Vielleicht gelingt es ja, ein klein wenig Sachlichkeit in diese Diskussion zu bringen. Daher folgender kleiner Text:

Europas weltliche Camouflage
von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Um es vornweg zu sagen: Wir sind beide nicht religiös. Ob und mit welcher Religion der Mensch es halten will, muss jeder selbst entscheiden. Sehr viele Amerikaner beispielsweise sind in einer sehr offen bekennenden Weise christlichen Glaubens, ihr Präsident eingeschlossen. Und viele Europäer haben offenbar ein Problem damit.
Kaum ein Kommentar, kaum eine Analyse zur US-Wahl kam ohne den Hinweis auf den "wiedergeborenen Christen" George Bush aus, der von einer "religiösen Rechten" im Amt gehalten wurde. Im Hintergrund schwingt dabei immer mit, dass frommen Republikanern genau wie islamischen Fundamentlisten alles zuzutrauen sei. Nun mögen viele Christen im ländlichen Mittelwesten ablehnende Ansichten zur Homosexualität oder Abtreibung haben, aber selbst die Fundamentalisten unter ihnen glauben nicht, sich den Eintritt ins Paradies mit einem Sprengstoffgürtel verschaffen zu müssen. Aber lassen wird das.

Die USA sind seit Bushs Wiederwahl gleichsam ein Fall für den Sektenbeauftragten. Während sich die tonangebenden Deutschen gegenüber fremden Kulturen und Religionen als nahezu unbegrenzt tolerant gerieren, betrachten sie ab sofort 51 Prozent der Amerikaner als Bibel schwingende und gefährliche Hinterwäldler, die offensichtlich nicht therapierbar sind. Deren Ansichten sind zwar ziemlich identisch mit denen des Papstes - aber lassen wir auch das.

Nun gibt es ja hierzulande christliche Parteien von denen man erwarten sollte, dass sie sich wehren. Tun sie aber nicht, sie scheinen sie sich sogar zu schämen. Gläubige Christen sind selbst CDU und CSU eher peinlich. Man übt sich deshalb im verhuschten Wegducken und lässt die Etablierung einer neuen Gleichung zu: Bekennende Christen sind rechtsradikal. Das ist natürlich Quatsch. Man schaue sich nur deutsche evangelische Pfarrer an.

Aber vielleicht liegt ja hier auch schon der Grund, warum selbst die deutschen Kirchen die Einteufelei auf ihre Glaubensbrüder und Schwestern jenseits des Atlantiks seelenruhig geschehen lassen. Sie verstehen sich zunehmend als seelsorgerische Eventagenturen, die auf einem moralisierenden Zeitgeist surfen oder als Nicht-Regierungsorganisationen zur Rettung der Welt vor Kapitalismus und schnödem Mammon. Zwei Tage nach dem Terroranschlag von Madrid sprach der Fernsehpfarrer Fliege das "Wort zum Sonntag" und beschloss seine Mini-Predigt mit der Empfehlung, "mit den Mördern von heute über die Welt von Morgen zu reden." Amerikanische Protestanten, die George Bush wählen, stören dieses Harmoniebedürfnis.

Europa stilisiert sich derzeit zu einem Hort der weltlichen Weisheit und Gegengewicht zum finsteren amerikanischen "Bibelgürtel". Welch ein Irrtum. Die meisten europäischen Amerikaverächter sind bei weitem nicht so kritisch und aufgeklärt wie sie tun. Das offenbar konstante Bedürfnis nach Seelenheil sucht sich in unseren ach so fortschrittlichen Kreisen lediglich neue Wege. Europa fühlt und handelt nicht im Geiste von Kant und Voltaire, sondern irrlichtert irgendwo umher zwischen dem Dalai Lama und der Walldorf-Schule, Greenpeace und PETA.

Es ist ja kein Zufall, dass ökopazifistisch gesinnte Kreise in ihrer Ablehnung der Stammzellen-Forschung mit ihrem Lieblingsfeind George Bush übereinstimmen. Während der eine nicht will, dass man Gott ins Handwerk pfuscht, glauben die anderen man versündige sich an einer als harmonisch imaginierten Natur. Das ewige Leben findet in unablässigen Recycling-Schleifen seine Entsprechung und die Buße erfolgt in Form des Dosenpfandes. An die Stelle des jüngsten Gerichtes tritt die Klimakatastrophe und statt Kirchtürmen ragen Windräder gen Himmel. "Wir haben verlernt unsere Erde zu lieben" barmt die Kolumnistin einer großen Boulevardzeitung, die gerade in einer großen Serie für das Jahr 2060 den Weltuntergang ankündigt. Unter einer weltlichen Camouflage befinden wir uns auf dem Weg zurück zur Naturreligion - in den Schutz der Bäume. Also Vorsicht mit dem Ausdruck Hinterwäldler.


Erschienen in Die Welt vom 10.11.2004