaft hänge noch immer am Tropf öffentlicher Ausgaben. Auch hielten viele lokale Märkte nicht, was sie versprächen. Auswärtige Unternehmen täten sich mit dem Absatz von Verbrauchsgütern schwer, da diese Geschäftsfelder von starken, gut vernetzten Anbietern aus der Region dominiert würden. „Unter dem Strich ist die Dynamik noch immer nicht so hoch wie an der Küste“, sagt Simpfendorfer. „Wenn es wirklich hart auf hart kommt, kann Westchina die Wirtschaft nicht retten.“
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